Säkularismus als Herausforderung für Religionen

LECH. (hpd) Beim 11. Philosophicum 2007 standen im österreichischen Lech Antworten auf

Fausts „Gretchenfrage“ zur Debatte. „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“.

Dem gleichen Thema, wenn auch in einer etwas präziseren Fragestellung, näherten sich auf dem diesjährigen Philosophicum Geisteswissenschaftler, ein interessiertes Fachpublikum und einzelne Besucher, die sich Impulse für ihre eigenen Lebensentwürfe versprachen.

 

Nur in Theokratien wird Sinn verordnet

„Die Vorstellung, die säkulare Gesellschaft bedürfe der Kompensation ihrer Sinndefizite durch Religiosität, ist einfach eine falsche Beschreibung der Sachlage. Nur in der theokratischen verfassten Gesellschaft wird Sinn verordnet - und nur an dieser Verordnung mangelt es der säkularen Gesellschaft. Aber dieser Mangel ist ihre Würde. Und es ist dieser Mangel, der verbürgt, dass jeder glauben kann, was er will - und, vor allem, dass er auch keinen Glauben heucheln muss, wenn er an gar nichts glaubt.“

Mit dieser offenen Parteinahme für ein Staatswesen ohne religiöse Rückbindung markierte der Hamburger Literaturwissenschaftler und bekennende Atheist Jan Philipp Reemtsma als erster Referent des Symposiums eine klare Position. Er eröffnete damit einen 4 Tage dauernden anregenden Gedankenaustausch, in dem der säkulare Staat und in ihm das Miteinander von religiösen und nichtreligiösen Menschen thematisiert wurde. Bereits im Rahmen der eröffnenden Podiumsrunde, in der nur Vertreter der Christen, der Juden und des Islam vertreten waren, überraschte Aiman Mazyek, Mitglied des deutschen Zentralrates der Muslime, mit seiner Aussage: „Wir müssen die Fragestellungen auch mit Humanisten diskutieren – nicht nur mit dem Islam und anderen Religionen.“ Die folgenden Vorträge zeigten jedoch, dass durch unabhängige Wissenschaftler Standpunkte vertreten wurden, die zum Teil sehr präzise humanistischen Positionen entsprachen.

Entkoppelung von Macht, Recht und Religion

Konrad Liessmann, in Österreich gerade als erster Philosoph zum „Wissenschaftler des Jahres“ gekürt und verantwortlich für die Auswahl der Referenten, ist die Entkoppelung von Macht, Recht und Religion eine „Spitzenleistung“ unserer modernen Demokratien. In der Entwicklung eigener Rechtssysteme durch Religionen sieht er grundlegende Probleme. Für prekär hält er es besonders, „wenn religiöse Wertsysteme als solche von der Politik übernommen werden“.

Philosophieren als eine Art religiöser Haltung

Der Grazer Rechts-Philosoph Peter Strasser, der sich als Kolumnist der österreichischen Tageszeitung Die Presse kontinuierlich zu aktuellen Fragen äußert, outete sich als Mitglied einer Minderheit unter den Philosophen. Für ihn ist das, was die prominenten Theoretiker nicht-religiöser Lebensweisen (Richard Dawkins u.a.) vortragen, schlicht „dummes Gerede“. Strassers Überlegungen gipfelten in der Feststellung, dass die Philosophie mit und von Begriffen lebt, die religiös bedingt sind. Die religiöse Ausrichtung der Mehrzahl der Teilnehmer zeigte sich darin, dass er trotz seiner Schlussworte mit ausgiebigem Beifall bedacht wurde. Seine Kernaussage „Philosophieren bedeutet, eine Art religiöser Haltung einzunehmen!“, stieß nicht einmal auf Protest bei den Kollegen aus der akademischen Zunft.

Menschenrechte müssen säkular begründet sein

Der Frankfurter Philosoph Martin Seel war dagegen um sachliche Distanz bemüht und beeindruckte durch seine Darlegung, warum eine säkulare Gesellschaft ohne jeden Zweifel denkbar ist. Für Seel müssen die Menschenrechte sogar zwingend säkular begründet werden, wenn sie Gültigkeit haben sollen. Nur dann lassen sich aus ihnen auch Ansprüche ableiten. Religiöse und nichtreligiöse Menschen unterscheidet Seel durch deren unterschiedliche Art der „Selbsttranszendenz“ (hier als deskriptiv verwendeter psychologischer Begriff), eine unterschiedliche Art und Weise der Selbstdistanz, die es jedem ermöglicht, sich auf die Welt einzustellen. Auch das Sich-selbst-infrage-stellen gehört dazu. Eine kollektive Form des daraus erwachsenden Selbstvertrauens bieten Organisationen und Institutionen aller Art – nicht nur Religionen.

