Zwanzig Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü

Gewalt im Namen der Ehre

1920px-hatun_surucu-memorial_stone-10th_anniverary_2015-01.jpeg

Gedenkstein für die ermordete Hatun Sürücü, Berlin, Ecke Oberlandstrasse / Oberlandgarten.
Gedenkstein für die ermordete Hatun Sürücü

Vor zwanzig Jahren wurde Hatun Sürücü von ihrem Bruder mit drei Kopfschüssen grausam ermordet – weil sie ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wollte. Noch immer gehört religiös motivierte Gewalt gegen Frauen und Andersdenkende zum Alltag in Deutschland. Eine Gewalt, die oft tödlich endet.

Zum traurigen Jahrestag lud die Organisation Terre des Femmes, die sich seit Jahren für Frauenrechte einsetzt, am vergangenen Donnerstag zu einer Online-Podiumsdiskussion mit dem Titel "Nicht nur eine Frau – Gewalt im Namen der Ehre: Verstehen – vorbeugen – verhindern" ein. Moderiert von Katie Gallus diskutierten Sandra Maischberger, Matthias Deiß, Jan Ilhan Kizilhan, Myria Böhmecke sowie die Influencerin Anna, die aus Angst vor Repressalien anonym bleiben wollte. Die Veranstaltung fand mit über 400 Teilnehmenden große Resonanz.

Ein Blick zurück auf das Schicksal von Hatun Sürücü: Sie wurde in Berlin geboren, mit 16 Jahren auf Druck der Familie mit einem Cousin in der Türkei zwangsverheiratet, sie wurde von ihm schwanger, floh vor seiner strenggläubigen Familie zurück nach Deutschland, wo sie das Kopftuch ablegte und Zuflucht in einem Wohnheim für minderjährige Mütter fand. Hatun Sürücü war eine junge, selbstbewusste Frau, die ihre Selbstbestimmtheit und ihren Emanzipationsprozess mit dem Leben bezahlte – ermordet im Februar 2005.

Das Bundeskriminalamt definiert solche Taten klar: "Ehrenmorde sind vorsätzlich begangene versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen. Die Verletzung der Ehre erfolgt in jedem Fall durch einen wahrgenommenen Verstoß einer Frau gegen Verhaltensnormen, die auf die weibliche Sexualität im weitesten Sinne bezogen sind."

Screenshot: Terre des Femmes
Die Teilnehmer der Online-Veranstaltung, Screenshot: Terre des Femmes

Doch Ehrenmorde sind nur die Spitze eines frauenverachtenden Systems, das auf patriarchalen Strukturen und religiösen Moralvorstellungen basiert. Es beginnt mit Unterdrückung – Hatun wurde in der achten Klasse von ihrem Vater vom Gymnasium abgemeldet – und führt häufig zu Zwangsehen. Die Moderatorin Sandra Maischberger, die den Film "Nur eine Frau" über Hatuns Schicksal produziert hatte, erzählte von den emotionalen Reaktionen der Zuschauerinnen bei den öffentlichen Vorführungen. Die Dunkelziffer bei Zwangsehen und Ehrenmorden ist hoch: 2022 und 2023 wurden in Deutschland mindestens 25 Menschen im Namen einer vermeintlichen "Familienehre" ermordet.

Matthias Deiß, der stellvertretende Leiter des ARD-Hauptstadtstudios und Autor des Buchs "Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal" berichtete von seinem Interview mit Hatuns Bruder im Gefängnis. Er traf auf "ein bis ins Letzte festbetoniertes Wertesystem, das unser demokratisches Werteverständnis ablehnt". Theologisch gestützt durch die Ratschläge von Imamen, versuchte der Mörder seine Tat mit Bezug auf den Koran zu rechtfertigen "Unzucht ist im Islam eine Straftat!" Er zeigte keine Empathie, kein Mitleid und keine Reue. Nach seiner Freilassung wurde er in die Türkei abgeschoben, wo er seine Schwester umgehend postum beleidigte. Deiß warnte vor der fatalen Signalwirkung solcher Taten, die Frauen entmutigt. "Niemand traut sich mehr diesen Weg zu gehen."

Psychologieprofessor Jan Ilhan Kizilhan, Autor des Buches "Gewalt im Namen der Ehre", betonte die zentrale Rolle der Präventionsarbeit, die bereits im Kindergarten beginnen müsse. Er forderte eine bessere Vernetzung von Schulen, Jugendämtern und Frauenhäusern sowie die Ausbildung von Männern als Multiplikatoren, um Einfluss auf die Community zu gewinnen, den Ehrbegriff zu hinterfragen und zu entmachten. "Soziale Kontrolle durch die Community ist die größte Gefahr", sagte er.

Diese Einschätzung teilte auch die Influencerin Anna, die von ihrem Vater körperlich misshandelt wurde. Mit 16 Jahren trennte sie sich von ihrer Familie und fand gemeinsam mit ihren jüngeren Schwestern Zuflucht in einer Jugendeinrichtung. Rückblickend beklagte Anna den Mangel an Vorbildern für junge Frauen und die fehlende Unterstützung durch Behörden. Besonders wichtig seien für sie die Sozialarbeiter in der Schule gewesen. Heute versucht sie, über Plattformen wie TikTok unter dem Namen Desianna anderen Betroffenen Mut zu machen, sich von repressiven Familienstrukturen zu lösen.

Myria Böhmecke, die Leiterin des Referats "Gewalt im Namen der Ehre" von Terre des Femmes, berichtete von ihrer Präventionsarbeit in Schulen, unter anderem durch Theaterstücke. Ihrer Meinung nach sei ein Umdenken nur durch Aufklärung über rechtliche Möglichkeiten und durch Stärkung des Selbstbewusstseins betroffener Mädchen möglich. "Man muss Warnsignale frühzeitig erkennen und niederschwellige Perspektiven aufzeigen", erklärte sie. Hilfreich seien Stadtteilprojekte für Mütter und Angebote über Soziale Medien. Besonders wichtig sei zudem die "Weiße Woche", ein Projekt vor den Sommerferien, bei der die Polizei gezielt über das Risiko von Verschleppung und Zwangsverheiratung im vermeintlichen "Urlaub" aufklärt.

Am Ende waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig: Es muss mehr Druck auf islamische Verbände ausgeübt werden, damit sich diese klar zu den demokratischen Prinzipien bekennen. Die Zivilgesellschaft darf nicht wegsehen. Oder wie es Matthias Deiß formuliert: "Hatun Sürücü war Deutsche – der Mörder, ihr Bruder, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihr Schicksal ist ein deutsches Schicksal, geht uns alle an und steht exemplarisch für das Leiden von vielen Mädchen und Frauen."„"

Ergänzung (05.02.2025, 16 Uhr): Mittlerweile kann man die virtuelle Diskussion auf YouTube ansehen.

Unterstützen Sie uns bei Steady!