Notizen zu Nordkorea (11)

"Dear Leader"

BERLIN. (hpd). In dieser Ausgabe möchten wir das vor Kurzem erschienene Buch “Dear Leader” von Jang Jin-sung, einem hochrangigen Flüchtling aus Nordkorea, vorstellen. Jang betreibt außerdem ein Internetmagazin, das über das Leben und die Machtstrukturen innerhalb Nordkoreas aufklären möchte. Seine These: Kim Jong Un ist nicht mehr als eine Marionette.

 

In der am 8. Mai erschienen Autobiographie “Dear Leader” beschreibt Jang Jin-sung auf der einen Seite seine gefährliche und chaotische Flucht von Nordkorea über China nach Südkorea, auf der anderen Seite gibt er einen detaillierten Einblick in seine damalige Arbeit als Funktionär und in die Machtstrukturen Nordkoreas, wie er sie kennengelernt hat. Nachdem er seinen Abschluss an der Kim-Il-Sung-Universität gemacht hatte, arbeitete Jang ab 1998 bis zu seiner Flucht 2004 für die Abteilung “Vereinigte Front” im Zentralkomitee der Partei der Arbeit Koreas.

“Hofdichter” des Regimes

Nach seinem Literaturstudium war Jang als Dichter für das Regime angestellt. Unabhängige Kunst gibt es in Nordkorea nicht. Jede Kunstform in Nordkorea dient der ideologischen Erziehung, eine “Kunst um der Kunst Willen” wurde von Kim Jong Il strikt abgelehnt (z.B. Kim Jong Il, 1992: “Über die Literatur unserer Prägung”). Zwar war die revolutionäre Geschichte eine der beliebtesten Formen, um ideologisch korrektes Gedankengut in der Bevölkerung zu verbreiten, aber während der schweren Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren gab es nicht mehr genügend Papier für den Druck. Auch waren die Menschen eher mit dem Überleben beschäftigt und hatten keine Muße für das Lesen und so etablierte sich immer mehr die Lyrik: Gedichte konnten auf einer einzigen Zeitungsseite abgedruckt und so die erzieherischen Botschaften mit wenig Aufwand unters Volk gebracht werden. Jang schrieb ein Gedicht, das Kim Jong Il so gut gefallen habe, dass er beschied, Jang habe damit den künstlerischen Standard für die “Militär-Zuerst”-Ära gesetzt. Daraufhin wurde Jang zweimal das Privileg zuteil, den “Geliebten Führer” zu treffen.

Im Kreise der “Auserwählten”

Einer dieser Augenblicke war ein Bankett, in dem die auserlesensten Speisen serviert wurden – am Ende einer Hungersnot, die schätzungsweise eine Million Menschen das Leben kostete. Jangs Vorstellung von Kim Jong Il als gottgleiche Gestalt wurde auf eine harte Probe gestellt: Kim benutzte eine ungehobelte Sprache, er saß in Socken am Tisch, neben ihm standen seine Schuhe mit Absätzen und Einlagen. Als auf der Bühne ein russisches Volkslied gesungen wurde, fing Kim an zu weinen. Die Funktionäre um ihn herum, gerade noch in fröhlichster Stimmung, weinten mit ihm, und hörten auf, als es auch ihr Führer tat.

Wer Kim Jong Il für mindestens 20 Minuten hinter verschlossenen Türen getroffen hat, gehört ab diesem Zeitpunkt zu einem speziellen Kreis von Menschen, die mehr oder weniger unantastbar sind: Eine Verhaftung zum Beispiel konnte nur erfolgen, wenn der Führer persönlich seine Zustimmung gab. Die Loyalität, die diese Person dem Führer erwiesen hat, führte auch zu speziellen Nahrungsmittelrationen. Jang beschreibt, dass die Lieferungen, die er bekam, auch aus Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern von den Vereinten Nationen oder südkoreanischen Hilfsorganisationen bestanden. Das Abholen der normalen Rationen vom öffentlichen Lebensmittelverteilungssystem, von denen die normale Bevölkerung abhing, sei zu einer lästigen Pflicht geworden. Jang schreibt, er habe wöchentliche Rationen von fünf Kilo Meeresfrüchten und Fleisch, 21 Kilo Reis, 30 Eier, zwei Flaschen Öl und Obst und Gemüse erhalten. Die normale Bevölkerung bekam viel spärlichere monatliche Rationen und auch dieses System brach außerhalb von Pjöngjang 1994 zusammen. Erst als die Rationen für die Normalbevölkerung zwei Jahre später auch in Pjöngjang ausblieben, wurden Reis und Mehl aus China importiert.

