Interview

"Eine große Weltbejahung nach dem Tode Gottes"

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Vor 100 Jahren sind die Duineser Elegien veröffentlicht worden. Der Gedichtzyklus von Rainer Maria Rilke gehört zu den meistgelesenen Werken deutscher Lyrik und gilt zugleich als schwer zugänglich. Der Philosoph Franz Josef Wetz macht in einem "Lesekompass" Vorschläge für ein besseres Verständnis der Verse. Im Interview mit dem hpd erklärt er, warum Rilke auch für Naturalisten und Atheistinnen von Interesse sein könnte.

hpd: Herr Wetz, wie sind Sie denn als Philosoph auf Rilkes Duineser Elegien gekommen?

Franz Josef Wetz: Rilkes Elegien umgibt seit jeher eine Aura. Zahllose Ausgaben stehen in privaten wie öffentlichen Bücherregalen – ungelesen bestaunt. Den einen oder anderen Vers zitiert man gerne daraus. An solchen lässt sich bereits erkennen, dass es in den Elegien auch um Philosophie geht. Erstmals bin ich im Studium auf die Elegien gestoßen. Vor einigen Jahren brachten mich meine eigenen Fragen wieder in ihre Nähe, und so begann ich, mich mit ihnen näher zu befassen. Dabei bestätigte sich die Vermutung: In Rilkes Elegien verschmelzen Poesie und Philosophie. Sie sind Gedankenlyrik, in der sich philosophische Reflexionen mit existenziellen Erfahrungen auf einzigartige Weise vermischen.

Beispielbild

Wer die Gedichte liest, stößt schnell an Grenzen, wenn es um das Verständnis geht – und das gilt auch für die meisten mit "Lyrik-Erfahrung". Warum sind die Elegien so schwer zugänglich?

Ja, das stimmt, die Elegien sind schwer zu verstehen. Beim ersten Lesen wirken sie wie ein pathetischer Wortschwall, und man fragt sich: Was sollen solche schikanösen Verschlüsselungen? Warum komponiert ein Dichter in solch verdichteter Komplexität? Nun, jeder pflegt seinen Stil, und offenbar folgt aus Rilkes natürlicher Konstitution und biografischer Konstellation, dass er die Elegien gerade so komponierte, wie er es tat. Eine wirkliche Überraschung war für mich, dass allem Anschein zum Trotz die Elegien sehr eindeutig, klar und prägnant sind. Die Metaphern, Wortfolgen und Satzstellungen sind alle mit Bedacht gewählt, obwohl sie auf den ersten Blick als vage und undurchdringlich erscheinen. Diese Entdeckung brachte mich auf die Idee, einen gut lesbaren Kompass zu schreiben, der die Leser detailgenau und verständlich durch jede der zehn Elegien navigiert, die zusammen gerade mal einen Umfang von 30 Seiten haben.

Was unterscheidet Ihren Lesekompass denn von anderen Interpretationsangeboten?

Rilkes Gedankenlyrik wird von mir narrativ erschlossen: Die zehn Elegien, die im Buch mit abgedruckt sind, werden detailgenau und verständlich nacherzählt. Lyrische Poesie wird also behutsam in Prosa umgeschrieben, ohne den philosophisch-poetischen Sinn zu verfälschen. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Buches liegt somit in seiner Form, durch die zum einen die Leser die Elegien sehr gut verstehen können, zum anderen so in die Elegien hineingezogen werden, dass sie von ihren Inhalten zugleich berührt werden mögen. Das Buch bietet eine literarische Nacherzählung der Elegien.

Okay, und um was geht es in den Versen?

Die Elegien wollen auf der Grundlage verfeinerter Beobachtungen den Sinn für die Bewunderungswürdigkeit unserer Erde und die Außergewöhnlichkeit unserer Existenz schärfen. Alles in allem sind es drei Themenkomplexe, die in den Elegien entfaltet werden: Liebe, Lust und Leidenschaft, aber auch Abschied, Sterben und Tod einerseits, die Natur unseres Planeten, Pflanzen, Bäume, Tiere andererseits. Schließlich befassen sich die Elegien mit einfachen Alltagsgegenständen wie etwa Türschwellen, Brunnen oder Fenstern und mit älteren Denkmälern wie Kathedralen, Tempel, Grabstätten. Die Elegien geben dem menschlichen Dasein eine hohe Intensität und verleihen den sichtbaren Dingen ringsum eine starke Gegenwärtigkeit.

Das sind also die "gewöhnlichen Dinge", auf die sich der Titel Ihres Buches bezieht...

Ja, das sind die vertrauten Dinge um uns herum, die in den Elegien von ihrer Unauffälligkeit, Selbstverständlichkeit, Alltäglichkeit erlöst werden.

Und warum sollen wir Menschen diese Alltäglichkeiten feiern?

