WUPPERTAL. (hpd) „Die moderne Gemeinde sitzt nicht in der Kirche, sondern
vorm Fernseher. Oder zeitungslesend am Frühstückstisch.“ Was dies für einen modernen Humanismus bedeuten könnte, der sich in der Medienwelt zu bewegen hat, war Gegenstand einer Veranstaltung (Flyer ... Vor im Anhang) der „Humanistischen Akademie Deutschland“ (HAD) in Kooperation mit seinem Mitglied „Humanistischer Verband NRW“.
Die eingeladene Referentin Dr. Kerstin Decker, Philosophin und Journalistin, kam aus Berlin angereist. Sie wurde 1962 in Leipzig geboren, lernte Verkäuferin in Rostock, studierte in Leipzig Journalistik und in Berlin Philosophie, promovierte 1994 an der Humboldt-Universität mit einer Arbeit über Paul Tillich und Theodor W. Adorno. Kerstin Decker kann zahlreiche Buchveröffentlichungen vorweisen, u.a. „Heinrich Heine. Narr des Glücks“, „Der Rest, der bleibt. Erinnerungen an ein unvollkommenes Leben“ (zus. mit Annekathrin Bürger), „Letzte Ausfahrt Ost. Die DDR im Rückspiegel“ (gemeinsam mit Gunnar Decker). Soeben erschien ihre Biografie „Paula Modersohn-Becker“ bei Propyläen.
Sie ist aber nicht nur durch ihre vielen Bücher bekannt (Flyer ... Rück im Anhang), sondern auch durch zahlreiche Artikel besonders als Kolumnistin der „taz“ und Reporterin des „Tagesspiegel“, so jüngst dort über die Pfadfinder und den gerade verstorbenen Schnapsfabrikanten Schilkin.
Der Berichterstatter meinte als Moderator einleitend ironisch, dass man fast annehmen könne, es handle sich um eine „humanistische Morgenandacht“, bei der Selters, Kaffee und anregende Philosophie gereicht werden. Frau Decker griff den Verweis auf und meinte, sie habe sehr wohl vor, einer Sonntagsrede gerecht zu werden (etwas Kluges – wie von oben – zu verkünden in erbaulicher Weise, dabei schlechte Nachrichten zurückhaltend) – was der Referentin sehr gut gelang und ihr durch viele Fragen aus dem Publikum und langen Beifall bestätigt wurde.
Auch wenn gleich anfangs deutlich wurde, dass die Referentin sich zwar über HVD schlau gemacht hatte, aber nicht gewillt war, ihm irgendwie nach dem Munde zu reden, zumal – und auch der Humor kam nicht zu kurz – ein Verband, der in der Tradition der Feuerbestattung stehe, ja sowieso schon rein historisch gesehen einige Schwierigkeiten habe, sich den lebenden Wesen zu stellen. Und als dann die Referentin – logisch, dennoch ungewohnt für einige Zuhörer, Atheismus so zu denken – auf die Theologie zu sprechen kam, in der Gottdenker nur Atheisten sein können, weil sie über Gott reden und nicht mit ihm, da wurde auch klar, dass man das Gesagte nachlesen sollte (der Vortrag erscheint Ende des Jahres in Heft 21 von „humanismus aktuell“.
Das Thema der zweistündigen Veranstaltung lautete „Medien und Humanismus. Gefährdungen, Grenzen und Aussichten einer Deutungshoheit. Mit philosophischen Seitenblicken“. Die öffentliche Meinung, so ihre Einleitungsthese, sei das letzte kollektive Glaubensbekenntnis der modernen Nationen. An ihr regiere keiner vorbei. Sie sei allmächtig. An ihr denke aber auch niemand vorbei, denn sie gebe vor allwissend zu sein. Und dass sie sich selbst für allgütig glaube, dass sei ihr kategorischer Anspruch.
Hinter der öffentlichen Meinung stehe kein Gott mehr, nicht einmal mehr dem Selbstverständnis nach. Hinter ihr stehe der schärfste Konkurrent Gottes: der Humanismus. Oder seien es doch nur Reflexe des Humanismus oder auf den Humanismus? Das Problem sei doch, dass die Medien „Erregungsgemeinschaften“ produzieren in zeitlich nacheinander folgenden hohen Wellen über Ereignisse, von denen in aller Regel gar nicht klar ist, wie sie wirklich stattgefunden haben (z.B. in Mügeln); dass dabei Wertungen darüber verbreitet werden, die alle humanistisch gemeint sind, in dem Sinne, dass Toleranz, Menschenwürde und Demokratie als feststehende Werte gelten, die niemand in den Medien hinterfragt und die das Verhetzen prinzipiell ausschließen (sollen).
Wenn aber humanistische Werte als allgemein gesetzt gelten, was könne da ein Humanistischer Verband beitragen, um – zum einen – überhaupt aufzufallen, und – zum anderen – seine Werte zugleich als genau dieselben zu belegen, die es zu schützen gelte, mit dem Effekt, dass die öffentliche Meinung meint, das kenne sie schon, das sei schließlich Konsens. Wer in diesem Humanismus-Bekenntnis-Kontext auffallen wolle, müsse sich irgendwie gegen den Konsens vergehen mit der Folge, dass man dann vielleicht des Anti-Humanismus bezichtigt wird und man dumm dastehe.
Die Thesen und ihre Belege – jedes Beispiel für sich stehend und ebenso spannend wie unterhaltsam erzählt – hätten vielleicht diese Sonntagsrede nicht als eine solche ausgezeichnet. Dies taten Zitate und das Zusammendenken dieses Bogens von Herren durch Frau Decker von Thomas Mann, Ernst Jünger, Rainer Maria Rilke, Heinrich Heine, Karl Eduard von Schnitzler, Peter Sloterdeijk, Christian Pfeiffer und andere.
Um etwas Vorgeschmack auf die Publikation zu machen, sei abschließend auf ein Thema verwiesen, das die Referentin assoziativ anriss: auf den Zusammenhang von römischem Amphitheater (der Zurschaustellung von Erniedrigung und Opferung und der Akzeptanz dieses Spiels durch das Christentum und dessen Bild vom gemarterten Jesus) sowie den Aposteln als „Journalisten“, die die „Ecclesia“ bilden als Meinungsgemeinschaft einer Öffentlichkeit, die diese Nachricht, die frohe Botschaft vom Tod eines Menschen, empfangen hat.
Keine Sonntagsrede ohne Bekenntnis. Die Referentin wich der Anforderung nicht aus. Sie bekannte sich zum Humanismus, doch wenn man diesem doch irgendwie den „Ismus“ abnehmen könnte und damit ihrer Distanz zu allen allzu abstrakten Botschaften entgegen käme. Vor allem: Humanist könne nur sein, wer sich zu den drei Fehlern der Aufklärung bekenne: eben der Abstraktheit, dem Moralisieren und der Denkverweigerung gegenüber Zwischentönen. Hier sprach sie sich gegen jeden Fundamentalismus aus, komme er nun religiös oder auf religiöse Art atheistisch daher. Dafür gab es Zwischenbeifall – über dessen Kulturbedeutung der Berichterstatter noch nachdenken muss.
Horst Groschopp
Bilder: Rebecca Jahn, Fürth