Eine andere Welt: Besuch in der Heimatstadt

Während Jang sein privilegiertes Leben als “Auserwählter” in Pjöngjang genoss, wollte er seine Heimatstadt Sariwon besuchen, die etwa 60 Kilometer südlich von Pjöngjang liegt. Schon kurz nach der Ankunft wurde er von der Realität außerhalb der Hauptstadt eingeholt: Überall lagen geschwächte Menschen herum, die so aussahen, als würden sie auf den Tod warten. Der Jugendfreund, den Jang besuchen wollte, zeigte auf ein paar Arbeiter, die er als “Leichen-Einheit” bezeichnete. Sie verdienten sich ihre Tagesration mit dem Abtransport der Verstorbenen. Jang war schockiert, denn er hatte zwar Gerüchte von Verhungernden in den Provinzen gehört, aber dachte nicht daran, dass seine Heimatstadt davon auch betroffen war. Im Haus seines Freundes wurde er von seinen alten Nachbarn gelöchert, welchen Brei ihr Führer denn am liebsten äße. Jang log, sie hätten bei dem Bankett gemeinsam Reis gegessen. Die Menschen, allesamt schwach und ausgemergelt, hätten sich mehr um die Gesundheit ihres Führers als um ihre eigene gesorgt. Die Mutter seines Jugendfreundes erzählte beim Abendessen stolz, wie sie über drei Monate hinweg immer 10 Reiskörner vom Essen aufgespart hatte, damit sie ihrem Gast heute eine halbe Schale Reis servieren konnte. Als Gastgeschenke hatte Jang importierten Alkohol und Dosenfleisch mitgebracht und schämte sich zutiefst. Er aß den Reis nicht. Auf dem Markt von Sariwon waren öffentlich Slogans ausgehängt: “Tod durch Erschießen für die, die die Verkehrsregeln missachten!” “Tod durch Erschießen für die, die Lebensmittel horten!” “Tod durch Erschießen für die, die Strom verschwenden!” “Tod durch Erschießen für die, die Gerüchte verbreiten!” In Pjöngjang wäre das undenkbar. Aufgrund der Ausländer in der Stadt wurden neue Richtlinien oder Gesetze intern vermittelt, etwa durch die Arbeitsstelle.

Zweifel und überstürzte Flucht

Eine Stärke von Jang Jin-sungs Buch ist, dass neben den Informationen über seine Tätigkeit für das Regime auch die Gehirnwäsche deutlich wird, der alle Bürger ausgesetzt sind. Er beschreibt auch immer wieder die Zweifel, die bei jedweder Konfrontation mit Informationen aus dem Ausland in ihm aufkamen. So gab es eine Episode aus seiner frühen Jugend, als er Gedichte von Lord Byron zu lesen bekam, die überhaupt nicht zu der vom Regime festgelegten Sprache passten. Diese Literatur berührte ihn sehr. Vorher habe er gedacht, Adjektive wie “großartig” oder “geliebt” seien spezielle Wörter, die es nur im Koreanischen gibt und nur für die Führer verwendet werden. Aber hier wurden sie plötzlich von einem Ausländer für die Beschreibung anderer Menschen gebraucht. “Ich kannte nur die Loyalität zum Obersten Führer und dachte, dies sei das erhabenste Gefühl, das ein Mensch fühlen kann. Aber diese Gedichte waren ein Beweis dafür, dass es solche Emotionen auch im privaten Bereich gab und den Führer nicht mit einschlossen.”

