MASTERSHAUSEN. (gbs/hpd) Dass der Philosoph Peter Singer in Deutschland mit dem „Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung“ ausgezeichnet werden soll, quittierten einige Menschen mit Unverständnis oder gar Empörung. Hat Peter Singer nicht dazu aufgerufen, behinderte Kinder zu töten? Oder war dies bloß ein schlimmes Missverständnis? Michael Schmidt-Salomon versucht, Licht ins Dunkel der Debatte zu bringen.
Die Vergabe des Ethik-Preises der Giordano-Bruno-Stiftung an die Initiatoren des „Great Ape Project“, Paola Cavalieri und Peter Singer, hat leider zu Missverständnissen geführt, die ich als Vorstandsprecher der Stiftung gerne aus dem Weg räumen würde.
1. Wir zeichnen Peter Singer für seine herausragenden Leistungen als Tierrechtler aus – insbesondere für die Initiierung des Great Ape Project (gemeinsam mit Paola Cavalieri). Begleitend zur Preisverleihung haben wir eine Broschüre verfasst, die noch einmal begründet, warum den Großen Menschenaffen gewisse Grundrechte eingeräumt werden sollten.
2. Dass Peter Singer in seinen Schriften unter anderem auch für Sterbehilfe votiert hat, betrifft unsere Preisverleihung nicht direkt, jedoch würden wir als humanistische Stiftung niemals einen Mann auszeichnen, der auch nur im Entferntesten „Hetze gegen Behinderte“ betreibt. Ich gebe zu: Ausgelöst durch die Debatte der 1990er Jahre hegte auch ich damals gegen Peter Singer einen solchen Verdacht. Dann aber las ich seine Bücher und erkannte, dass die damaligen Diskussionen auf Missverständnissen, Fehlinterpretationen und (auch das kam vor!) böswilligen Unterstellungen beruhten. Ich kann nur jedem empfehlen, vermeintliche „Zitate“, die aus Singers Büchern stammen sollen, kritisch zu überprüfen – und auch gedruckte Interviews äußerst skeptisch zu betrachten.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie solche Interviews häufig zustande kommen: Selbst wenn man das Interview redigiert und autorisiert hat, erlebt man am Schluss oft böse Überraschungen. Allzu häufig werden wichtige Passagen – vermeintlich oder tatsächlich aus Platzgründen – herausgestrichen, so dass man seine eigenen Aussagen kaum noch wiedererkennt. Bedenken sollte man in diesem Zusammenhang auch, dass Deutsch für Peter Singer eine Fremdsprache ist, was die Angelegenheit noch einmal problematischer macht. Fakt ist: Würde ich von Peter Singer nur dieses eine, immer wieder zitierte Spiegel-Interview aus dem Jahre 2001 kennen, hätte ich ganz bestimmt nicht zugestimmt, ihn mit einem Ethik-Preis auszuzeichnen. Allerdings gibt dieses Interview Singers Positionen streckenweise nur sehr verzerrt wieder – während der Anfang des Interviews in Ordnung ist, ist der Schluss geradezu ein Musterbeispiel für schlechten bzw. politisch manipulativen Journalismus.
Was sagt Peter Singer wirklich?
Wenn das Spiegel-Interview nicht repräsentativ ist, welche Positionen vertritt Peter Singer denn tatsächlich in Bezug auf den gesellschaftlichen Status behinderter Menschen? In dem maßgeblichen Buch zu dieser Thematik „Muss dieses Kind am Leben bleiben? – Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener“ (Helga Kuhse/Peter Singer, Harald Fischer Verlag 1993) heißt es dazu: „Wir meinen (…), daß die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen. Wir sollten alles tun, um die oft beklagenswert schlechte institutionelle Betreuung zu verbessern und die Dienstleistungen bereitzustellen, die behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Institutionen und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen“ (S. 26). Schreibt so ein Mann, der „gegen Behinderte hetzt“?!
