Der gottlose Literaturpapst

Das am vergangenen Freitag Abend im ZDF ausgestrahlte Filmporträt „Ich, Reich-Ranicki“ von Lutz Hachmeister und Gert Scobel beginnt mit

einem atheistischen Bekenntnis des großen Literaturkritikers, das von der Presse als provokativer Paukenschlag zur Eröffnung einer monumentalen Dokumentation wahrgenommen wurde. Doch es lässt sich nicht getrennt von Leben und Werk Reich-Ranickis verstehen.

Es gibt viel Packendes in seiner Biografie: Die Zeit im Warschauer Getto, die Ermordung der Eltern und des Bruders, die Flucht aus dem Getto und das Überleben im Untergrund, die umstrittene Mitarbeit beim polnischen Geheimdienst, der Aufstieg des kleinen polnischen Jungen mit schlechten Deutschkenntnissen zu "Deutschlands meist gelesenem, meist gefürchteten, meist beobachteten, darum meist gehassten Literaturkritiker“(Joachim Kaiser)

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. Er kannte Bert Brecht noch persönlich, sorgte für Schlagzeilen aufgrund öffentlich ausgeschlachteter Zerwürfnisse mit Persönlichkeiten wie Günter Grass, Walter Jens oder – im Zuge des Historikerstreits – Joachim Fest und selbst sein Schweigen ist Aufsehen erregend: Er ist der bislang einzige Literat, der sich hartnäckig weigerte, sich zu Günter Grass´ vieldiskutierter SS-Vergangenheit zu äußern. Er schrieb nicht nur gerne „über Ruhestörer“

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, er ist selber immer wieder einer von ihnen. Und ganz am Rande ist er (zufällig?) auch noch Atheist. Und ausgerechnet dieses vergleichsweise unspektakuläre Detail wählten Lutz Hachmeister und Gert Scobel, die Macher der groß angekündigten, knapp zweistündigen Reportage „Ich, Reich-Ranicki“, die am vergangenen Freitag im ZDF lief, als Auftakt, um einen ehrgeizigen Film über das bewegtes und bewegende Leben des „Großkritikers“ mit einem gebührenden Knalleffekt beginnen zu lassen: „Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott.“ Mit diesen Worten, noch in den Vorspann geschnitten als handle es sich um ein Vorzeichen unter dem der gesamte Rest zu verstehen sei, beginnt das monumentale Projekt. Ob dieser Wahl eine bewusste dramaturgische Entscheidung, reine Intuition oder purer Zufall zugrunde liegt, ist unklar, doch die Reaktionen der Medien lassen darauf schließen, dass in diesem Statement ein immer noch ausreichend starkes Provokationspotential steckt, sogar dann, wenn es aus dem Munde eines ohnehin für seine Streitlust bekannten Medienstars mit „Schachterlteufeltemperament“ (so einst AZ-Kritiker-Legende Ponkie) stammen. Und das scheint er auch geahnt zu haben, denn unmittelbar auf den atheistischen Befund über die profane Herkunft Gottes folgt die Beschwerde:„Das darf man in Deutschland nicht sagen.“ Natürlich ist das für Marcel Reich-Ranicki kein ausreichender Hinderungsgrund, es trotzdem (oder gerade deshalb) zu sagen - und wenige Sekunden später wird er auch noch einen drauflegen - aber die Presse bestätigte ihn überraschend einstimmig: Kaum ein Echo auf den umfangreichen Film, in dem das in seiner Kürze verhältnismäßig unbedeutende atheistische Statement nicht erwähnt wird, kaum eine Rezension, in der es nicht – zumindest sinngemäß – als „Frechheit“ oder „Provokation“ rezipiert wird: Von einer lapidaren und die Aussage nicht näher bewertenden Anmerkung auf Europolitan, über den von einem einseitig-christlichen Verständnis von Gottlosigkeit getragenen Kommentar in der Rheinischen Post, bis zur beeindruckten Rezension Volker Hages im Spiegel.