Später, als er für die Abteilung “Vereinigte Front” arbeitete, hatte Jang Zugriff auf südkoreanische Zeitungen und Literatur. Diese Abteilung ist für alle Belange in Bezug auf Südkorea zuständig, sowohl in politischer und diplomatischer Hinsicht als auch bezüglich anti-südkoreanischer Aktivitäten wie Spionage und psychologische Kriegsführung. Während in den Zeiten der südkoreanischen Militärdiktatur beispielsweise pro-nordkoreanische Schriften verfasst und dann in Südkorea verteilt wurden, um dort Ressentiments gegen die Führung zu schüren, war es Jangs Aufgabe, aus der Sicht eines Ausländers Texte zu verfassen, die dem nordkoreanische Regime huldigten. Damit sollte dem inländischen Publikum vorgespielt werden, der herrschende Kim würde auch von Ausländern bewundert. Um sich besser in seine Rolle hineinversetzen zu können, durfte Jang ausländisches Material lesen und bekam so Informationen über das Regime von außen, was seine Zweifel weiter steigen ließ. Er fragte sich, wie er es mit diesem Wissen schaffen sollte, weiterhin Lobhymnen auf das Regime zu verfassen. Um sich über diese unglaublichen Informationen mit jemandem austauschen zu können, lieh er einige Bücher einem Freund, was natürlich streng verboten war. Unglücklicherweise ließ dieser Freund seine Tasche mit einem südkoreanischen Buch darin in der U-Bahn liegen. Am selben Tag beschlossen sie daher, Nordkorea zu verlassen. Jang konnte einen Beamten bestechen, dass dieser ihm Passierscheine für die Grenzregion ausstellte – in Nordkorea darf man nur mit Erlaubnis seinen Wohnort verlassen und für die Grenzregionen und Pjöngjang braucht man eine spezielle Erlaubnis, die eigentlich erst nach einer Überprüfung durch das Ministerium für Staatssicherheit ausgestellt wird. Nur sein Status als “Auserwählter” gab ihm diesen einen Tag Vorsprung, denn die Sicherheitsbehörden hatten schon Ermittlungen gegen ihn eingeleitet.

Im Buch beschreibt Jang ausführlich die Flucht, erst durch Nordkorea, dann durch China. Dabei hatte er an so vielen Stellen unsagbar viel Glück, dass man sich nicht vorstellen mag, wie viele Menschen es auf eben dieser Route nicht schaffen. Allein die Tatsache, dass die beiden Flüchtigen bei minus 30 Grad im frostigen Nordosten Chinas nicht erfroren sind, obwohl sie mehr als eine Nacht im Freien verbringen mussten, grenzt an ein Wunder.

Drei Nordkoreas?

Jang hatte immer geglaubt habe, dass es zwei Nordkoreas gebe – eines, das den Bürgern vom Regime vorgespielt wird und eines, das die Bürger selbst täglich erfahren und sich von ersterem grundlegend unterscheidet. Nach seiner Flucht merkte er, dass es noch ein drittes Nordkorea gibt – nämlich das vom Ausland konstruierte. Das motivierte ihn dazu, 2012 das Online-Magazins “New Focus” (koreanisch) bzw. “New Focus International” (englisch) zu gründen. Zusammen mit einem Kreis aus Exilanten aus allen Schichten der nordkoreanischen Gesellschaft möchte er Erfahrungen über Nordkorea aus erster Hand schildern, um das Bild, das in der Welt von Nordkorea existiert, zu korrigieren. Es soll insgesamt acht Flüchtlinge geben, die aufgrund ihrer Positionen in Nordkorea detailliertes Wissen über die Machtstrukturen in Pjöngjang besitzen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Wissen an die Öffentlichkeit weiterzugeben, weil es ihrer Meinung nach große Diskrepanzen zwischen ihren Erfahrungen und der Medienberichterstattung über Nordkoreas Machtstrukturen gibt. Desweiteren haben die Herausgeber Kontakt zu einem Netzwerk aus Informanten in der chinesisch-nordkoreanischen Grenzregion, aber auch in Pjöngjang, das aus Diplomaten und Geschäftsleuten bestehen soll.