Es stimmt, dass Peter Singer in den 1980er Jahren – im Rekurs auf frühere Modelle in verschiedenen Kulturen – vorschlug, Säuglinge bis 28 Tage nach der Geburt nicht als volle Rechtspersonen zu behandeln. Unter bestimmten Bedingungen wäre es somit Eltern möglich, schwerstgeschädigte Neugeborene zu töten, ohne deshalb angeklagt zu werden. Philosophisch begründet wurde dieser Vorschlag mit der unbestreitbaren Tatsache, dass Säuglinge in diesem Alter (ob behindert oder nichtbehindert!) noch keine „Personen im empirischen Sinn“ sind, da sie noch nicht über ein Bewusstsein ihrer selbst verfügen, die Zukunft noch nicht antizipieren können etc. Spätestens 1993 (siehe die deutsche Ausgabe von „Muss dieses Kind am Leben bleiben?“) revidierte Singer jedoch diesen Vorschlag (mit dem er unerträgliches Leid durch das langsame Sterbenlassen schwerstgeschädigter Neugeborener im Zeitalter der Gerätemedizin verhindern wollte!). Er schloss sich der Argumentation Norbert Hoersters an, der dargelegt hatte, dass nur die Geburt „als Grenze sichtbar und selbstverständlich genug“ sei, „um ein sozial anerkanntes Lebensrecht zu markieren.“ (S. 251) Singer bestätigte, dass es problematisch ist, den rechtlichen Status eines Menschen vom Alter abhängig zu machen. Denn: Würde die Vorstellung in das öffentliche Denken eingehen, „daß ein Kind mit dem Augenblick der Geburt nicht zugleich auch ein Lebensrecht besitzt, sinke möglicherweise die Achtung vor kindlichem Leben im allgemeinen“. (S. 251f)
Singers Philosophie ist „behindertenfreundlich“
Angesichts „des Leids, das der Status quo für die schwergeschädigten und kranken Kinder und ihre Familien bedeutet“, stellten Kuhse/Singer, wie zuvor schon Hoerster, zwei Forderungen auf:
a) „Eltern eines schwerstgeschädigten Kindes [müssen] zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom Alter des Kindes die Möglichkeit haben, das Kind ohne eigene Kosten in einer staatlichen Institution unterzubringen. (Wir gehen natürlich davon aus, dass diese Institutionen über genügend Mittel verfügen, um einen hohen Betreuungsstandard zu garantieren.)“
b) „Aktive und passive Euthanasie sollte immer dann erlaubt sein, wenn jemand unter einer unheilbaren Krankheit so sehr leidet, dass ein Weiterleben nicht in seinem oder ihrem Interesse ist. (…) Die erste Bedingung befreit die Familie von der Belastung, ein schwerstbehindertes Kind aufziehen zu müssen – wenn sie denn davon befreit werden will. Die zweite Bedingung stellt sicher, daß ein Kind dasselbe Lebensrecht besitzt wie wir alle, aber nicht, wie zur Zeit noch, gezwungen werden kann, ein elendes Leben weiterzuleben.“ (S. 252)
Man könnte diese Position etwa auf den folgenden Nenner bringen: 1. Jeder Mensch hat ab der Geburt ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht. (Manchmal ist das Leben leider mit solchen Qualen verbunden, dass es unethisch wäre, es unbedingt aufrechterhalten zu müssen.) 2. Kranke und Behinderte sollten mit allen Mitteln gefördert werden – Krankheit und Behinderung jedoch nicht! Ich halte diese Differenzierung nicht für „behindertenfeindlich“, sondern, ganz im Gegenteil, für „behindertenfreundlich“. Dies sage ich nicht nur als philosophischer Theoretiker, sondern auch ganz bewusst vor dem Hintergrund meiner eigenen praktischen Erfahrungen: Vor einigen Jahren arbeitete ich sehr intensiv mit einem „Förderverein für Familien mit chronisch kranken und schwerstbehinderten Kindern“ zusammen. Daher weiß ich, wie groß die Belastung dieser Familien ist. Die Gesellschaft lässt sie allzu häufig im Stich – ein Status quo, der auf keinen Fall hingenommen werden darf, worauf Peter Singer völlig zu Recht hingewiesen hat. (Auch wenn es exotisch klingen mag: Die Behindertenverbände wären m. E. gut beraten, Singer nicht als „Gegner“ wahrzunehmen, sondern vielmehr als „potentiellen Verbündeten“ im Kampf für menschenwürdigere Lebensverhältnisse.)
