MÜNSTER. (hpd) In Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE veranstaltete der Verein ehemaliger Heimkinder e.V. (VEH) am 14. Juni 2014 im westfälischen Münster seine erste bundesweite Konferenz. Der VEH setzt sich für eine angemessene Entschädigung ehemaliger Heimkinder ein, die in den 1950er bis 1970er Jahren in deutschen Kinderheimen misshandelt und durch Zwangsarbeit ausgebeutet wurden.
“Wir reden hier über ungefähr 800.000 Betroffene in Westdeutschland und ungefähr 400.000 Betroffene in der ehemaligen DDR - das ist schon ’ne ganz schöne Hausnummer”, sagt die Zweite Vorsitzende des VEH Heidi Dettinger. Rund 75 Prozent der Heimkinder in Westdeutschland waren in Institutionen kirchlicher Trägerschaft, die übrigen 25 Prozent in staatlichen oder privaten Heimen untergebracht. In vielen der Einrichtungen war es üblich, Kinder unter Einsatz von körperlicher und psychischer Gewalt zu brechen, und ihnen durch Zwangsarbeit “eine Hinführung zur Arbeit zu ermöglichen”. De facto wurden die Kinder als billige Arbeitskräfte an Landwirtschaft und Industrie verliehen. Acht bis zehn Stunden täglich mussten sie in sengender Sonne Rüben zupfen oder das Wirtschaftswunder durch das Zusammenschrauben von Bauteilen befördern. Die Kinder sahen für ihre Arbeit nie einen Pfennig. Der Billiglohn floss direkt an die Heime und ihre Träger.
Keine Entschädigung
Für diese Zwangsarbeit gibt es bis heute keine Entschuldigung von Industrie- und Bauernverbänden und auch die evangelische und katholische Kirche sowie der Staat als ehemalige Träger der Heime verhalten sich ablehnend. Sie vertreten die Auffassung, dass es sich im Wesentlichen um bedauerliche Einzelfälle gehandelt habe.
Erst seit Betroffene vor zehn Jahren den Verein ehemaliger Heimkinder gründeten, kam politischer Wind in die Sache. An einem Runden Tisch wurde 2011 verhandelt, wie das erlittene Unrecht wieder gut gemacht werden könne. Von 21 Mitgliedern des Runden Tischs waren gerade mal 3 ehemalige Heimkinder, während Kirchen und kirchliche Einrichtungen mit 5 Mitgliedern vertreten waren. Ergebnis der Beratungen war die Einrichtung eines West-Fonds von 120 Millionen Euro, finanziert zu gleichen Teilen von Bund, Ländern und Kirchen, sowie eines Ost-Fonds von 40 Millionen Euro. Die Industrie als Nutznießer der Zwangsarbeit wurde nicht zu Zahlungen verpflichtet, was der VEH bis heute scharf kritisiert.
Kritik am Fonds
Kritik gibt es seitens des VEH auch am Fond selbst. Denn das Geld erhalten die Opfer nicht in Form von Entschädigungszahlungen, sondern größtenteils in Sachleistungen, wie z.B. Traumatherapien. Zudem ist der Verwaltungsaufwand für Antrag, Nachweiserbringung und Abrechnung eine Hürde, vor der viele ehemalige Heimkinder zurückschrecken. “Rund 60 Prozent unserer Mitglieder haben als Kinder und Jugendliche nicht richtig Lesen und Schreiben gelernt”, sagt der Erste Vorsitzende des VEH Dirk Friedrich. Da die Zwangsarbeit für die Heime lukrativ war, wurde die Schulbildung der Kinder extrem vernachlässigt.
Nach Schätzungen des VEH haben bisher erst rund 3 Prozent der Bezugsberechtigten Leistungen aus dem Fond beantragt. Heidi Dettinger sieht hierfür neben dem komplizierten Antragsverfahren noch einen anderen Grund : “Man hat sich nicht gerade Mühe gemacht, die Gründung des Fonds publik zu machen. Die meisten ehemaligen Heimkinder wissen überhaupt nicht, dass es ihn gibt.” Da die Anmeldung zum Bezug von Leistungen aus diesem Fond nach dem Willen der Politik außerdem nur noch bis Ende 2014 möglich sein soll, schlägt der VEH Alarm. Statt des Fonds für Sachleistungen mit auslaufender Meldefrist fordert der Verein eine Rente und - analog zum Entschädigungsgesetz für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ein Entschädigungsgesetz für ehemalige Heimkinder. Erst auf Grundlage eines solchen Gesetzes wäre es Betroffenen möglich, ihr Recht einzuklagen, statt wie bei den Fondsleistungen der Willkür des Verwaltungsapparates ausgeliefert zu sein.