Die Abteilung “Organisation und Führung”: Kim Jong Ils Machtzentrum

Nach der Exekution von Jang Song Thaek, dem angeheirateten Onkel Kim Jong Uns, im Dezember 2013 erschienen auf New Focus International mehrere Artikel, die eine alternative, aber durchaus nachvollziehbare Theorie zur Machtstruktur innerhalb Nordkoreas beschreiben. Der Kernpunkt dabei ist, dass Kim Jong Un bei weitem nicht die mächtigste Person innerhalb Nordkoreas ist, sondern vielmehr die Marionette einiger Herren im Hintergrund, die der Abteilung “Organisation und Führung” (Organisation and Guidance Department, OGD) vorstehen.

Das OGD hat die Kontrolle über alle personellen Besetzungen in Partei und Militär und den Überwachungsapparat, hat die Macht über Staatsanwaltschaft und Gerichte und kann Kader von den Sicherheitsorganen überwachen lassen. Desweiteren übt es Kontrolle über die Wirtschaft und den Handel aus. Politische Richtlinien der Zentrale in Pjöngjang werden über Zweigstellen in den Provinzen in die Arbeitseinheiten getragen und dort in wöchentlichen Schulungen bekannt gegeben. In die andere Richtung werden Ergebnisse der wöchentlichen Selbstkritiksitzungen aus den Einheiten zurück in die Zentrale gemeldet, ebenso müssen Vorschläge über diesen Informationskanal nach Pjöngjang gebracht werden, wo darüber entschieden wird. Damit ist eine absolute Zentralisierung der Macht gewährleistet. Kim Jong Il hat das OGD in dieser Form aufgebaut, damit die Macht der Partei und damit seine eigene Macht über allen Bereichen der Gesellschaft inklusive dem Militär stehen konnte. So wurde die Herrschaft schleichend vom Vater auf den Sohn übertragen, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas mitbekam. Am Ende seines Lebens soll Kim Il Sung, der 1994 starb, nur noch eine symbolische Figur gewesen sein – die wirkliche Kontrolle über das Land lag längst bei seinem Sohn, der – mit zwei kurzen Unterbrechungen – von Anfang der siebziger Jahre bis zu seinem Tod Ende 2011 der Direktor des OGD war.

Was hat Kim Jong Un geerbt?

Die inneren Strukturen Nordkoreas sollen dergestalt sein, dass – abgesehen von Kim Jong Il selbst – niemand, der in der Öffentlichkeit auftrat, wirklich die Macht hatte. Die Männer, die aufgrund ihrer Loyalität von Kim Jong Il ausgewählt wurden und zum Beispiel als Vize-Direktoren im OGD wirkten, hatten in der Regel keine öffentliche Rolle. Damit konnte die Außenwelt nicht zum Machtsystem durchdringen. Zu Kim Jong Ils Zeiten waren es die Vize-Direktoren, die zwischen der Elite und dem Führer vermittelten. Jeder war für seinen Bereich zuständig, so dass es für eine Person unmöglich war, die Gesamtheit zu überblicken.

Seit dem Tod Kim Jong Ils ist der Posten des OGD-Direktors vakant. Kim Jong Un hat diese Position von seinem Vater nicht geerbt und die Loyalität von Kim Jong Ils Männern ist nicht automatisch auf den Sohn übertragen worden. Sie schickten ihre Berichte direkt zu Kim Jong Il und hatten damit auch die Kontrolle darüber, was der Führer erfuhr und was nicht. Ebenso kontrollieren sie bis heute die Leibgarde für den Führer und können damit entscheiden, wer den Führer sehen darf – und wen der Führer trifft. Kim Jong Il konnte diesen Männern vertrauen, nach der Lesart von New Focus kann Kim Jong Un das nicht.

New Focus veröffentlichte die Namen derjenigen, die die mächtigsten Männer in Nordkorea sein sollen, allesamt erste Vize-Direktoren im OGD: Jo Yon Jun (Organisationsstrukturen), Hwang Pyong So (militärische Strukturen) und Kim Kyong Ok (Überwachungsstrukturen, möglicherweise de facto der Leiter des OGD). Aber selbst wenn diese Männer mächtiger sind als der “Führer”, sind sie trotzdem auf ihn angewiesen: Er ist absolut notwendig, um das System, das auf dem Personenkult um die Kim-Familie gebaut wurde, am Leben zu erhalten.