Nun mag ja durchaus eine (geringe) Möglichkeit bestehen, dass die Wahrnehmung einer Provokation nicht nur auf die Botschaft selber, sondern auch auf das Naturell des Botschafters und die an ihn stets gestellten Erwartungen zurückzuführen sind. Vielleicht wäre es ja auch als freche Provokation aufgenommen worden, wenn der Film mit einem Bekenntnis Reich-Ranickis, kein Teetrinker zu sein oder keine Rollkragenpullover zu mögen, eingeleitet worden wäre. Doch auch ungeachtet seiner Person sind derart deutliche Absagen an Gott in den Medien derzeit eher unpopulär, was wohl auch Christiane Florin vom Rheinischen Merkur veranlasst, sich erleichtert zu zeigen:

Endlich ein Prominenter, der sein Selbstbildnis nicht ins spirituelle Wellnessbad taucht. Seit der Komiker Hape Kerkeling beim Pilgern erkannt hat, dass er in einem früheren Leben ein polnischer Mönch war, der von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs erschossen wurde, ist die Wiedergeburtenrate unter den Showbiz-Menschen hoch. Nun darf im deutschen Fernsehen – noch dazu im Johannes-Baptist-Kerner-Sender ZDF – ein 1920 in Polen geborener Mann, der in seinem einzigen Leben beinahe von Deutschen ermordet worden wäre, fast zwei Stunden seine Geschichte erzählen. Eine Sensation!“

Und treffend – und darüber wird im folgenden noch zu sprechen sein – stellt sie fest: Der Gottesverneiner glaubt an Thomas Mann.“ Ihre vorangegangene Beobachtung, der „trainierte Debattenübersteher“ habe mit seinem atheistischen Credo ein Gespür für Megatrends bewiesen, da bei den Dreharbeiten noch keine Rede von „kopflosen Opern“ gewesen sei, ist aber trotz der amüsanten Formulierung zumindest fragwürdig.(Eine religiöse Renaissance in den Medien erleben wir nicht erst seit der Mozart-Absetzung. Und aus seinem Atheismus hat Reich-Ranicki noch nie ein Hehl gemacht. Schon in dem TV-Film zu seinem 85. Geburtstag, „Der Herr der Bücher“, hatte er, wie immer ohne Angst vor der Superlative, formuliert: „Ich bin ein durch und durch areligiöser Mensch, einen areligiöseren Menschen als mich können Sie sich gar nicht vorstellen.“ )

Uwe Wittstock von der Welt scheint den gottlosen Auftakt für gelungen zu halten und entdeckt weit mehr darin als nur Provokation:

„Dieser Filmauftakt ist vieles zugleich: Erinnerung an die jahrhundertealte Theodizee, also an die Frage, weshalb ein guter Gott das Böse in der Welt zulässt, Erinnerung aber auch an die Hölle, durch die der heute so vielgeehrte Reich-Ranicki einst ging - und nicht zuletzt eine Provokation, die sofort die Aufmerksamkeit des Publikums fesselt.

Richtig, die Theodizee klingt auch an, nämlich dann, wenn Reich-Ranicki seinem Publikum die Absurdität eines Gottglaubens im Rahmen seiner eigenen Biografie plastisch vor Augen führt: In den Jahren seiner Jugend nämlich, wenn er da an Gott geglaubt hätte, dann hätte sich ihm der Verdacht aufdrängen müssen, Gott gehöre der NSDAP an, denn er habe damals alles unterstützt, was die Nazis machten.

Wo aber liegt nun genau die Provokation, die in all diesen Kommentaren angesprochen wird? In der Behauptung, es gäbe keinen Gott? Oder ist es die implizite Aussage, wer an Gott glaube, müsse auch in Erwägung ziehen, dass dieser nicht nur auf der Seite der Guten, sondern auch auf der der Bösen sein könne, im Extremfall eben „der NSDAP angehören“? Drastische Worte, sicher, aber die Theodizee ist in ihrem Kern per se eine Provokation, das sollte man nicht vergessen. Liegt es daran, dass Reich-Ranicki mit seiner Feststellung, es handle sich bei Gott um eine literarische Erfindung, indirekt allen Gläubigen attestiert, auf ein Märchen hereingefallen zu sein? Oder wird vielleicht Gott direkt – vorausgesetzt man denkt ihn sich als autonome Existenz - beleidigt, wenn man ihn zu einer „Erfindung“ degradiert? Nun, eigentlich wäre dieser Satz aus dem Munde jedes anderen gut dazu angetan, die Sache als erledigt abzuhaken: Wenn Gott eine literarische Erfindung ist, erübrigt sich vieles, denn es ist ja „nur“ Literatur. Doch wir alle wissen, dass für Reich-Ranicki damit im Normalfall gerade erst die Diskussion beginnt. Im Falle des „Literaturprodukts“ Gott hält sich seine gewohnte Leidenschaft für alles Literarische jedoch in deutlichen Grenzen. War´s das auch schon? Ist der kleine atheistische Auftakt, samt der folgenden, unbequemen Theodizee-Einlage eine journalistenfreundliche Eintagsfliege, die letztendlich als nebensächlich und irrelevant für „MRR“s Leben und Werk eingestuft werden kann? Eine Geschmacksäußerung, die wir einfach zur Kenntnis nehmen dürfen, um uns dann wieder dem Kritiker und Literaturliebenden und seinem atemberaubenden Leben zuwenden zu können? Oder spielt sie vielleicht doch ein wenig mehr hinein in die Denkweise, die Person und letztendlich auch das Literaturverständnis des sicher nicht selbsternannten „Papstes“?