Toleranz muss agnostisch bleiben

Dem Spannungsverhältnis „Toleranz und Religion“ näherte sich der Philosoph Rainer Frost, Frankfurt, in einem historischen Rückgriff mit 12 Lehren, dem er auch auf Toleranzedikte der Geschichte einging. Frost stellte dabei fest, dass eigentlich die Ketzer diejenigen waren, die der Toleranz in einem langwierigen Prozess zum Durchbruch verhalfen. Für ihn ist es heute besonders wichtig, dass Toleranz in ihrer Begründung absolut agnostisch bleiben muss. Sowohl religiöse Toleranzbegründungen, als auch säkulare sind seines Erachtens zur Konfliktlösung nicht geeignet. Insbesondere dürfe keine Seite die andere als unvernünftig bezeichnen. Anhand von aktuellen Beispielen wendete Frost die Kriterien der von ihm favorisierten Respekt-Konzeption der Toleranz (im Gegensatz zur Erlaubnis-Konzeption) praktisch an. Die Kruzifixe in deutschen, speziell in bayerischen Amtsstuben, Schulen und Gerichten stünden, so Frost „für gravierende Intoleranz“. Ähnliches gelte für Kopftücher und für die Behandlung von Homosexuellen (in Deutschland speziell die absolut zweitklassige „Eingetragene Lebenspartnerschaft“). Respekt unter Staatsbürgern bedürfe einer neutralen Ausrichtung des Staates, die zur Zeit nicht überall gegeben sei.

Ist ohne einen Gott alles erlaubt?

Der Marburger Philosoph Winfried Schröder stellte sich die Frage, ob ohne Gott alles erlaubt sei. Dabei griff er drei Theoretiker der Geistesgeschichte heraus. An sie legte er seine Messlatte auf eine sehr ungewöhnliche Weise an. Er formulierte die Ausgangsfrage folgendermaßen um: „Wenn Gott existierte, welche Folgen hätte das für die Moral (und für das Christentum)?“ Sein Fazit, nach einer brillanten Lehrstunde zum Entwickeln philosophischer Argumentationsketten: Religion hat gelegentlich eine Moral stabilisierende Funktion, jedoch liefern Überzeugungen religiösen Typs keine generell gültigen Argumente für die Moralbegründung. Schröder schloss mit einem Dostojewski-Zitat: „Die Annahme eines allmächtigen Gottes unterjocht die Moral, anstatt sie zu schützen!“

"Götterdiversität" und "Polymonotheismus"

Friedrich Wilhelm Graf, Münchner Theologe und Ethiker, nahm sich des Themas „Götterdiskriminierung“ an. Der erste Teil seiner Überlegungen beinhaltete eine Art Bestandsaufnahme der heutigen „Götterdiversität“. Zunächst verblüffte er das Auditorium mit einem Vergleich der Anzahl christlicher Kirchen vor 100 Jahren und heute. Danach zählte man zu Beginn des 20. Jahrhundert bereits 1.800 christliche Gruppen, die auf einem eigenständigen Glaubensgebäude basierten. Inzwischen sei, so Graf, deren Anzahl auf über 33.000 (!) angewachsen, wobei die Zahl der sogenannten Pfingstchristen bereits 30 % aller Christen weltweit ausmache. (Pfingstchristen = Christen, die ein von der buchstäblichen Unfehlbarkeit der Bibel ausgehendes Bibelverständnis auszeichnet, einhergehend mit einem stark von der Apokalyptik geprägten Geschichtsverständnis und intensiver Missionierung.)

Graf gelang es eindrucksvoll, die immer unübersichtlicher werdende Anzahl neuer religiöser Gruppen in eine Struktur zu bringen und brachte dabei das Publikum immer wieder zum Lachen: „Gott hat nun Wohnungsnot, denn es drängen sich so viele neue Götter in seiner Nähe.“ Als er schließlich anstatt vom Monotheismus von einem „Polymonotheismus“ sprach, wurde jedem sehr deutlich, mit welcher Geschwindigkeit sich die heutige religiöse Szene in Bewegung befindet. „Charismatische Religionsintellektuelle fördern die Vielfalt“, führte Graf weiter aus und „überall entwickeln sich neue Produkte. Wir leben in einer höchst götterproduktiven Zeit“. Nicht nur mit Beifall wurden Grafs abschließende Überlegungen aufgenommen, zwischen guten und schlechten Göttern zu unterscheiden: „Nicht allen Göttern gebührt gleicher Respekt!“ Die Problematik, als Wissenschaftler zwischen guten und schlechten Göttern zu unterscheiden und somit eindeutig zu bewerten, erkannte Graf an, wich jedoch zugleich aus, als er meinte, die Wertung müsse jeder einzelne für sich vornehmen. Er als Wissenschaftler gäbe nur mögliche Kriterien vor und diese seien weitgehend säkular geprägt.

Vortragsblock Islam

Der Vortragsblock über den Islam ermöglichte tiefe Einblicke in das Denken und Fühlen dieser Religion. Ednan Aslan und Gudrun Kramer, Islamwissenschaftler aus Wien und Berlin gelang es, einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Menschen zu liefern, die sich im Islam zuhause fühlen. Weitere Referate aus Randbereichen des Zentralthemas sorgten für eine lebendige Ergänzung und verhinderten allzu spezialisierte Diskussionen, denen nur noch absolute Spezialisten hätten folgen können.

 

Nach 12 Vorträgen, mehreren Podiumsrunden mit den Referenten und einem ansprechenden kulturellen Begleitprogramm am Abend lautet das Fazit: Das Philosophicum Lech 2007 war eine lehrreiche Veranstaltung, die in den zentralen Bereichen ihrem Anspruch als Symposium gerecht wurde. Es bot vielfältige Möglichkeiten zum Gedankenaustausch und sicherlich für alle Beteiligten wertvolle Denkanstöße.

 

Jürgen Gerdes


Im Frühjahr 2008 wird im Verlag Paul Zolnay, Wien, ein Tagungsband mit allen Vorträgen erscheinen, Preis: € 20,50)