Von einem Generationswechsel wurde oft in Zusammenhang mit den Säuberungen der letzten Jahre gesprochen: Von den sieben Personen, die zusammen mit Kim Jong Un den Leichenwagen von Kim Jong Il begleitet hatten, sind fünf inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Keiner von ihnen war jedoch ein höherer Funktionär im OGD (abgesehen von Ri Yong Ho, dem ehemaligen Generalstabschef, der von New Focus als “OGD-Mann” beschrieben wird).

Der Fall Jang Song Thaek

Die mit Abstand prominenteste dieser Säuberungsaktionen war die Exekution von Jang Song Thaek, die nach New Focus vom OGD veranlasst wurde und keineswegs Kim Jong Uns Macht gestärkt hat. In einer Sitzung des Politbüros wurde Jang Song Thaek kurz vor seiner Hinrichtung von der Partei ausgeschlossen. Aber nicht das Politbüro soll diese Entscheidung getroffen haben, sondern das OGD. Die nordkoreanische Elite weiß das und kann ihre eigenen Schlüsse ziehen, wenn Kim Jong Un schweigend einer Sitzung des Politbüros vorsteht, in der Anklage über Anklage gegen seinen eigenen Onkel vorgebracht werden. Auch die Inszenierung dieser Veranstaltung sei sehr ungewöhnlich: Während der Regentschaft Kim Jong Ils gab es nur ein uniformes Verhalten. Alle saßen gerade da, schrieben, wenn sie schreiben sollten, und stimmten unisono ab, wenn es etwas abzustimmen gab. Aber jetzt wurde deutlich gezeigt, dass sich manchmal nur ein paar Kader meldeten, die Funktionäre sich teilweise zur Seite lehnten oder ihre Hand abstützten. Solch ein Verhalten wäre unter Kim Jong Il bestraft worden. Die Bilder der Sitzung wirkten für ein geschultes Publikum so, als sei Kim Jong Un gar nicht anwesend gewesen. Ebenso wurde keine Rede Kim Jong Uns überliefert, auch undenkbar zu Zeiten Kim Jong Ils, wo man mindestens eine “Große Anleitung” zu Beginn erwartet hätte. Kim Jong Uns Anwesenheit diente nur dazu, das Treffen zu legitimieren.

Vor dieser Sitzung, als die Entscheidung über Jang getroffen wurde, war Kim außerdem nicht in Pjöngjang, sondern weit im Norden des Landes unterwegs. Er war möglicherweise überhaupt nicht involviert und wurde später vor vollendete Tatsachen gestellt.

Nordkoreas Botschaft an die Außenwelt war, dass jeder, der die Position Kims infrage stellt, rücksichtslos beseitigt wird. Aber innerhalb Nordkoreas wird, wenn selbst in der herrschenden Familie ein Verbrecher und vermeintlicher Gegner der Führung gefunden wird, die makellose Legitimität der Kim-Familie bedroht. Die Anklagen gegen Jang, insbesondere die „unangemessenen Beziehungen zu mehreren Frauen“ sind ein Angriff direkt gegen die Kim-Familie, denn Jang war mit Kim Jong Ils Schwester verheiratet. Wäre Kim Jong Un derjenige, der die Macht hat, hätte das OGD diese öffentliche Anklage verhindert, denn dann würde es jeden möglichen Schaden von Kim abwenden.

Machtkampf zwischen Jang Song Thaek und dem OGD

Dem Ende Jangs liegt ein jahrelanger Machtkampf zugrunde, bei dem Jang auch oft die Oberhand gewann. Zweimal im Laufe seiner Karriere wurde er seiner Ämter enthoben und musste vermutlich “Umerziehung durch Arbeit” über sich ergehen lassen. Beide Male soll das OGD dieses veranlasst haben. Unter Kim Jong Il wurde er aber selbst erster Vize-Direktor in dieser Abteilung, wobei unklar ist, bis wann er diese Position innehatte. Mehrere Quellen berichten, dass Jang eine führende Rolle in einer Ende der neunziger Jahre durchgeführten Kampagne namens “Shimhwajo” (etwa “Intensivierungsstruktur”) hatte, bei der unter anderem eine landesweite Überprüfung von Funktionären stattfand, um deren Loyalität zu Kim Jong Il zu überprüfen. Führende Personen im OGD und dem ihm unterstellten Ministerium für Staatssicherheit waren die Opfer. Damit wurde ihnen die klare Botschaft übermittelt, dass auch sie nicht unantastbar waren. Im aktuellen UN-Bericht heißt es, dass im Zuge des “Shimhwajo”-Vorfalls etwa 20.000 Menschen in Lager für politische Gefangene deportiert wurden.

