Die soziale Kirche
Eine weitere Wortmeldung aus den Reihen der Polizisten weist uns darauf hin, dass die Kinder von Hartz-4-Empfängern viel zu arm sind. Die Frage läuft darauf hinaus, was die Kirche dagegen tut. Der Bischof macht darauf aufmerksam, dass der Kindergartenbereich (860 Kindergärten in kirchlicher Hand im Bistum Würzburg) von der Kirche erheblich finanziell und ideell gestützt werde. Tatsächlich sieht es so aus, dass die Kirche in Bayern lachhafte 5% der Kindergärten finanziert, den Rest übernehmen Staat und Land (je 40%), sowie die Eltern (15%). Jedenfalls war dies laut bfg München 1995 so. Meines Wissens hat sich daran nichts geändert.
Ein weiterer Polizist macht noch darauf aufmerksam, dass es vor allem Christen seien, die sich sozial bei der Essensausgabe für arme Menschen engagierten. Lautes Gemurmel ist die Folge dieser Bemerkung. Ich weiß nicht, warum. Entweder sie halten diese Aussage für zweifelhaft und es ist uns gelungen, das Bewusstsein für solche Bemerkungen zu erhöhen, oder sie haben nur Angst vor meiner Reaktion.
Zu einer solchen komme ich allerdings nicht mehr, denn ein örtlicher Pfarrer richtet sich in der letzten Wortmeldung an mich und weist auf folgendes hin: „Zwischen dem Alten Testament und Kant liegen ein paar tausend Jahre.“ Ich antworte: „Ja...“, da diese reine Tatsachenfeststellung kaum strittig sein dürfte. Unter realpolitischen Bedingungen änderten sich moralische Bewertungen, stellt der Herr Pfarrer weiter fest, so hätte die Bevölkerung zur Nazi-Zeit einen Attentäter gemeinhin verurteilt, der es gewagt hätte, Hitler zu töten. Nach 1945 hätte es für ihn Loblieder gegeben. „Ja, ich stimme Ihnen zu“, sage ich. „Ich weiß nicht, warum Sie das an mich wenden, aber ich stimme Ihnen zu: Werte ändern sich, genau der Punkt!“ Beim Vortrag des Bischofs ging es ja eben darum, dass sich Werte nicht ändern sollen. Keine Ahnung, was der Herr Pfarrer nun eigentlich damit aussagen wollte.
Ich habe fertig
„Ich bin außerordentlich begeistert über den Verlauf der heutigen Veranstaltung“, lässt uns Thomas Lehmann wissen, immernoch so gut gelaunt wie zu Anfang des Vortrags. Er habe schon vier Oerlenbacher Gespräche mitgemacht, „aber ich habe bislang keine derart – auch durchaus emotionale, aber da freue ich mich drüber – Diskussion erleben dürfen.“ Tja, endlich mal was los in diesem verschlafenen Nest, nicht wahr? „Sie [Bischof Friedhelm Hofmann] haben deutlich gemacht: Die Grundlagen unseres Staates, unserer Gesellschaft, beruhen auf der gottesebenbildlichen Menschenwürde und den Menschenrechten.“ Für alle, die es noch nicht kapiert haben, fügt er hinzu: „90% der 88 freien Demokratien sind mehrheitlich christlich.“ Da kann ich glatt einpacken mit meinem Schweden (sieht man sich an, was die Menschen tatsächlich glauben, ist diese 90%-Aussage natürlich falsch).
Das ist es also, was Polizisten in der Ausbildung in Deutschland beigebracht wird. Halleluja!
Nun verlassen alle den Saal. Zwei Damen weisen mich beim Hinausgehen darauf hin, dass sie meine Einwände „genau richtig“ finden, mindestens eine davon aus den Reihen der Polizei, und eine weitere, vermutlich der Oerlenbacher Gemeinde zugehörig, sagt, dass sie es für „unglaublich“ halte, dass wir direkt im Anschluss an ein Gespräch über die Menschenwürde – zwei junge Menschen, die ein paar Fragen haben – so behandelt werden. Nun, mich wundert es nicht, sondern es bestätigt alles, was ich über das Christentum im Speziellen und Religion im Allgemeinen ohnehin schon gedacht habe. Außerdem erfahren wir noch, dass die Veranstaltung für Polizisten freiwillig gewesen sei. Da frage ich mich, warum sie dann von Leuten besucht wurde, die meiner Meinung sind. Es wird schon eine Motivation sein, wenn der Chefausbilder die Gespräche mitorganisiert.
Draußen höre ich noch ein paar Polizisten darüber reden, wie unverschämt die Art und Weise gewesen sei, mit der ich meine an sich nicht ganz unberechtigten Einwände vorgebracht hätte. Darüber kann ja nun jeder selbst befinden, wer hier unverschämt war.
Bevor uns noch jemand verhaftet – und diese Befürchtung von mir war die einzige, die sich nicht bewahrheitet hat – machen wir uns lieber auf den Weg zurück in die große Stadt, zurück zur Zivilisation und weg von solchen Leuten, welche die freie Gesellschaft für einen Witz halten und meinen, dass Christen die Moral mit Löffeln gefressen hätten, während sie sich genau gegenteilig verhalten. Auf dem Rückweg schieben sich die grauen Wolken solidarisch beiseite und machen den Weg frei für ein paar Sonnenstrahlen. Wenigstens die Götter sind uns gewogen, wenn schon nicht ihre Anhänger.
Andreas Müller