MIZ 4/09 erschienen

ASCHAFFENBURG. (hpd) Soeben erschienen ist MIZ 4/09. Diesmal behandelt der Schwerpunkt eine Frage, die kontroverse Reaktionen unter den Leserinnen und Lesern erwarten lässt: Inwieweit muss der derzeit Politik und Wirtschaft beherrschende Neoliberalismus als „Heilslehre“ angesehen werden?

Die Autoren der Beiträge sind sich in ihrer Bewertung relativ einig: von der Immunisierung gegenüber Kritik bis hin zum Menschenbild, das sich einer Überprüfung an der Wirklichkeit verweigert, lassen sich im Neoliberalismus zahlreiche Merkmale finden, die ihn als religionsähnliche Ideologie ausweisen.

Marktgläubigkeit

Im Editorial weist Christoph Lammers darauf hin, dass der Liberalismus in den vergangenen 150 Jahren seinen Freiheitsbegriff grundlegend verändert hat. Betonte der traditionelle Liberalismus die Bedeutung des einzelnen Menschen und vor allem dessen Rechte gegenüber dem Staat, sieht der Neoliberalismus die „Freiheit“ des Menschen darin, die vermeintlichen Gesetze des Marktes zu erkennen und sich ihnen (und damit jenen,die über ökonomische Macht verfügen) zu unterwerfen.

Einen Problemaufriss gibt Frank Welker, indem er einige Grundzüge des Denkens und Wirkens der „Marktreligiösen“ darstellt. Anhand des Beispiels der zum „Allheilmittel“ hochstilisierten Privatisierung zeigt er, dass hier Versprechungen gemacht und Erwartungen geweckt werden, die sich in ihrer Großmäuligkeit kaum von denen religiöser oder esoterischer Anbieter unterscheiden – und die zudem ebensowenig eingelöst werden. Da sich der Erfolg oder Misserfolg einer Privatisierung (bzw. zu wessen Nutzen sie durchgeführt wurde) hier im Diesseits ganz gut nachweisen lässt, bedarf es einiger propagandistischer Anstrengungen, dem Modell langfristig Zustimmung in breiteren Bevölkerungskreisen zu verschaffen. Thomas Buchholz stellt zwei der Einrichtungen vor, die seit Jahren mit beträchtlichem personellen und finanziellen Aufwand dafür sorgen, dass die neoliberalen Sprüche in der Öffentlichkeit platziert werden: die Bertelsmann- Stiftung und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Selbsterfüllende Vorhersagen

Anhand des Finanzmarktes zeigt Dirk Winkler, dass ökonomische Prognosen oft keinerlei seriöse wissenschaftliche Basis haben. Fondsmanager und Börsenanalysten erreichen bei ihren Vorhersagen über die Entwicklung der Kurse ungefähr die Treffergenauigkeit eines Kartenlegers. Trotzdem werden derartige Äußerungen von den Medien meist unhinterfragt aufgenommen und haben Bedeutung für die Entwicklung von Unternehmen. Besonders deutlich wird der Charakter des ganzen Systems, wenn Banken (Abteilung Analyse) steigende Kurse in Aussicht stellen und dann dieselben Banken (Abteilung Verkauf) ihren Kunden die in ihrer Entwicklung günstig bewerteten Aktien anbieten – und damit durch eine erhöhte Nachfrage tatsächlich steigende Kurse herbeiführen.

Auf einen anderen Aspekt der neoliberalen Ideologie macht Boris Schöppner aufmerksam: wie Religionen kann auch diese Heilslehre Menschen und ganze Gesellschaften deformieren. Als Beispiel beschreibt er soziale Veränderungen, die in den letzten 30 Jahren in Chile stattgefunden haben. Dort wurden nach dem Militärputsch von 1973 „Reformen“ nach marktradikalen Vorstellungen aus der Schule Milton Friedmans durchgeführt. Mittlerweile haben beträchtliche Teile der chilenischen Bevölkerung neoliberale Wertvorstellungen internalisiert; anstatt sich gegen die Ausbeutung zu wehren, gehorchen sie der Logik des Systems, konsumieren über ihre Verhältnisse und verschulden sich mehr und mehr.

Sonntagsruhe und Minarettverbot

Die Artikel, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche befassen, drehen sich fast alle um die Stellung des Islam in Europa. Roland Ebert stellt anhand der Entwicklung des letzten Jahrzehnts die Frage, wohin die als Integrationsbemühungen apostrophierten Maßnahmen führen. Seine Ausführungen untermauern, was andere Autoren in der MIZ der deutschen Politik bereits mehrfach vorgeworfen haben: Nutznießer von Islamunterricht & Co. sind die konservativen islamischen Verbände, während die Wirkung für die Integration der aus islamischen Ländern eingewanderten Menschen gleich Null ist.

In diese Diskussion ist auch das sog. Gebetsraum-Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin einzuordnen, das Daniela Wakonigg kommentiert. Die neue MIZ-Redakteurin wählt allerdings einen anderen Blickwinkel und fragt, ob die Aufregung über das Urteil lohnt: „Ist denn wirklich zu befürchten, dass es einen werbenden Charakter hat, wenn ein paar pubertierende Jungs auf ihren Jacken im Dreck des Schulflurs herumrutschen? (...) Warum soll man diese Gebetsgymnastik zu einer besonderen Attraktion machen, indem man ihr besondere Beachtung schenkt?“

Weitere Kommentare nehmen sich die Volksabstimmung zum Minarettverbot in der Schweiz (Michael Schmidt-Salomon) sowie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ladenschluss in Berlin (Gerhard Czermak) vor.

Ein Bericht über die Kampagne „Asyl für Ex-Muslime“ richtet dem Blick auch auf die Reaktionen darauf. An der Klientel des Internet-Portals „Politically Incorrect“ bzw. deren Kommentaren zum entsprechenden Thread lässt sich ablesen, wie weit deren Solidarität mit Opfern islamischer Herrschaft geht, wenn diese keine Deutschen (im völkischen Sinne) sind. Auf der anderen Seite finden sich jene Stimmen, die eine eigenständige säkulare Position aus ihrem Verständnis von „Multikulturalismus“ heraus ablehnen (hier vorgeführt am Beispiel eines Aktivisten der Jungen Grünen, Ario Ebrahimpour Mirzaie).

Die christlich-fundamentalistische Lebensschützer-Szene ist Gegenstand eines Beitrages, der die Gebetsprozessionen „1000 Kreuze für das ungeborene Leben“ zum Ausgang nimmt. Protest gegen die frauenfeindlichen Parolen kann schnell zum Konflikt mit der Staatsgewalt führen: Bei einer Gegendemonstration im März in Münster wurden zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer polizeilich erfasst und erhielten Monate später Strafbefehle.

Daneben gibt es Rezensionen, Berichte über säkulare Veranstaltungen, Pressemitteilungen und Webseiten sowie die Internationale Rundschau mit einschlägigen Kurzmeldungen aus aller Welt.

Martin Bauer

 

MIZ-4-2009