Seit 1999 die umjubelte Autobiografie „Mein Leben“

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erschienen ist und damit der Öffentlichkeit ein Einblick in Persönliches und Biografisches des Kritikers gewährt wurde, hat sich das Interesse von literarischen Gutachten auf persönliche Aspekte verlagert. Mit regelmäßiger Sicherheit taucht von da an u.a. auch immer wieder die Gretchenfrage auf, wie er es denn mit der Religion halte. Und auch ungefragt enthält er uns die Antwort darauf keineswegs vor. Diese Frage wird von Außenstehenden gerne im Zusammenhang mit den einschneidenden Erfahrung der Shoa, den Erlebnissen im Warschauer Getto, der Ermordung der Eltern und des Bruders, gestellt. Es scheint für viele angesichts einer derart dramatischen Biografie zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder, man kann nicht (mehr) an Gott glauben, weil derart Schreckliches erlebt wurde oder der Glaube an Gott wird gestärkt, weil man derart Schreckliches erlebt hat. Doch Reich-Ranickis Areligiosität hat damit nichts zu tun. Schon erste Begegnungen mit religiösen Praktiken und Gedanken (in diesem Falle natürlich in Form der jüdischen Religion) waren ihm fremd und suspekt, wie er in seiner Biografie erzählt.

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Nach einigen wenigen Besuchen in der Synagoge habe er sich bereits „mit der schlichten Begründung, dass mich der Gottesdienst überhaupt nicht interessiere und schrecklich einschläfere“, als kleiner Junge jeden weiteren Kontakten entzogen. Ein geborener Areligiöser also, keiner, der seinen Glauben erst durch die Kraft der Argumente oder durch bittere Erfahrungen verloren hat. Revolte-Gefühle gegen Gott seien ihm fremd:

„Einer jüdischen Maxime zufolge kann ein Jude nur mit oder gegen Gott, doch nicht ohne Gott leben. Ich kann mich an keinen einzigen Augenblick in meinem Leben erinnern, an dem ich an Gott geglaubt hätte. Die Rebellion des goethe´schen Prometheus ist mir vollkommen fremd“

schreibt er und berichtet weiter von der Begegnung mit dem bekannten Lichtenberg-Aphorismus, demzufolge die Idee, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, in Wirklichkeit bedeute, der Mensch habe Gott nach seinem Ebenbild geschaffen. Wie eine Erleuchtung habe dieser Satz auf ihn gewirkt, ein Satz, der im Grunde nichts anderes besagt, als dass Gott eine literarische Erfindung ist.

Bei dieser Gelegenheit: Was meint denn nun der Literatur“papst“ zu dieser literarischen Gestalt? Es handle sich nicht um eine sonderlich gelungene Figur, befindet er, vergleichbar etwa mit Odysseus oder King Lear. Sein Interesse an ebendieser Figur scheint damit allerdings auch schon genügend erschöpft zu sein, eine weitere Ausführung ist die nicht geglückte Figur ihm, dem Meister der Verrisse, dann doch nicht wert. Doch auch wenn Gott nicht interessant genug zu sein scheint, so kommen religiöse Gebetsbuch-Texte überhaupt nicht gut weg – wie z.B. in einem Interview mit der Welt:

„Ich war seit 1934, dem Jahr meiner Konfirmation, nie - mit einer unwichtigen Ausnahme - in der Synagoge. Mir war das schon als Kind unbegreiflich, dass jemand einen gedruckten Text liest und das für ein Gebet, ein Gespräch mit Gott hält. Ich habe diese Texte im Gebetbuch sehr wohl gelesen. Sie haben mich nicht beeindruckt und sehr enttäuscht, ich hielt sie für indiskutabel. "Gelobt sei der Ewige, der Ewige ist einzig, gepriesen sei der Name des Ewigen, denn Er ist einzig, gelobt sei Gott." Und immer wieder ein und dasselbe. Was soll das?“