Weil sie es "verdienen", und weil wir es können! Es ist ein Jammer, dass wir in der Regel so sehr in Sorgen und Routinen verstrickt sind, dass wir diese einmalige Chance oft gar nicht ergreifen, geschweige denn wertschätzen. Sachlich formuliert: Wir Menschen sind als zufälliges Nebenprodukt der Evolution mit einer Erkenntnisfähigkeit begabt, die es uns ermöglicht, mit der Welt besser zurecht zu kommen. Allerdings trägt diese Erkenntnisfähigkeit, ursprünglich ein Instrument der Selbsterhaltung, zu einer überraschenden weiteren Begabung bei: Von Alltagsnöten entlastet, können wir Phänomene der Natur und Kultur als solche hingebungsvoll bewundern, achtsam wahrnehmen. Denn wir sind in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und Dinge fernab von unseren Daseinsinteressen zu würdigen. Diese Begabung, richtig genutzt, verhilft uns zu intensiven Begegnungen mit der Wirklichkeit. Der Mensch ist gleichsam das offene Auge der Natur, das deren verblüffendes Da- und Sosein zu bestaunen vermag. Das klingt abgehobener als es ist. Schon Heinrich Heine schrieb einmal über Goethe: "Die Natur wollte bestaunt werden, da erschuf sie sich Goethe." Und der griechische Philosoph Anaxagoras – ein zweites Beispiel – vertrat die Auffassung, dass die Menschen auf der Erde weilen, um die Welt zu schauen.

Ich kann mir nicht helfen, aber hat diese Vorstellung von Verehrung nicht einen religiösen Touch?

Rilke steht nicht mehr auf dem Boden des Christentums. Im Gegenteil, seine philosophische Poesie verwirft die traditionelle Religion. Ein ehrfürchtiges Fühlen aber behält er tatsächlich bei – und zwar in einer Weise, dass man ihm selbst als Naturalist und Atheist folgen kann. In den Elegien spricht sich eine große Weltbejahung nach dem Tode Gottes aus, die der Erde, Natur und Kultur mit andächtiger Hochachtung und überschwänglicher Hingabe begegnet: den Wellen, Wolken und Wind ebenso wie den Blumen, Büschen und Bäumen, aus denen das Gezwitscher von Vögeln und das Zirpen von Zikaden ertönen. Die Natur oder Erde im Auge eines solch besonnenen Betrachters sensibilisiert für Aspekte der Wirklichkeit, die Alltag, Naturwissenschaft und Technik logischerweise außer Acht lassen.

Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, profaniert Rilke das Gefühl des "Heiligen", verlagert es gewissermaßen aus dem Bereich der Religion in den Bereich der Kunst?

Ja, die Kunst verfügt über geeignete Mittel, gleichsam einen sakralen Raum zu öffnen, in dem selbst das Gewöhnliche als etwas Besonderes, das Kleine als etwas Großes hervorzutreten und zu überwältigen vermag. Alle Einsichten bleiben fade, wenn sie nicht von dem, das durch sie begriffen wird, zugleich ergriffen wird. Gerade in der säkularen Gegenwart mit rasantem Bedeutungsverlust der Religion wächst die Gefahr, das verblüffende So- und Dasein der Wirklichkeit zu trivialisieren oder als sinnlos zu dramatisieren. Rilke zeigt uns, wie sich auch nach dem Tode Gottes ohne spekulative Metaphysik noch eine Fülle des Festlichen und Erstaunlichen an den Dingen zum Vorschein bringen lässt.

Hat sich Rilke als Erneuerer verstanden oder hat er angesichts der anbrechenden Moderne den alten Zeiten nachgetrauert?

Rilke sah sich mitten in einer Zeitenwende. Das Alte sah er schwinden, etwas Neues entstehen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Immerhin fallen der Erste Weltkrieg und die Münchner Novemberrevolution, die Rilke übrigens guthieß, in die Zeit der Entstehung der Elegien. Gegenüber den Entwicklungen der modernen Technik und der modernen Industriearchitektur, die unter den Imperativen ökonomischer Effizienz stehen, blieb Rilke zeitlebens kritisch. So trauerte er in dieser Beziehung tatsächlich der Vormoderne nach, verklärte einfache Gebrauchsdinge, alte Kulturstätten, die Überbleibsel vergangener Zeiten. Diese waren für ihn stets mehr als nur touristische Attraktionen. Der Dichter ließ sich von der Aura der alten Kulturzeugnisse zu wehmütig erhabener Poesie inspirieren. Trotz gelegentlicher politischer Äußerungen war Rilke kein politischer Schriftsteller. Die sozialen Verhältnisse lassen die Elegien weitgehend außer Acht. Das wirft die Frage auf: Darf die außermenschliche Natur überhaupt ohne sozialkritische Impulse als Sensation gefeiert werden? Ich finde: ja. Eine poetische Weltbejahung – zumal nach dem Tode Gottes – ist ein Anliegen eigenen Rechts, mag der Preis dafür auch politische Weltfremdheit sein. Jedoch schließt poetische Naturergriffenheit nicht automatisch politisches Engagement aus. Erstere gewährt einen gewissen Trost in schwierigen Zeiten. Wenn die Verhältnisse schwer zu ertragen sind, dann darf man zeitweilig Urlaub von ihnen nehmen und sich in der Betrachtung der Natur ausruhen und erholen.

Zuletzt für alle, die Ihr Buch nicht kaufen, aber Rilke doch verstehen wollen: Mit welcher Elegie sollen sie anfangen?

Das hängt von den Vorlieben der Interessenten ab. Die Elegien sind thematisch unterschiedlich. Aber, ganz ehrlich, anspruchsvoll sind sie alle. Darum würde ich – selbst wenn es wie Werbung für das Buch klingt und natürlich auch ist – dazu raten, sich vielleicht doch das Buch anzuschaffen, in dem die Elegien selbst auch stehen, die dort in literarischem Stil auf gut verständliche Weise nacherzählt werden.

Danke für das Gespräch.

Franz Josef Wetz: Das Fest der gewöhnlichen Dinge. Lesekompass durch Rilkes Duineser Elegien. Alibri 2021. 230 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-86569-350-1

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