Oerlenbacher Gespräche

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Heuchler-Fisch

„Die Bedeutung der christlichen Werte für Staat und Gesellschaft“. So lautete der Titel eines Vortrags vom Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann, den er im Pfarrsaal der kleinen Gemeinde Oerlenbach hielt. Organisiert werden die jährlich stattfindenden „Oerlenbacher Gespräche“ vom ortsansässigen Bundespolizeiaus- und fortbildungszentrum und von der Gemeinde selbst. In den vergangenen Jahren hatte die Veranstaltung nichts mit den Kirchen zu tun. Das sollte dieses Jahr anders sein.

Ein Bericht von Andreas Müller

 

26. Mai 2009, 18:50 Uhr. Je näher wir (Peter Janotta, der Vorsitzende des Brights-Fördervereins, und ich) der kleinen Gemeinde Oerlenbach kommen, desto heftiger wird der Regen und desto grauer der Himmel. Wegen der schlechten Beschilderung finden wir nicht gleich den Weg und irren eine Weile lang im Landkreis Bad Kissingen herum. Als wir die verschlungenen Pfade in der Region durchqueren, drängt sich mir immer mehr die Frage auf, ob wir uns noch im sicheren Schoße der Zivilisation befinden?

Etwa gegen 19:00 Uhr passieren wir das Ortsschild und finden schnell einen Parkplatz am Rande des großen Polizeiausbildungszentrums. Ein Blick auf das Stadtbild verrät uns, dass hier zwei Kirchen um die Gunst der Gläubigen bangen. Auf der Karte ist außerdem noch eine Kapelle verzeichnet (in der „Kapellenstraße“), für den Fall, dass jemand eine Sünde begeht, die er sofort beichten muss und die es nicht erlaubt, drei Schritte nach links oder rechts zur nächsten Kirche zu gehen.

Um den richtigen Pfarrsaal zu finden, orientieren wir uns am Polizeibus, der den Großteil der Zuhörer, bayerische Polizisten in der Ausbildung, zu ihrem Bischof gebracht hat. Typisch für Dörfer werden wir am Eingang freundlich begrüßt und im Gebäude dann auch von jedem, dem wir zufällig über den Weg laufen. Die Sache mit der kommunalen Freundlichkeit sollte sich allerdings bald ändern.

Auftritt des Bischofs

Auf dem Podium im Pfarrsaal sitzt neben Bischof und Bürgermeister auch Thomas Lehmann, der Leiter des Polizeiausbildungszentrums. Er ist überaus gut gelaunt und begrüßt uns mit einem „Peace“-Zeichen. Er wird auch für den Rest der Veranstaltung glücklich und zufrieden auf die Versammelten herabblicken.

Im Pfarrsaal treffen wir auf ein Fernsehteam von „TV touring“, dem Würzburger Regionalsender, der aber bald wieder abzieht. Da alle Stühle besetzt sind, bleiben wir am Eingang stehen. Der Bischof geht ans Mikrofon.

Werte kommen von Gott

Der Vortrag von Bischof Friedhelm Hofmann enthält viele Zitate, was ihm einen akademischen Anstrich gibt. Er beginnt mit einem Kommentar zur Wirtschaftskrise und zum Profitdenken bestimmter Unternehmer, die sich gerade in der Diskussion befinden und er kritisiert die Schlussfolgerung, dass man moralisch handeln solle, weil Unmoral der Profitabilität schade. Auch die Politik könne keine ethischen Grundlagen hervorbringen.