Und Religion als kulturelle Größe, als normative Institution, als „moralische Instanz“? Auch da fällt das Gutachten eher negativ aus

[5]

: Was er der jüdischen Religion vor allem vorzuwerfen habe, ließe sich am besten mit folgenden Versen aus dem Faust andeuten:

Es erben sich Gesetz und Rechte

Wie eine ewge Krankheit fort,

Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte

Und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage

Die Weigerung und Unfähigkeit, unzählige seit Menschengedenken existierende, aber längst sinnlos gewordene Gebote und Vorschriften abzuschaffen , sei es, die er an der mosaischen Religion nicht ertragen könne.

Und doch gibt es auch einen Berührungspunkt:

„Aber ich weiß zugleich und vergesse es nicht: Die Juden haben keine Schlösser und Paläste gebaut, keine Türme und Dome errichtet, keine Reiche gegründet. Sie haben nur Worte aneinander gereiht. Es gibt keine Religion auf Erden, die das Wort und die Schrift höher schätzen würde als die mosaische.“

Das kann ihm, dem Heimatlosen, dem ständigen Außenseiter, dem chronisch Unzugehörigen natürlich nicht fremd sein. Er liebt das Heine-Wort, die Juden hätten sich im Exil aus der Bibel ihr „portatives Vaterland“ gemacht. Diese portative Heimat hat auch er für sich gefunden, jenseits von Land, jenseits von Nation, jenseits von Religion: „Auch ich habe ein portatives Vaterland - es ist die deutsche Literatur, die deutsche Musik", bekannte er einst in einem Gespräch mit Joachim Fest. Und ähnlich ist auch die Antwort, die er in besagtem Interview in der Welt auf die Frage, woran er im Warschauer Getto geglaubt habe, wenn nicht an Gott, erteilt: „Wenn überhaupt, dann an die Musik, nur an die Musik“.

In „Mein Leben“ findet sich die anrührende Schilderung eines Schlüsselerlebnisses

[6]

, das stellvertretend für das steht, was Reich-Ranickis „Glauben“ ausmacht, ein Erlebnis, das er auch in dem aktuellen Filmporträt wieder erwähnt: Es handelt sich um den Augenblick, in dem ein illegal nach Berlin gelangter Brief des bereits im Exil weilenden Thomas Mann in Gegenwart des jungen „Marceli Reich“ verlesen wird, der Brief, mit dem der Dichter auf die Aberkennung der Doktorwürde der Universität Bonn antwortete. Reich-Ranicki, von Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt schon tief beeindruckt, war unsicher, welche Haltung nun zu erwarten sei, eine Frage, die für ihn „lebenswichtige Bedeutung“ hatte. Mag sein, dass wir aus heutiger Sicht die nun folgende radikale Verurteilung des Nationalsozialismus als selbstverständlich oder gar banal empfinden – für den jungen Juden im Berlin der 30er Jahre war sie es wohl nicht. Er spricht von Erleichterung, von Dankbarkeit und ... Glück. Und Thomas Mann symbolisiert hier all das, was Reich-Ranickis „Glauben“ ausmacht: Den Glauben an den menschlichen Verstand, die menschliche Güte, aber auch die klare, die unverwaschene Position, den menschlichen Mut. Wer diesen „Glauben“ hat, wer das hat, was Thomas Mann für Reich-Ranicki symbolisiert, braucht keinen Gott und keine Religion.

In diesem Zusammenhang sei auch auf eine schöne Antwort Thomas Manns hingewiesen, die Reich-Ranicki in der Rezension des mann´schen Romans über einen in inzestuöser Geschwisterliebe gezeugten, später die eigene Mutter zur Frau nehmenden Papst, „der Erwählte“

[7]

, erwähnt. Als christlich wurde der Roman weitgehend rezipiert, eine Sichtweise, die Reich-Ranicki nicht teilt, zu freigeistig scheint er ihm, zu wenig moralisierend, zu wenig Platz ist für die Verurteilung und „Verketzerung des Eros und der Sexualität“ zu der die christlichen Kirchen seit Jahrhunderten kräftig beigetragen hätten. Wie so oft interessiert den Kritiker hier nicht nur das Werk, sondern auch der Schöpfer desselben. Und nicht ohne Wohlwollen zitiert er die Antwort des verehrten Dichters auf die Frage, „was für ein Glauben denn in seinem Schrank verstaut sei“, eine Antwort, die vermutlich auch die Antwort Reich-Ranickis sein könnte:

