Oerlenbacher Gespräche

Freie Rede?

Christliche Heuchelei

 

Ich melde mich wieder zu Wort, weil mir die Stalin-und-Hitler-Sache auf den Nägeln brennt, schließlich hat niemand im Raum diesem unfassbaren Argument (Atheismus führe zu totalitären Regimen, Holocaust, etc.) etwas entgegengesetzt.

„Also, ich werde Ihnen mal so einiges jetzt ersparen“, stelle ich einleitend fest, „aber eine Sache hätte ich noch. [...] Es ist durchaus der Fall, dass Stalin Atheist war, es ist durchaus der Fall, dass Mao Zedong Atheist war, aber das ist doch nicht der Grund, warum er seine Völkermorde begangen hat! Ich meine, ich bin auch Atheist, aber ich komme doch nicht auf die Idee: Wow, ich muss jetzt ganz viele Menschen umbringen, weil ich Atheist bin! Man kommt doch nicht von dem Nichtglauben an Gott, von dem Nichtglauben an übernatürliche Wesen, dann sofort auf die Idee: Wow, jetzt muss ich aber hier in den Straßen kopulieren! Das ist doch keine Logik! Und ich meine: Stalin und Hitler, die hatten auch beide Schnurrbärte, aber es würde doch keiner sagen: Weil sie beide Schnurrbärte hatten, deshalb sind jetzt alle Menschen, die Schnurrbärte haben, völlig unmoralisch! Das ist einfach nicht der Grund.“

Und wo ich schon einmal das Wort habe: „Und nehmen wir Schweden: Die haben 80% Atheisten. Eines der sozialsten Länder, eines der Länder, wo die Einkommensunterschiede am geringsten sind. Schweden ist eigentlich fast in jeder Kategorie ganz weit oben und 80% Atheisten. Wie kommt denn das?“

Antwort des Bischofs: „Weil sie auf christlichen Werten basieren.“ Weiter führt er aus, dass sich Einzelne (80% der Schweden?) auch ohne Gottesglauben ethisch verhalten könnten. Mir hat diese geistige Verrenkung einfach die Sprache verschlagen. Aber wissen Sie, warum mir der Vatikan so gut gefällt: Weil er auf säkular-humanistischen Werten basiert! Selbe Argumentation (mit dem Unterschied, dass mir der Vatikan natürlich gar nicht gefällt).

Christliche Nächstenliebe

Nach meiner Wortmeldung setzt ein großes Gemurmel und eine ziemliche Unruhe ein. Ich hätte wohl nicht darauf hinweisen sollen, dass Atheisten keine unmoralischen Monster sind. Es folgt eine Stellungnahme aus der rechten, oberen Ecke des Raumes, wo nicht die Polizisten, sondern die Oerlenbacher Gemeindemitglieder sitzen (so weit ich das sehen kann). Diese Wortmeldung wird eine sehr bedrohliche Stimmung auslösen.

„Ja, ich will einmal was sagen: Ich glaub, ich hab ne falsche Veranstaltung.“ Allgemeines Gelächter. „Das Thema heißt: Die Bedeutung der christlichen Werte für Staat und Gesellschaft. Und aus dem Publikum kommt das Lob des Atheismus, die reine Vernunft, da kommt etwas über andere Religionen.“ An dieser Stelle rufe ich „Freie Rede!“ hinein. Das gefällt den Anwesenden offenbar gar nicht und das Gemurmel wird lauter. „Ich möchte etwas mitnehmen, etwas Positives“, sagt der Mann weiter. „und nicht die ganze Kotzerei über die Kirche...“ Lautes, zustimmendes Klatschen erschallt aus der Oerlenbacher Ecke.

„Meinungsfreiheit!“, rufe ich hinein. Ein Widerspruch von einer anwesenden Dame erschallt: „Aber auf einer christlichen Veranstaltung...“, was mich zu dem Ausspruch nötigt: „Keine Diktatur! Meinungfreiheit! Schluss!“ Schon interessant: Gerade haben wir von den bösen, atheistischen Diktaturen geredet und nun muss ich bei den Christen ein elementares Grundrecht verteidigen. Ins protestierende Gemurmel rufe ich noch „Nein, wirklich: Freie Gesellschaft!“ Hierauf folgt allgemeines Gelächter. „Auch eine Grundlage unserer Verfassung“, betont Thomas Lehmann in Hinblick auf das Recht, eine abweichende Meinung zu vertreten, und das Gelächter ebbt ab. Offenbar sind die zahlreichen Lachenden der Meinung, dass die Sache mit der freien Gesellschaft nur ein Witz gewesen sein kann. Andere Religionen und Vernunft sind ja schon absurd genug, aber eine freie Gesellschaft trifft man allenfalls im Zirkus an.

Gewiss: Meinungfreiheit auf einer christlichen Veranstaltung ist auch für mich ein unvorstellbarer Gedanke. Allerdings handelt es sich eben nicht um eine christliche Veranstaltung, sondern um eine öffentliche Veranstaltung mit Diskussion, die in den Jahren zuvor keine Verbindung mit dem Christentum hatte (man lud etwa Roman Herzog, Günther Beckstein und Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier ein) und die stets im Zusammenhang mit der Polizeiausbildung stand. So schnell können sich die Dinge ändern.

Das Christentum ist wie ein Schwamm. Es saugt alles in sich auf, seien es die Werte der Aufklärung oder die Oerlenbacher Gespräche. Die Struktur des Schwamms bleibt dabei allerdings unverändert.