„Ethische Grundlagen, sprich der Wertekanon, werden dem Menschen vorgegeben und nicht von ihm selbst gemacht. Diese Prämisse wird heute von vielen Menschen nicht geteilt. Es herrscht allgemein die Vorstellung, dass der Mensch, zumindest mehrheitlich, darüber abstimmen müsste, was für ihn gut und richtig ist. Aber wie finde ich die allen verbindliche Basis, wenn sie selbst zur Disposition steht?“

Mit anderen Worten müssen wir uns nicht auf bestimmte Werte einigen, weil sie uns (von Gott) vorgegeben sind. Es folgt eine Geschichte des internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte in Den Haag und der theoretischen Begründung universeller Menschenrechte aus dem Naturrecht. Dieses Naturrecht genüge jedoch nicht. Im folgenden gehe es darum „um allgemeine Werte, die aus christlichem Glaubensverständnis erwachsen sind und Allgemeingültigkeit beanspruchen.“

Christliche Werte

"Wo wir schon von ignoranten Barbaren reden! Einige der verrückten Ideen dieser Religion gehen mir einfach nicht aus dem Kopf!" - "Halt, das ist unsere!"Bevor er zu diesen kommt, erwähnt Bischof Hofmann die klassischen Kardinaltugenden: „Klugheit, Tapferkeit, Maß halten und Gerechtigkeit“. Aus der christlichen Tradition komme der Bezug zur Gottesfurcht hinzu, so Hofmann weiter. Das stimmt wohl kaum (die Juden hatten allen Grund, ihren Gott zu fürchten, liest man einmal das Alte Testament), andererseits ist Gottesfurcht auch ein sehr zweifelhafter Wert, den er gerne behalten kann.

Diese Tugenden gälten heute als antiquiert, „weil sie der individuellen Lust- und Luxusmaximierung entgegenstehen“. Das heutige Konsumverhalten huldige „Materialismus und Hedonismus“ und stehe den christlichen Werten entgegen.

Grundlagen der christlichen Werte seien vor allem das Evangelium und die Zehn Gebote. Es folgt ein Zitat der Zehn Gebote aus dem Buch Exodus. Interessanterweise lässt Bischof Hofmann einige unschöne Passagen ausfallen, darunter „Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.“ Auch folgende Stelle hat es nicht in den Vortrag geschafft: „Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel.“ Vermutlich macht sich diese Stelle einfach nicht so gut im Kontext von Bischof Hofmanns folgender Behauptung, dass Mann und Frau im christlichen Verständnis gleichwertig seien. Frauen sollten dieser Logik zufolge ja besser nicht auf einer Ebene mit Sklaven und Eseln stehen.

Wie würde es nun ohne die Zehn Gebote aussehen? Kein wöchentlicher Feiertag, „Familien spielen keine Rolle mehr, der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert, das Recht liegt beim Stärkeren, Töten ist erlaubt, keiner ist seines Lebens mehr sicher, jeder nimmt sich das, was er will, sexuelle Ausbeutung, selbst Kindesmissbrauch und Vergewaltigung bleiben unbestraft.“ Und so weiter. Genau so muss es also gewesen sein, bevor Moses die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai entgegen nahm. Jede Gesellschaft, die vor diesem Ereignis existierte, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass etwas daran falsch sein könnte, wenn sich Menschen gegenseitig ermorden und vergewaltigen. Dass die Menschheit überhaupt so lange überlebt hat, ist ja schon mehr als ein Wunder.

Zu den Zehn Geboten komme die Menschenwürde, die sich aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ableite. Hieraus folge auch, dass Mann und Frau gleichwertig seien, was in vielen Äußerungen der Kirche ausgefächert werde. Der Herr Bischof hat wohl seine satirische Ader entdeckt. Mann und Frau sind zwar gleichwertig, aber Frauen dürfen keine Priesterinnen werden, weil Männer eben ein bisschen gleichwertiger sind?