„Ich glaube an das Gute und Geistige, das Wahre, Freie, Kühne, Schöne und Rechte, mit einem Wort an die souveräne Heiterkeit der Kunst, dieses großen Lösungsmittels für Hass und Dummheit. Man muss vielleicht außerdem an den lieben Gott und den Atlantic Pact glauben. Aber mir genügt das andere.“

Er hätte, so meint Reich-Ranicki, auch Ausflucht in Vagheiten suchen können, habe aber stattdessen eine klare Antwort bevorzugt. Eine Gemeinsamkeit, die der Kritikerfürst mit dem Dichterfürsten hat.

Schon vor der Ausstrahlung des Hachmeister/Scobel-Film-Dokumentation, geisterten Meldungen durch die Presse, Reich-Ranicki sei nicht begeistert von dem Ergebnis. In seinem Alter ginge es um Fragen wie „Was wird übrig bleiben? Was habe ich geleistet?“ Auch die Antwort auf die Frage, was ihn an der Literatur so fasziniert habe, sei nicht hinreichend beantwortet worden.

Nun, als Protagonist des Atheismus oder als Religionskritiker wird er sicher nicht in die Geschichte eingehen, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dies bei aller dezidiert atheistischen Positionierung ein Randthema für ihn geblieben ist. Gleichwohl aber ist sein Verständnis von Literatur, das „was ihn an der Literatur so fasziniert“ hat, nicht getrennt von einem, seinem, areligiösen Weltverständnis zu verstehen. „Wir haben es sehr oft in der Literatur mit infantilen Büchern zu tun“ hörte man ihn in der Dokumentation vom Freitag beispielsweise in einem etwas älteren Auszug schimpfen. „Ich habe diese Kindereien satt. Ich will das nicht. Ich will nur Autoren lesen, die erwachsene Menschen sind.“ Und über erwachsene Menschen lesen wir in „Mein Leben“: „Ich konnte nicht begreifen, dass erwachsene Menschen mehr oder weniger stumpfsinnige Texte murmelten und dies auch noch für ein Gespräch mit Gott hielten.“

[8]

Man mag über seine Literaturkritiken denken wie man will, aber eines ist allen gemein: Sie sind stets ein radikales Bekenntnis zum menschlichen Geist, zur menschlichen Kultur, zur Kunst. Es gibt keine höhere Instanz für ihn, weil er nie eine höhere finden konnte. In den dunkelsten Stunden des Warschauer Gettos nicht und am Gipfel der Macht und des Erfolgs ebenso wenig. Von daher ist es auch kein Wunder, dass die von ihm besonders geschätzten Autoren, Thomas Mann, Heine, Brecht, Goethe fast alle areligiös waren, auch wenn sie bisweilen – wie er es im literarischen Quartett anlässlich Heines 150. Todestages ausdrückte – „das Poetische in den Religionen sahen.“ Es ist die „Klarheit des Gedankens“, die er in der Literatur so liebt und die Auseinandersetzung mit dem Menschen. Die große Literatur, so hat er es einmal formuliert, mache uns zu Voyeuren – zu Voyeuren des eigenen Lebens. Literatur sei immer Selbstdarstellung und Selbstauseinandersetzung, sie ist also konsequent auf den Menschen ausgerichtet.

In seinem Leben hat MRR eindrucksvoll demonstriert, wie die Kunst in extremen Situationen als souveräne, autonome Instanz trösten kann, in seinem Werk demonstriert er, dass der menschliche Geist für ihn die höchste Instanz ist. Oder, mit anderen Worten: „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion“. (Manifest des evolutionären Humanismus).

MRR hat übrigens für seine Beerdigung jegliche religiöse Elemente verboten.

Christina Stefan


[1]

SZ, 02.06.1990

[2]

Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur; Stuttgart & München, 1993

[3]

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart,1999

[4]

ebd., S. 56,ff

[5]

ebd.

[6]

ebd. S. 102 ff.

[7]

„Die Liebe ist nie unnatürlich“ in: Marcel Reich Ranicki: Sieben Wegbereiter Stuttgart 2004, S. 37-51

[8]

Mein Leben. S. 55