„Einer der klarsten und mitfühlendsten Denker unserer Zeit“
Um dem Philosophen und Menschen Peter Singer gerecht zu werden, sollte man seine Aussagen zur Sterbehilfe im Kontext seiner sonstigen Veröffentlichungen sehen. Lesen Sie beispielsweise sein Buch „Leben retten“ (erschienen 2010 im Arche Literatur Verlag), in dem er nach Wegen sucht, die absolute Armut zu beseitigen, oder „Wie sollen wir leben?“, ein Buch, das ethische Alternativen zum „Egoismus unserer Zeit“ aufzeigt (1999 bei dtv erschienen). Denjenigen, die ernsthaft glauben, einen linksliberalen, jüdischen Gelehrten (der drei seiner Großeltern in deutschen Konzentrationslagern verlor!) durch Nazivergleiche diskreditieren zu müssen, empfehle ich dringend Singers Buch „Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien“ (2003 im Europa Verlag erschienen). In diesem Zusammenhang frage ich mich mittlerweile ernsthaft: Worauf ist es eigentlich zurückzuführen, dass Peter Singer ausgerechnet hier in Deutschland so scharf angegriffen wurde und wird? Liegt es wirklich daran, dass wir aus den Gräueln des Nationalsozialismus mehr gelernt haben als der Rest der Welt – oder ist es vielleicht so, dass gerade wir in entscheidenden Punkten noch immer viel zu wenig daraus gelernt haben?
Als jemand, der von Berufswegen sämtliche Bücher Singers gelesen hat, bleibe ich bei dem Statement, das ich in der gbs-Pressemitteilung vom 13.5.2011 abgegeben habe: Ich halte Peter Singer für einen „klarsten und zugleich mitfühlendsten Denker unserer Zeit“ (auch wenn ich nicht mit allen seinen Positionen übereinstimme). Seine Achtung vor dem Leben geht soweit, dass er sich seit Jahrzehnten schon vegan ernährt und einen Großteil seines Einkommens für wohltätige Zwecke spendet. Glauben Sie wirklich, dass ausgerechnet ein solcher Mann, der sich sein Leben lang (wie kaum ein anderer Philosoph weltweit!) für die Schwächsten der Schwachen einsetzt, „Hetze gegen Behinderte“ betreibt? Glauben Sie wirklich, dass es in irgendeiner Weise gerechtfertigt sein könnte, ihn mit Faschisten auf eine Stufe zu stellen?
Der beste Weg, solche Vorurteile zu überprüfen, ist die Lektüre von Singers Büchern. Wem dies zu mühsam ist, dem seien (zumindest!) die folgenden Video-Dokumentationen ans Herz gelegt:
ABC-Sendung “Talking Heads” mit Peter Singer (2007, 3 YouTube-Videos):
http://www.youtube.com/watch?v=-lu9sc4FWLw
http://www.youtube.com/watch?v=7vu9W2a7CZ8
http://www.youtube.com/watch?v=roHsBMYc48M
A Good Life: According to Peter Singer (2009, 3 YouTube-Videos):
http://www.youtube.com/watch?v=wx-lW9Nv1js
http://www.youtube.com/watch?v=B1K-XVmmuUo
http://www.youtube.com/watch?v=XuS7ZQ5k7YU