15. Shell-Jugendstudie: Jugend 2006

Da die Religion wieder „im öffentlichen Fokus“ sei, haben die Wissenschaftler der Shell-Jugendstudie zum ersten Mal auch Fragen der Religiosität

von Jugendlichen in Deutschland mit in die Untersuchung aufgenommen: „Sowohl beim Katholischen Weltjugendtag in Köln 2005 als auch beim Tod von Papst Johannes Paul II. waren Jugendliche aus aller Welt in den Medien äußerst präsent. Daher wird in der Öffentlichkeit gelegentlich über eine „Renaissance der Religion“ bei Jugendlichen spekuliert. Die aktuelle Shell Jugendstudie zeigt allerdings, dass die meisten Jugendlichen in Deutschland nach wie vor eine nur mäßige Beziehung zu kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben haben.

 

Keine Renaissance der Religion

Nur 30 Prozent glauben an einen persönlichen Gott, weitere 19 Prozent an eine unpersönliche höhere Macht. 28 Prozent der Jugendlichen stehen dagegen der Religion fern, der Rest (23 Prozent) ist sich in religiösen Dingen unsicher. (Vgl. Grafik im Anhang: „Gottesvorstellungen bei Jugendlichen, 2006“)

Typisch für die heutige Jugend ist, dass sie zwar die Institution der Kirche grundsätzlich bejaht, gleichzeitig aber eine ausgeprägte Kirchenkritik äußert. 65 Prozent finden, die Kirche habe keine Antworten auf Fragen, die Jugendliche heute wirklich bewegen.

 

Werte und Religion

Die emotionale Vergewisserung der eigenen Kultur geht bisher nicht mit einer Aufwertung oder gar »Renaissance« der Religion einher. Zwar waren Jugendliche im Zusammenhang mit dem Tod des letzten und beim Besuch des neuen Papstes auf dem Weltjugendtag in Köln in den Medien besonders präsent. Außerdem ist die große Masse der Jugend mit Ausnahme der allermeisten ostdeutschen Jugendlichen weiterhin konfessionell gebunden. Dennoch haben Wertesystem und praktisches Verhalten der meisten Jugendlichen nach wie vor nur eine mäßige Beziehung zu kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben. Nur 30 % der Jugendlichen bekennen sich in einem kirchennahen Sinne als religiös, indem sie an einen persönlichen Gott glauben. Weitere 19 % glauben an eine unpersönliche höhere Macht. Sie pflegen damit, besonders wenn sie älter werden, einen Glauben, der nur sehr bedingt etwas mit dem Glaubenssystem der Kirchen zu tun hat. Viele Jugendliche sind glaubensunsicher (23 %), besonders unter den jüngeren Jugendlichen. Weitere 28 % meinen konsequent, dass sie weder an Gott noch an eine höhere Macht glauben. Diese Absage an die Religion nimmt, ebenso wie der unkonventionelle Glaube an eine höhere Macht, mit dem Alter zu. Nimmt man alle verfügbaren Daten der letzten Jahre zusammen, dann zeigt sich eine im Wesentlichen unveränderte Einstellung Jugendlicher zur Religion.

Dass dennoch viele Jugendliche auf kirchlichen Großveranstaltungen und in der kirchlichen Jugendarbeit präsent sind, erklärt sich daraus, dass viele eine prinzipiell wohlwollende Einstellung zur Kirche haben. 69 % finden es gut, dass es die Kirche gibt. Nur 27 % der Jugendlichen meinen, dass es, wenn es nach ihnen ginge, die Kirche nicht mehr zu geben brauchte. Dieses generelle Wohlwollen geht aber mit einer weit verbreiteten Kirchenkritik einher. 68 % der Jugendlichen finden, die Kirche müsse sich ändern, wenn sie eine Zukunft haben will, 65 % sagen, die Kirche hätte keine Antworten auf die Fragen, die sie wirklich bewegten. Das heißt, dass an der Schnittstelle der kirchlich-religiösen Angebote zum Wertesystem und zum Leben der Jugendlichen der Einfluss der Kirchen zumeist endet.

 

Große religiöse Unterschiede

Wie das Beispiel der ostdeutschen Jugendlichen und der Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigt, gibt es jedoch innerhalb der Jugend auch große religiöse Unterschiede.

 

„Religion light“ bei westdeutschen Jugendlichen

Während sich Jugendliche in den neuen Ländern weitgehend von Religion und Kirche, aber auch vom Aberglauben verabschiedet haben, pflegen die meisten westdeutschen Jugendlichen eine Art »Religion light«. Sie sind fast immer konfessionell gebunden und haben eine zwar grundsätzlich positive, aber wenig intensive Beziehung zur Kirche. Die westdeutschen Jugendlichen, bei denen ein Bedürfnis nach Religiosität vorhanden ist, basteln sich oft eine »Collage-« oder »Patchwork«-Religion zusammen, wofür verschiedenste religiöse oder pseudo-religiöse Versatzstücke verwendet werden. Schicksal und Vorbestimmung, Astrologie, Hellseherei und Geister sind Teil dieser oft durcheinander gewürfelten westdeutschen Glaubenswelt. Religiöse und pseudo-religiöse Glaubensformen, in der weiblichen Jugend ausgeprägter als in der männlichen, spielen allerdings für die praktische Lebensgestaltung meist nur eine mäßige Rolle.