Was ist es nun, was diese und ein ganzes Bündel weiterer Werte, die der Herr Bischof aufzählt und die in der katholischen Soziallehre vorkommen sollen (Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, etc.) bedroht? Ganz klar: Die „Vorstellung von vermeintlicher Wertefreiheit der Wissenschaft“. Heute versuche man, „die Werte aus Rationalität und Logik herzuleiten“. Wissenschaftliche Vernunft könne aber keine ethischen und sozialen Werte schaffen. „So sind die uns im jüdisch-christlichen Glauben [Anm.: Ist der für die Kirche schon identisch?] vorgegebenen und erprobten Werte Grundlagen, auf denen die Menschheit eine tragfähige, gemeinsame Zukunft gestalten kann.“

„Jenseits diktatorischer und auch demokratisch per Abstimmungen veränderbarer Rechtsgrundlagen ist hier ein Wertefundament der Verfügbarkeit des menschlichen Zugriffs entzogen und damit beständig.“ Alle Menschen auf diesem Planeten müssen demnach die christlichen Werte anerkennen, ohne sich auf diese zu einigen und über sie abzustimmen, was aber nicht diktatorisch sein soll.

Am Ende betont Bischof Hofmann noch, wie wichtig es ist, das ungeborene Leben zu schützen. Der Klimawandel sei ebenfalls eine Herausforderung. Ohne die christlichen Werte, schließlich, habe diese Gesellschaft keine Chance zu überleben.

Die unselige Trennung von Staat und Kirche

"Gott wollte keine Nation auf Basis säkularer Gesetze!" - "Halleluja!"Thomas Lehmann fragt den Herrn Bischof, wie sich Christen angesichts der Trennung von Staat und Kirche in der Politik ihren Überzeugungen entsprechend engagieren könnten. Den Glauben dürfe man nicht in die Kirchen einsperren, antwortet Bischof Hofmann. „Die Einzelnen müssen schon das, was sie als richtig erkennen, auch in ihrer politischen Überzeugung umsetzen.“ Dieses Thema wird die weitere Diskussion entscheidend mitbeherrschen. Trotz der Trennung von Staat und Kirche gibt es übrigens einen Staatsvertrag der beiden Großkirchen mit der Bundespolizei in Deutschland. Und insofern ist diese ganze Trennungsgeschichte sowieso überschätzt, nicht wahr? Trennung ist gar nicht vorgesehen in den christlichen Werten, sondern Treue.

Der Herr Bischof hat in seinem Vortrag immer wieder einmal betont, dass Christen in Deutschland in der Mehrheit sind. Dafür erhält er Widerspruch von einem der anwesenden Gemeindemitglieder. „Die Kirche ist gar nicht vom Staat fernzuhalten“, sagt er außerdem. „Wir sind nicht irgend so ein Verein wie andere auch, sondern wir haben die Seele des Grundgesetzes.“ Der Herr Bischof stellt klar: „Für mich sind Christen alle die, die getauft sind.“ 70-80% sollen das ihm zufolge sein. Mir inklusive, denn ich wurde auch getauft, wenn ich das einmal hinzufügen dürfte. Insofern wird meine folgende, antireligiös motivierte Kritik als innerchristliche zu verstehen sein. Da man als Naturalist sowieso keine Debatten mit Theisten gewinnen kann (erläutern Sie in fünf Minuten, was sich seit der Rennaissance ideengeschichtlich zugetragen hat), muss ich bestimmte Kritikpunkte auswählen. Ich beginne mit einer Kritik der Zehn Gebote und ihrer angeblichen Wichtigkeit.

Bei meiner Wortmeldung räume ich zunächst ein, dass ich das Tötungsverbot und das Gebot, man solle nicht stehlen, nachvollziehen könne. „Was ich nicht nachvollziehen kann, ist: Du sollst keinen Gott außer mir haben.“ Ich erläutere, dass dies zu einer Tribalisierung führe, bei der eine Gruppe gegen die andere kämpfe wie im 30-jährigen Krieg. „Dass das ein Wert sein soll in unserer pluralistischen Gesellschaft kann ich jetzt nicht nachvollziehen.“ Auch dass man nichts darstellen solle am Himmel und auf der Erde ist mir fremd, so stelle die Kunst doch alles Mögliche aus beiden Bereichen dar.

