Kommentar

"VeganerInnen sind alle mangelernährte, radikale, lebensfremde Hippies!"

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Salat
Salat

BERLIN. (hpd) In Frankreich sorgt aktuell eine Werbung des Konzerns "Aoste" für Aufregung: Nachdem sie einen Werbespot veröffentlichte, in der vegetarische und vegane Menschen als radikale Hippies dargestellt werden, brach ein Shitstorm über die Firma ein.

In der 30-sekündigen Werbung zeigt Aoste eine vegan lebende Familie: Eltern, Teenager-Sohn und kleine Tochter. Sie sitzen in einer sehr alternativ eingerichteten Küche am Mittagstisch und tragen Hippie-Kleider. Die Szene beginnt damit, dass der Vater sich schockiert entrüstet, dass der Sohn offenbar nicht mehr Vegetarier sein will. Dieser erwidert: "Ich habe es satt immer das gleiche zu essen: Salat, Sellerie, Sellerie, Salat." 

 

 

Vor ihm steht ein Teller auf dem nichts als ein paar grüne Salatblätter sind. "Aber es gibt doch Tofu!" sagt der Vater. "Und Soja!" sagt die Mutter. "Aber niemand hat mich je gefragt, ob ich Vegetarier sein möchte", erwidert der Sohn. Daraufhin reagieren die Eltern sprachlos. Der Junge fährt fort: "Kommt schon! Nur ein einziges Mal!" Der Vater gibt nach: "Aber nur ein einziges Mal!" Die nächste Szene ist weitaus harmonischer. Mit einem Lächeln im Gesicht betritt die Familie die Fleischabteilung eines Supermarkts. Im Hintergrund spielt fröhliche Musik. Der Sohn greift ins Regal, als die Mutter ihn stoppt. "Wenn du es wirklich willst, dann tu es. Aber tu es richtig!" Und sie drückt ihm Schinken der Firma Aoste in die Hand. In der nächsten Szene sieht man den Sohn sich genüsslich eine Stück Schinken in den Mund schieben. Als er es kaut, kullert ihm eine Freudenträne die Wange runter. Eine Off-Stimme sagt: "Die Produkte von Aoste sind einfach unwiderstehlich!"

Was haben wir da eigentlich gerade genau gesehen?

Karnismus und seine Abwehrmechanismen

Karnismus ist ein Überzeugungssystem (oder eine Ideologie im neutral gemeinten Sinn), das uns beibringt, bestimmte Tierarten zu essen und andere nicht. Das Konzept wurde von Dr. Melanie Joy, Sozialpsychologin und Harvard-Absolventin, entwickelt.

Karnismus ist einerseits eine dominierende Ideologie (ein fest verwurzeltes gesellschaftliches System, das unsere Gedanken, Verhaltensweisen, Gesetze, Normen u.s.w. formt) und andererseits eine gewaltvolle Ideologie (Fleisch kann nicht ohne das Töten von Tieren hergestellt werden). Und da psychologische Studien ergeben haben, dass... 

  1. Menschen nicht wollen, dass Tiere leiden oder ohne Notwendigkeit getötet werden,
  2. Menschen im natürlichen Zustand Mitgefühl mit Tieren haben, und 
  3. Menschen nach einem positiven Selbstbild streben (zu dem auch ethisch richtiges Handeln zählt), 

benötigt Karnismus - genau so wie andere dominierende und gewaltvolle Ideologien (Rassismus, Sexismus, Homophobie, ...) - gewisse soziale und psychologische Abwehrmechanismen, um dafür zu sorgen, dass Menschen trotzdem weiterhin Tiere töten und essen, obwohl dieses Verhalten im Widerspruch zum oben genannten Mitgefühl und ethischem Handeln steht. Diese Mechanismen sind also wichtig um unser Mitgefühl zu betäuben. Wir erlernen sie automatisch durch die Kultur, in der wir aufwachsen. Karnismus bringt uns also bei, kein Mitgefühl mehr mit den Tieren zu empfinden, die wir gelernt haben, als essbar einzustufen - und das ohne dass wir es merken. Es ist ein unsichtbarer sozialpsychologischer Prozess. So bleibt Karnismus am Leben, obwohl er gegen unsere Grundwerte verstößt. Er macht also nicht nur aus Tieren Opfern, sondern auch aus uns Menschen.

