Soziale Gerechtigkeit als humanistischer Wert

BERLIN. (hpd) In welchen gesellschaftlichen Verhältnissen stehen die aktuelle Wertedebatte,

das Nachdenken über neue Armut und die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und was können Überlegungen dazu zu einem „Humanistischen Sozialwort“ beitragen? Mit einer auf Expertenebene durchgeführten Veranstaltung versuchten die „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ aktuell
als Gastgeberin, „Humanistische Akademie Deutschlands“ und die „Gesellschaft für radikale Philosophie“ am letzten Samstag, 2. Februar 2008, in Berlin den möglichen spezifischen Beitrag des Humanismus zur Lösung dringender Probleme der sich verschlechternden sozialen Lage in Deutschland auszuloten. Im hpd war diese Fachtagung angekündigt worden. Dort auch Programm und Texte zur Tagung.

Humanistische Leitlinien

Dr. Horst Groschopp betonte in seinen einführenden Worten die Dringlichkeit der Aufgabe, aber auch den noch unterentwickelten Erkenntnisstand und verwies auf die Erfordernisse im modernen Humanismus, sich der sozialen Fragen stärker als bisher anzunehmen.

Prof. Dr. Frieder Otto Wolf übernahm die Aufgabe einer Einordnung der Standpunktsuche aus der Sicht des Wertekodexes des heutigen Humanismusverständnisses. Humanismus wäre überfordert, wenn er sich als eine alternative Gesellschaftstheorie verstehen würde. Die Positionsbestimmung des Humanismus müsse jedoch auf die kirchliche Soziallehre Bezug nehmen und eine wissenschaftliche Analyse der heutigen sozialen Lage und Praxis enthalten.

Moderner Humanismus habe seinen spezifischen Beitrag aus seinen eigenen Werten abzuleiten wie Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Toleranz in Verbindung mit der Ablehnung jeglicher sozialer und kultureller Ausgrenzung sowie rein offenbarungsbestimmtem, statischem Moralisieren. In diesem Sinne habe der Humanismus seinen eigenen Zugang zur sozialen Frage zu schaffen.

Wolf zeichnete dann eine Reihe methodischer Prinzipien auf, die auf deliberativem Weg diesen Zugang erleichtern könnten. Verbunden mit den relevanten sozialen Prinzipien des Humanismus sollten mögliche Beiträge des Humanismus und seiner Organisationen zur Lösung der brennenden sozialen Probleme konkretisiert werden. Solche Prinzipien wären z.B. Freiheit und Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Solidarität, Recht auf Existenz und Arbeit.

Nach der Krise des Fordismus und der Ausweglosigkeit der neoliberalen Lösungsversuche wäre es so möglich, im Dialog mit anderen Weltanschauungen und politischen Kräften, einen humanistischen Beitrag zu einer neuen gesellschaftlichen Alternative zu definieren.

In der nachfolgenden Diskussion wurden als zusätzlich zu berücksichtigende Fragestellungen u.a. das Verhältnis von öffentlichen Gütern und Privatisierung, die konkreten Herrschaftsverhältnisse, die Bedeutung von Verteilungsverhältnissen für die Entwicklung einer Gesellschaft, die Nachhaltigkeit als humanistischer Wert und die Bündnisproblematik angesprochen.

Neue Armut – Alte Menschenbilder?

Zur Problemstellung „Kulturelle Werturteile über Prekarität, Unterschicht und Ausgrenzung“ gaben Prof. Dr. Dietrich Mühlberg als Kulturwissenschaftler und Prof. Dr. Dieter Kramer als Europäischer Ethnologe Einleitungbeiträge.

Mühlberg skizzierte zunächst die historische Wurzel des Maßes der Gleichheit und die geschichtliche Entwicklung der Forderung nach Gleichberechtigung. Soziale Grundrechte seien eng mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung verbunden gewesen. Wenn Arbeit als eine gesellschaftliche Kategorie verstanden werde und als die Arbeitskraft zur Ware geworden sei, wurde die Klasse der Lohnarbeiter „zur ersten arbeitenden Klasse, die zu neidvollem Vergleichen fähig war“. Zugespitzt gesagt, sei „Sozialneid“ seitdem als Tugend in Richtung Anspruch auf Güter und Ende von Privilegien zu sehen.
Soziale Forderungen der Arbeiter enthielten somit auch sämtliche kulturellen Menschenrechte. Der abstrakte bürgerliche Humanismus wurde in der Arbeiterbewegung übersetzt als realer Humanismus mit gesellschaftsverändernden Forderungen und Organisationen. Das Scheitern des so genannten real existierenden Sozialismus habe die Lage der Arbeiterklasse heute wieder ins Blickfeld gerückt als neue Formen der Abhängigkeit – Prekariat und neue Armut.

Die organisatorische Widerstandskraft der neuen sozialen Gruppen sei jedoch sehr schwach. Das beruhe auch auf ideologischen Faktoren, wobei die Zielwerte des Humanismus unterstützend wirken könnten. Im Gegensatz zu neoliberalen und bestimmten sozialdemokratischen Ansätzen sollten die Aufgaben jedoch nicht einseitig in kulturellen oder bildungsbedingten Verhaltens- bzw. Werteanforderungen gesehen werden. Sie seien in den praktischen Kausalitätsfaktoren dieser sozialen Lage selbst zu suchen.