„Es ist ein eifersüchtiger Gott, der Rache nimmt bis in die dritte und vierte Generation. Ich finde das völlig unethisch, bis in die dritte und vierte Generation noch Rache zu nehmen“, sage ich ferner und betone, dass der Täter bestraft werden solle und nicht seine Nachkommen. „Steht aber in diesem Buch drin. Nächster Punkt: Im Alten Testament steht auch, dass ungehorsame Kinder gesteinigt werden sollen. [...] Dass Sklaverei in Ordnung ist wird niemals widerrufen, in der ganzen Bibel nicht.“ Ich weise zudem noch darauf hin, dass – der Herr Bischof meinte ja, eine gottlose Gesellschaft führe zu der Duldung von Kindesmissbrauch und Vergewaltigung – kein Wort gegen Kindesmissbrauch und Vergewaltigung in der Bibel steht und erinnere illustrationshalber daran, dass Lot mit seinen Kindern Sex hatte, nachdem sie ihn verführten.

Eines muss man Bischof Friedhelm Hofmann lassen: Er geht sorgfältig auf jeden meiner Kritikpunkte ein:

Kindesmissbrauch

Zunächst weist er darauf hin, dass Lot für sein Vergehen von Gott bestraft worden sei, „und wie!“. In Genesis 19 steht, dass Lot mit einer Tochter Moab zeugte, von der die Moabiter abstammen und mit der anderen Ammon, aus der die Ammoniter hervorgehen.

Ich räume ein, dass man argumentieren könnte, dass sich die Israeliten mit den Moabitern und Ammonitern im folgenden häufig bekriegen, was man als Strafe Gottes interpretieren könnte, obgleich Lot davon nichts mehr mitbekommt. Ergänzen könnte man allerdings, dass es sich um den selben Lot handelt, der vor dem Sex mit seinen Töchtern eben diese zu den lüsternen Männern Sodoms hinausschickt, um sie anstelle seiner männlichen Gäste (Engel Gottes) vergewaltigen zu lassen (Genesis 19, 8).

Keine Götter neben mir

"Wenn ich groß bin, will ich Priester werden" - "Das ist komisch. Ich bin groß und ich will einen kleinen Jungen."Laut Bischof Hofmann bedeute das erste Gebot, laut dem man keine Götter neben dem Gott Israels haben darf, „dass es nur einen Gott gibt. Die meisten Religionen werden sich darauf verständigen. Und es geht darum, in diesem Satz, dass ich keine Götzen haben darf. Also auch nicht das Geld anbeten darf, oder die Macht oder den Erfolg anbeten darf.“

Es gibt also nur einen Gott – aber das ist gar nicht notwendig der Gott der Christen? Erstaunlich! Im biblischen Kontext geht es derweil keineswegs um Götzen (es sei denn, man nennt andere Götter „Götzen“). Wenn das so wäre, fragt man sich, warum die Israeliten so viele Völker bekriegen, nur weil sie andere Götter anbeten, wie die oben genannten Ammoniten und Moabiter, wenn diese Praxis doch gar nicht verboten ist?

Du sollst dir kein Gottesbild machen

Das zweite Gebot, laut der man sich kein Bild von Gott machen darf, „das ist durch die Menschwerdung Christi auch in eine andere Ebene hineingenommen worden.“ Da Gott durch Jesus Christus ein Gesicht bekommen habe, könne er nun auch dargestellt werden. Jedenfalls aus christlicher Sicht, die Juden dürften das mit ihrem Bezug auf das Alte Testament nicht. Über diese Interpretation mag nun jeder selbst urteilen.

Vergewaltigung

In Samuel 12, 12 ist Massenvergewaltigung seiner Ehefrauen die Strafe Gottes für einen Mord, den David begangen hat. Insofern scheint der Gott der Bibel kein grundsätzliches Problem mit Vergewaltigung zu haben, jedenfalls, solange Frauen die Opfer sind.