Jang verschwand 2003 für drei Jahre von der Bildfläche, Gerüchten zufolge unterlag er in einem Machtkampf mit einem anderen Vize-Direktor des OGD, Ri Je Gang. 2010 wurde eben dieser Herr Ri durch einen Autounfall getötet, aber es halten sich Gerüchte, dass Jang Song Thaek nicht unschuldig an diesem “Unfall” war. Jangs neue Position nach der jahrelangen Abwesenheit war die des Direktors der Abteilung für Administration, die 1990 in das OGD eingegliedert und dann anscheinend wieder abgespalten wurde. Es kam zu einer erneuten Rivalität zwischen Jang und dem OGD, insbesondere zwischen dem Ministerium für öffentliche Sicherheit (kontrolliert von Jang Song Thaek bzw. der Abteilung für Administration) und dem Ministerium für Staatssicherheit (kontrolliert vom OGD), die sich schon beim „Shimhwajo“-Vorfall bekämpft hatten. Desweiteren wurde dem OGD anscheinend die Kontrolle über den Bergbau und den Fischfang und damit wirtschaftliche Macht entzogen. Das OGD sah sich in den letzten Jahren also deutlich in seiner Macht beschnitten und schlug nun zusammen mit dem Ministerium für Staatssicherheit zurück.

Neuere Entwicklungen: Eine weitere “Nummer Zwei” im Sinkflug?

Im Zuge der Hinrichtung Jangs dominiert nun wieder das OGD und Kim hat durch den Verlust seines Onkels an Macht verloren. New Focus vermutet, dass Jang eher für eine moderate Politik und ökonomische Reformen stand und das OGD eher die Interessen der Hardliner vertritt und damit auch die Entwicklung von Nuklearwaffen und konfrontative Politik unterstützt.

Die Rolle Choe Ryong Haes, der von einigen Medien jetzt als neue “Nummer Zwei” in Nordkorea wahrgenommen wird, ist unklar. Er wurde ohne militärische Erfahrung Leiter des Politbüros der Armee, hatte dort nach New Focus jedoch keine Machtgrundlage und musste sich auf das OGD verlassen. Seit Anfang April ist er Vizevorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission, musste aber vor einem knappen Monat den Posten des Leiters des Politbüros abgeben – an Hwang Pyong So, der von New Focus im Dezember letzten Jahres als einer der drei mächtigsten Männer Nordkoreas bezeichnet wurde. Das widerspricht der Theorie, dass sich die Mächtigen nur im Hintergrund halten. Ebenso ist Hwang, der kürzlich auch zum Vizemarschall befördert wurde, derjenige, der 2014 am häufigsten Kim Jong Un bei öffentlichen Auftritten begleitet hat.

Die Theorien und Ansichten von Jang Jin-sung und seinen Kollegen bei New Focus haben noch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten, wie ihnen vielleicht zusteht. Die bisher veröffentlichten Berichte geben einen sehr spannenden Einblick in die Machtstrukturen Nordkoreas, wenngleich noch immer viele Fragen offen sind. Die Herausgeber schreiben, dass sie noch sehr viel Material haben, das sie aufgrund von Ressourcenknappheit nur Stück für Stück veröffentlichen können. Man darf gespannt sein, ob weitere Enthüllungen zu einem kohärenten Bild beitragen werden.

SARAM e.V.i.G.
www.saram-nk.org

Quellen:
Jang Jin-sung: Dear Leader. North Korea’s senior propagandist exposes shocking truths behind the regime (Rider Books, UK)
New Focus International
NK Leadership Watch

Foto Seite 3: Herr Jang bei einem Vortrag in Berlin, © Frank Nicolai