“Unsere Menschenwürde wurde zertreten, als wir Kinder und Jugendliche waren - jetzt wollen wir wenigstens in Würde altern”, fasst Dirk Friedrich die Forderungen des VEH zusammen.
Politische Unterstützung nur durch DIE LINKE
Politische Unterstützung erfährt der VEH derzeit allein von der Partei DIE LINKE, die auch die Konferenz in Münster mitveranstaltet. “Was hier passiert ist, ist systematisches Unrecht und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, sagt Heidrun Dittrich, ehemaliges MdB (DIE LINKE). “Dieser Teil der Geschichte muss ebenso aufgearbeitet werden wie die NS-Verbrechen.”
Gewalt gehörte zum Alltag
Jeder der rund 50 Konferenzteilnehmer hat sein ganz eigenes Verbrechen erlebt. Dirk Friedrich verbrachte in den 1950ern und 1960ern die ersten 14 Jahre seines Lebens in diversen westdeutschen Kinderheimen. Sein Bettnässen versuchte man zu kurieren, indem man ihn in eine Wanne mit eiskaltem Wasser steckte. Wenn er das “widerliche Heimessen” erbrach, wurde ihm das Erbrochene mit Gewalt zurück in den Mund gestopft. Auch körperliche Züchtigung durch das zumeist geistliche Personal war an der Tagesordnung. “Ich wurde verprügelt, bis mir das Blut aus Mund und Ohren lief, mit Schaufeln, Handfegern, Kleiderbügeln, Rohrstöcken, …”. Über seinem rechten Auge trägt er von den Misshandlungen eine Narbe. “Wenn ich eine Nonne sehe, kriege ich noch heute Gänsehaut”, sagt Friedrich.
Zur körperlichen Gewalt kam die psychische. “Dich hätte man als Baby an die Wand schmeißen müssen”, sagte ihm eine Nonne, als er sieben Jahre alt war. Demütigung und die systematische Zerstörung des Selbstwertgefühls waren Teil der von christlichen Leitwerten geprägten Erziehungspraxis. Ebenso wie die Verabreichung von Beruhigungs-Pillen, wenn Dirk Friedrich nicht spurte.
Dass Friedrichs medikamentöse Ruhigstellung kein Einzelfall war, führt Kinderpsychologe und Neurowissenschaftler Dr. Burkhard Wiebel aus. Wiebel forscht seit Jahren über die gravierenden Spätfolgen der Verabreichung von Neuroleptika an Kinder. Er betont, dass Kinder hierdurch bleibende Veränderungen der Hirnphysiologie erlitten, durch die Krankenkassen ein Millionenschaden entstünde.
Als Wissenschaftler sieht Wiebel darüber hinaus die Gefahr, dass “von Institutionen gekaufte Historiker und andere Wissenschaftler die Geschichte verfälschen” könnten und fordert deshalb, dass “die Geschichte der deutschen Heimerziehung von unabhängigen wissenschaftlichen Instituten untersucht werden muss”.
Aufklärung dringend notwendig
Aufklärung in diesem unrühmlichen Kapitel der deutschen Geschichte scheint auch deshalb angeraten, weil es sich bei der Misshandlung und dem Zwangsarbeitseinsatz von Heimkindern nicht um Phänomene einer längst vergangenen Zeit mit fragwürdigen pädagogischen Ansichten handelt. Erst im vergangenen Jahr wurde die letzte Einrichtung des privaten Kinderheimbetreibers Haasenburg GmbH in Brandenburg geschlossen, nachdem es vermehrt Berichte über Misshandlungen gegeben hatte. Ob die Schließung von Dauer ist, klären derzeit die Gerichte.
Dass der erste Kongress des VEH ausgerechnet in den Räumlichkeiten der Evangelischen Studierendengemeinde Münster stattfindet, ist übrigens keine späte Versöhnung mit dem ehemaligen Peiniger. “Die Veranstaltungsräume von kirchlichen Einrichtungen sind schlicht die einzigen, die für uns finanzierbar sind - alles andere wäre zu teuer”, sagt Heidi Dettinger.
Was für ein Hohn. Ist doch dieses kirchliche Billigangebot letztlich nur möglich, weil die Politik die Kirchen mit Geld unterstützt, während sie gleichzeitig dafür sorgt, dass ehemaligen Heimkindern eine angemessene Entschädigung verwehrt bleibt.