Gegen die Vergewaltigung spreche laut dem Herrn Bischof allerdings, dass man „in der Ehe treu bleiben muss“ und somit ein keusches Leben zu führen angeleitet ist. Diese Aussage hat wegen der Vorgeschichte von Bischof Friedhelm Hofmann eine gewisse Brisanz. So erfährt man bei „Panorama“ (ARD): „Wenn Florian (Name geändert) an seine Jugend denkt, dann erinnert er sich an Schuld und Scham. Ein Jahr lang hat ein Pfarrer ihn sexuell missbraucht, hat den Jungen immer wieder zum Oralverkehr gezwungen. Lange schweigt Florian. Schließlich vertraut er sich dem Bischof von Würzburg an. Doch statt ihm zu helfen, so erzählt Florian, habe der Bischof ihm nahe gelegt, mit niemandem über die Sache zu sprechen und von einer Anzeige Abstand zu nehmen, damit nichts an die Öffentlichkeit gelangt.“ Der hier genannte Bischof von Würzburg ist eben jener Bischof Friedhelm Hofmann, mit dem ich dieses Streitgespräch geführt habe. Aber er hat schon recht: Wenn der betroffene Pfarrer seiner Frau einfach treu geblieben wäre, dann hätte er Florian auch nicht vergewaltigt. Jetzt müssten Pfarrer nur noch heiraten dürfen.

Rache bis in die dritte und vierte Generation

„Gott ist nicht ein Popanz, der sich alles gefallen lässt“, stellt der Herr Bischof fest. Verteidigt er hier tatsächlich die Rache Gottes an den fernen Nachkommen des Sünders? Oder bezieht sich diese Aussage auf die Bestrafung von Kinderschändern und Vergewaltigern? Schwer zu sagen. Gott bleibe auf jeden Fall weiterhin Richter, stellt der Herr Bischof eisern fest.

Ungehorsame Kinder steinigen

Die Steinigung, so Hofmann zum Abschluss von Runde 1, wäre aus dem christlichen Menschenbild heraus auf keinen Fall akzeptabel, „auf keinen Fall!“. Ja, es ist mir bereits aufgefallen, dass Christen niemanden steinigen (auch wenn ich später in der Diskussion trotzdem spontan den Kopf eingezogen habe). Der Punkt war ein anderer: Die Zehn Gebote (Exodus 20) stehen nur ein Kapitel vor dem Befehl, dass man ungehorsame Kinder töten solle: „Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft“ (Exodus 21, 17). Warum sind die Zehn Gebote nun also gut und die Ermordung von Kindern nicht? Diese Befehle Gottes stehen doch im selben Buch! Richard Dawkins nennt das „Cherry Picking“: Moderate Christen picken sich die Rosinen aus der Bibel heraus und ignorieren einfach den Rest.

Stalin und Hitler

"Ach, wo wäre ich nur ohne dich?"Ich lasse es zunächst einmal darauf beruhen, damit die anderen Anwesenden ebenso die Gelegenheit bekommen, kritische Fragen zu stellen. Es folgt auch sogleich die Wortmeldung einer Dame, welche auf die schrecklichen Folgen „gottloser Systeme“ aufmerksam macht. Sie spricht die „Trümmerhaufen“ an, die in Würzburg zu sehen waren und weist darauf hin, dass sie in einer „atheistischen Diktatur“ aufgewachsen sei. „Ohne Sonnenschein und Gott geht das ganze Volk bankrott“, soll ein mutiger Pfarrer damals eine Propagandazeile parodiert haben. Komischerweise ist auch jene Dame der Meinung, dass Christen in Deutschland in der Minderheit sind, was der Herr Bischof weiterhin nicht so sieht. Vielleicht wollen Christen ja in der Minderheit sein? Das waren sie in ihrer Blütezeit unter Kaiser Konstantin schließlich zunächst auch. Da hätte ich bestimmt nichts einzuwenden.