Kramer ging von einer Situation aus, in der das Ende der Hegemonie des Neoliberalismus einer Linken gegenübersteht, die relativ konzeptionslos ist. Begriffe wie Reform, Gerechtigkeit, Arbeit, Armut etc. seien neu zu besetzen. Die sozialen Systeme wären in das kulturelle und nicht in das wirtschaftliche Wertesystem einzubetten. In der Vormoderne seien Armut und Reichtum kulturell definiert gewesen und hätten mit den Bettlern, Mönchen u.a. Gruppen sozial anerkannte Stände und deren Versorgungen hervorgebracht. Man müsse sehen, welche Formen es heute gäbe.
Es sei zu erkunden, was ein „anständiges Leben“ sei und warum dieses als „gutes Leben“ anerkannt werde von denen, die es leben. Ein humanistischer Sozialwert wäre ähnlich dem Marx’schen Begriff der „disponiblen Zeit“ als Lebensqualität zu definieren. Zu klären seien dabei solche „anständigen“ Alternativen wie bedingtes oder bedingungsloses Grundeinkommen, Leben ohne Arbeit, periodische Auszeiten vom Arbeitsprozess etc.

Beide Referate, die auf die realen Prozesse außerhalb der lohnabhängigen Arbeit Bezug nahmen, wurden in der Diskussion durch einige Teilnehmer kritisiert, da Erwerbsarbeit nach deren Meinung nach wie vor die einzige existenz- und lebensqualitätssichernde Form der menschlichen Tätigkeit bleiben wird. „Vollbeschäftigung“ müsse als Forderung bleiben.

Humanistisches Sozialwort

Nach der wohlverdienten Mittagspause wurden die Theoretiker durch die Akteure der Praxis abgelöst. Dr. Viola Schubert-Lehnhart behandelte die Problematik der humanistischen Werte im Bereich der Gesundheits- und Genderpolitik. Sie verwies auf die eindeutigen Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit sowie die manipulierenden religiösen Interpretationen der Krankheitsursachen.
Gesundheit sei keine Ware, sondern ein Menschenrecht, und jegliche kommerzielle Privatisierung sei in diesem Bereich abzulehnen. Gesundheit und soziale Lage wären gesellschaftlich zu bestimmen und somit eine Aufgabe aller Politikbereiche.

Andrea Käthner skizzierte anschließend einige der vielen praktischen sozialen Tätigkeitsfelder des Humanistischen Verbandes Deutschlands in Berlin und die dabei gemachten Erfahrungen mit den Erscheinungen der zunehmenden Armut. Der HVD werde nicht – wie die Kirchen – in die Wohltätigkeit abdriften, sondern realistische sozialpolitische Lösungen für die wirklichen Ursachen der Armut anbieten. Anschließend stellte sie eine Liste „kleiner“ Forderungen auf, die unmittelbar „große“ Wirkung zeigen würden. Kompetenzentwicklung, Partizipation, Integration, Gemeinsinn und Temperament wären dabei tragende Prinzipien.

In der Diskussion bildete das Thema der komplexen sozialen Betreuung im Rahmen so genannter „Sozialräume“ einen wichtigen Gegenstand. Erste praktische Beispiele einer solchen Herangehensweise wurden für die Berliner Stadtbezirke Marzahn/Hohenschönhausen und Lichtenberg sowie aus der Praxis des HVD erläutert und aus Perspektive der Verwaltung sowie der „Volkssolidarität“ ergänzt. Als generelles Problem stellte sich schließlich die Finanzierungsfrage. Ohne eine radikale Änderung der heutigen staatlichen Haushaltsstrukturen, ohne Steuerreform, die zu mehr Einnahmen führen, wäre kaum eine grundlegende Änderung der katastrophalen Situation machbar.

Humanismus und politische Gesellschaftsmodelle

Das abschließende Diskussionspodium bestritten Christian Brütt und Prof. Dr. Christa Luft.
Brütt präsentierte Ergebnisse der aktuellen soziologischen Forschung zum Problem des Kampfes gegen Armut und Ausgrenzung. Er entwarf eine Reihe von Verhaltensmodellen, die es den Betroffen ermöglichen, „Nein“ zu sagen. Wichtig sei die Autonomie des Subjektes im Kampf gegen die Abhängigkeitsmodelle der neoliberalen Sozialstrukturen. Wie und wo dies konkret zu geschehen habe, wäre eine Denkaufgabe des Humanismus.

Frau Luft entwickelte ein beeindruckendes Bild der heutigen sozialen Ungerechtigkeit und skizzierte die Herausforderungen der Linken. Aus dem in der Diskussion befindlichen Programm der Partei „Die Linke“ erläuterte sie eine Reihe erster praktikabler Lösungsvorschläge.

Zum Abschluss der Veranstaltung verwies Prof. Wolf darauf, dass die Diskussion nur einen ersten Schritt zur Lösung des Problems des Verhältnisses Humanismus – Armut sein konnte. Weitere Initiativen seien dringend nötig. Die Teilnehmer der Tagung seien herzlich eingeladen, sich an der Erstellung eines „Humanistischen Sozialwortes“ zu beteiligen.

Rudy Mondelaers

Die Materialien der Tagung erscheinen voraussichtlich im Sommer oder Frühherbst 2008 als Band 1 der „Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland“ im alibri-Verlag Aschaffenburg. Der Druck dieser Ausgabe wird gefördert durch die Humanismus-Stiftung Berlin.