(hpd) Antisemitismus findet man nicht nur bei den autochthonen Bürgern des Landes, Judenfeindschaft gibt es auch unter Menschen mit Migrationshintergrund, was die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes veranschaulichen wollen. Manche Beiträge enthalten beachtenswerte Einschätzungen und Informationen, andere Texte ergehen sich leider in mitunter nebligen und unklaren Reflexionen zum jeweiligen Thema.
Antisemitismus findet sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur bei Ewiggestrigen und Rechtsextremisten. Die unterschiedlichsten Erhebungen der empirischen Sozialforschung machen regelmäßig darauf aufmerksam, dass einschlägige Ressentiments und Stereotype in nicht unbeträchtlichen Teilen der Bevölkerung präsent sind. Dies gilt nicht nur für die autochthonen Bürger, sondern auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Anders formuliert: Es gibt auch einen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Diese Erkenntnis wird gleichwohl politisch instrumentalisiert: Während die eine Seite in Gestalt von Repräsentanten der migrantischen Interessenvertretungsorganisationen einschlägige Aussagen pauschal von sich weist, sieht eine andere Seite aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft Judenfeindschaft dann nur noch unter Muslimen. Angesichts der damit einhergehenden polarisierten Sicht ist ein analytisch differenzierter und empirisch gesicherter Blick auf das Thema um der Versachlichung willen mehr als nur notwendig.
Einen Beitrag dazu leisten wollen die Autoren des Sammelbandes „Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit“, der von den Politikwissenschaftlern Richard Gebhardt, Anne Klein und Marcus Meier herausgegeben wurde. Ihnen geht es dabei um eine Multiperspektivität, die eben nicht nur wie in der öffentlichen Debatte einschlägige Auffassungen und Handlungen von muslimischen Jugendlichen in den Blick nimmt. Vielmehr gehe es in den Beiträgen des Sammelbandes um eine Kontextualisierung von interkultureller Konstellation und moderner Judenfeindschaft.
Nach der Einführung durch die Herausgeber behandelt Albert Scherr Aufgabenstellungen, Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft, Juliane Wetzel den Forschungsstand zum Thema in Verbindung mit der medialen Zuschreibung und Astrid Messerschmidt die Bildungsarbeit im Kontext von sekundärem Antisemitismus und antimuslimischen Tendenzen.
Danach behandelt Jochen Müller den Antisemitismus bei der Rezeption des Nahostkonflikts, Christian Brühl erläutert anhand der Reaktionen gegen einen jüdischen Lebensmittelladen den aktuellen Antisemitismus, Mehmet Can skizziert eine Unterrichtseinheit zum Antisemitismus im Kontext von Ökonomiekritik, Marcus Meier warnt vor Fallstricken in der Antisemitismusbekämpfung bei der Rede von der „christlich-jüdischen Tradition“, Richard Gebhardt und Maike Weißpflug gehen den ideologischen Hintergründen antisemitischer Israelkritik nach, Heike Radvan beschäftigt sich mit antisemitischen Konstruktionen heutiger Jugendpädagogen, und Doerte Letzmann erörtert das Verständnis von Judenfeindschaft in Großbritannien.
Und schließlich findet man noch Beiträge von Barbara Schäuble über Formen politischer Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, von Heiko Klare u.a. zu anti-antisemitischen Inszenierungsformen von europäischen Rechtspopulisten und von Anne Klein zu einem machtkritischen Blick auf die Entwicklung des Antisemitismus.
Da es sich um Beiträge von unterschiedlichen Autoren mit verschiedenen Perspektiven handelt, können sie in der Gesamtschau nur schlecht eingeschätzt werden. Gleichwohl ist man nach der Lektüre nur eingeschränkt besser zum Thema informiert als zuvor. Dies liegt zum einen an den von Wetzel hervorgehobenen Forschungslücken, zum anderen aber auch an der mitunter diffusen Fragestellung und mangelnden Systematisierung einiger Beiträge.
Doch eher allgemeine Bemerkungen zum Phänomen gehen einher mit ebenso allgemeinen Reflexionen zur Bildungsarbeit. Davon heben sich andere Texte wiederum positiv ab: Dies gilt etwa für Müller, der die Funktionen des Antisemitismus gut herausarbeitet (vgl. S. 65f.) oder für Schäuble, die einen Fragekatalog für die Bildungsarbeit präsentiert (vgl. S. 187f.). Beachtung verdient auch die Abhandlung, welche der „plötzlichen“ anti-antisemitischen Ausrichtung vieler europäischer Rechtsaußenparteien nachgeht. Eine Fallstudie zu Frankreich und nicht nur zu Großbritannien hätte dem Band gut getan.
Armin Pfahl-Traughber
Richard Gebhardt/Anne Klein/Marcus Meier (Hrsg.), Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit, Weinheim 2012 (Beltz Juventa-Verlag), 231 S., 29,95 €.