 

Mehr „echte“ Religiosität bei Migranten

Ganz anders sieht es in der Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus. In dieser Gruppe, die zumeist in den alten Bundesländern lebt, hat diejenige »echte« Religiosität, die bei deutschen Jugendlichen inzwischen eher rar geworden ist, noch einen starken Rückhalt. 52 % der ausländischen Jugendlichen glauben an einen persönlichen Gott sowie 44 % der nicht in Deutschland geborenen Deutschen, aber nur 28 % der deutschen Jugendlichen. Besonders häufig an einen persönlichen Gott glauben islamische und christlichorthodoxe Jugendliche, vermehrt aber auch christliche Migranten, die den beiden großen einheimischen Kirchen angehören. Diese ausgeprägte »echte« Religiosität der Migranten schließt aber (ebenso wie bei westdeutschen Jugendlichen) auch einen weit verbreiteten Aberglauben nicht aus (Schicksal, Sterne, Geister usw.). Die meisten ostdeutschen Jugendlichen stehen dagegen sowohl dem religiösen Glauben als auch dem Aberglauben fern. Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die besondere Bedeutung der Religion unter Migranten auch damit zu tun hat, dass Religiosität in dieser Gruppe eine Kultur tragende und integrierende Funktion hat. Diesem religiös untermauerten Integrationsdruck, der die Gefahr einer Isolierung gegenüber der deutschen Kultur in sich birgt, können sich Jugendliche mit Migrationshintergrund oft nicht entziehen.

 

Religion und Werte

In der Öffentlichkeit wird gelegentlich behauptet, dass die Religionsferne der ostdeutschen Jugend, aber auch die religiöse Beliebigkeit vieler westdeutscher Jugendlicher dazu führe, dass das Wertesystem der Jugend immer instabiler und schwächer werde. In der Folge wird daher den Kirchen die Rolle zugeschrieben, hier gegenzusteuern. Die Shell Jugendstudie zeigt allerdings, dass diesem Versuch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur geringe Chancen beschieden sind. Die Jugendlichen schreiben den Kirchen in wichtigen Lebensfragen nicht die entsprechende Kompetenz zu. Die aktuelle Studie zeigt jedoch darüber hinaus, dass das Wertesystem der Jugendlichen über die Zeit stabil und positiv ausgerichtet ist. Insbesondere der Fall der religionsfernen Jugendlichen zeigt, dass solche der Kirche am fernsten stehenden Jugendlichen ein Wertesystem haben, dass sich kaum von dem der anderen Jugendlichen unterscheidet. Von einem »Werteverfall« kann also nicht die Rede sein. Die vertiefende Analyse zeigt, dass in dieser religionsfernen Gruppe die Institution der Familie und die Freundeskreise die Werte stützende Funktion übernehmen, die Religion und Kirche nicht mehr innehaben.

Ein besonders wichtiger Befund der aktuellen Shell Jugendstudie besteht darin, dass die sehr unterschiedlichen religiösen Konstellationen, also die »Religion light« im Westen, die Religionsferne im Osten und die »echte« Religiosität der Migranten, mit jugendlichen Wertesystemen einhergehen, die viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Migranten sind zwar traditionsorientierter als Nicht-Migranten, vertreten aber dennoch auch vermehrt materialistische und hedonistische Werte. Sie sind also den Gütern und Freuden des Lebens ebenso, wenn nicht mehr zugewandt als andere Jugendliche. Insgesamt bilden diese typischen Werte der Jugendkultur eine wichtige Klammer zwischen den Milieus der Migranten bzw. der West- und Ostdeutschen. Dasselbe gilt auch für die Sekundärtugenden, die allseits hoch geschätzt werden. Bei den religionsfernen Jugendlichen in Ostdeutschland, die dort mit 64 % die große Mehrheit stellen, ist das Wertesystem kraftvoller als bei der entsprechenden Gruppe in Westdeutschland, die sich dort mit 21 % in einer Minderheitenposition befindet. Jugendliche aus dieser Gruppe stehen in der Gefahr, in einer noch stärker religiöskirchlich geprägten Umwelt in eine Werteopposition gedrängt zu werden.“

 

Carsten Frerk

_____________________________________________

 

Die „15. Shell-Jugendstudie: Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck.“ (Konzeption und Koordination: Klaus Hurrelmann, Matthias Albert & TNS Infratest Sozialforschung) ist im S. Fischer-Taschenbuch-Verlag erschienen. 506 Seiten, € 14,95.