Die wissenschaftliche Forschungen von Dr. Melanie Joy haben ergeben, dass diese Abwehrmechanismen in zwei Kategorien eingeteilt werden können: Die primären und die sekundären Abwehrmechanismen.

Die primären Abwehrmechanismen: Karnismus validieren

Die primären Abwehrmechanismen sind dazu da, Karnismus zu validieren. Es ist in erster Hinsicht die Unsichtbarkeit der Opfer. In der EU werden jedes Jahr 7,5 Milliarden (!) Tiere getötet (Fische und andere Meerestiere nicht mitgerechnet). Obwohl hier also um ein Vielfaches mehr Nutztiere leben als Menschen, sehen die meisten von uns diese Tiere fast niemals lebendig. Doch Unsichtbarkeit allein reicht nicht aus, besonders dann nicht, wenn wieder eine Dokumentation aus der Massentierhaltung veröffentlicht wird. Deswegen gibt es zweitens die Rechtfertigung. Wir lernen das Essen von Tieren zu rechtfertigen. Die PsychologInnen nennen dies "die 3 Ns der Rechtfertigung": Tiere essen sei Normal, Natürlich, Notwendig. (Interessanterweise stellten die PsychologInnen fest, dass die gleichen Methoden benutzt wurden, um andere dominierende und gewaltvolle Ideologien zu rechtfertigen: "Sklaverei ist normal, natürlich, notwendig." - "Männliche Dominanz ist normal, natürlich, notwendig." - "Heterosexuelle Privilegierung ist normal, natürlich, notwendig.") Diese Rechtfertigung äußert sich in einer Reihe von Mythen, zum Beispiel dem, dass Fleisch unabdingbar für die Proteinzufuhr sei. Oder dem Mythos des artgerecht produzierten Fleischs. Und schließlich ist der dritte und letzte primäre Abwehrmechanismus die Wahrnehmungsverzerrung. Zum Beispiel lernen wir, Nutztiere als Objekte, als Lebensmittel, statt als Lebewesen zu betrachten. Oder wir teilen sie in die Kategorien "essbar" und "nicht essbar" ein.

Die sekundären Abwehrmechanismen: Veganismus invalidieren

Aber wenn die primären Abwehrmechanismen schwächer werden, müssen die sekundären Abwehrmechanismen aktiviert oder gestärkt werden. Es ist das, was wir hier in dieser Werbung sehen. Die sekundären Abwehrmechanismen werden nicht dafür benutzt, um Karnismus zu validieren, sondern um Veganismus zu invalidieren. Eine Möglichkeit, dies zu tun, wird in dieser Werbung deutlich: Vegetarisch und vegan lebende Menschen werden als radikale Hippies stigmatisiert; als Menschen, die nichts als langweiligen Salat, Sellerie und Tofu essen können; als schreckliche Eltern, die ihre Kinder zwingen vegan zu leben und somit vermeintlich ihre Gesundheit gefährden würden. Und die Kinder selbst leiden darunter. Sie führen ein tristes, freudloses Leben. Allein das Beißen in ein Stück Fleisch lösen deswegen schon Tränen der Freude aus. Denn heimlich würden sich alle vegetarisch und vegan lebende Menschen danach sehnen. Die Message dahinter lautet: "Veganismus ist keine Option, also müssen wir beim Essen von Tieren bleiben."

Aber es ist trotz allem ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass Karnismus sich mittlerweile stark bedroht fühlt. Sonst müssten nicht die sekundären Abwehrmechanismen bereits so offensiv eingesetzt werden. Es beweist, dass die vegane Bewegung immer stärker wird und wir bereits viele Erfolge haben. Im Grunde wäre es also viel schlimmer, wenn es diese Art von Werbung noch nicht geben würde.