Lieber Kant als Dekalog

Es folgt zunächst die Wortmeldung eines Polizisten, der es für blauäugig hält, einfach die Zehn Gebote in den Raum zu stellen, wenn die Leute zum Beispiel nichts zu essen haben. Der Bischof nutzt die Gelegenheit, um das Gegenteil von dem zu sagen, was er vorher gesagt hat: „Das Grundgesetz basiert auf den Zehn Geboten. Die Charta der Vereinten Nationen basiert auf den Zehn Geboten.“

In seinem Vortrag heißt es noch, dass die Menschenrechte, die in Grundgesetz und Charta der UN verankert sind, aus dem Naturrecht entwickelt wurden (was korrekt ist und beweist, dass der Herr Bischof es eigentlich besser weiß) und dass man zusätzlich zu diesen die christlichen Werte benötige. Jetzt ist das Naturrecht auf einmal verschwunden. Wo ist es denn nur geblieben?

„Wer geht denn hin und hilft den Menschen, die wirklich hungern oder in Not sind und so weiter? Das sind doch die engagierten Christen, das sind doch die Kirche.“ Nein, lieber Herr Bischof, Atheisten verhalten sich genauso ethisch (in manchen Belangen sogar ethischer) und engagieren sich ebenso wie Gläubige – und so weiter.

Der kritische Polizist bemerkt, dass ihn das Verhalten von Christen, betrachtet es man historisch, nicht überzeugt. Zudem sagt er, dass wir im Grunde nur den kategorischen Imperativ Kants benötigten und mehr nicht.

„Also, ich weiß nicht, ob Sie meinen Vortrag verstanden haben“, antwortet der Herr Bischof.

Die Diskussion wird unterbrochen von dem Geläute der Glocken beider Dorfkirchen, was mehrmals an diesem Abend geschieht. An dieser Stelle frage ich mich, ob das Geläute die Oerlenbacher nicht selbst nervt, egal, wieviel sie ansonsten von Kirchen halten.

Kirchliche Werte

Nun meldet sich Peter Janotta von den Brights zu Wort und weist darauf hin, dass er viele der Kardinaltugenden teile, dass er es aber für „äußerst gefährlich“ halte, diese nur dem Christentum zuzuschreiben und etwa asiatische Kulturen, die eigenständig solche Werte entwickelt haben, als wertelos und in der Konsequenz vielleicht sogar als wertlos anzusehen. Er spricht zudem die individuelle Freiheit als wichtigen Wert an, der nicht aus dem Christentum resultiere, denkt man an die historische Unterstützung der Kirche von monarchischen Staatsordnungen und denkt man an die Homophobie, die in der Kirche vorherrschend sei. Auch die demokratische Mitbestimmung sei bestimmt kein Ergebnis des Christentums. Er macht zudem darauf aufmerksam, dass er es seltsam finde, dass der Vatikan als einziges Land unter den westlichen Industrienationen die Menschenrechte nicht ratifiziert hat.

Leider wird die gesamte Wortmeldung von Peter Janotta von Glockengeläute und dem Kichern einiger Gemeindemitglieder gestört.

Der Herr Bischof stellt zunächst einmal fest, dass er nicht behauptet habe, die Kardinaltugenden seien aus dem Christentum hervorgegangen oder dass sie Christen vorbehalten wären. „Und ich spreche anderen Religionen auf keinen Fall ethische Grundlagen ab“, so Bischof Hofmann weiter, „Im Gegenteil.“ „Und was ist mir religionsfreien Menschen?“, fragt Peter Janotta dazwischen. Doch diese Frage ignoriert Friedhelm Hofmann, wie auch alle vorangegangenen Einwände vom Brights-Vorstand.

Freie Rede?

Christliche Heuchelei

 

Ich melde mich wieder zu Wort, weil mir die Stalin-und-Hitler-Sache auf den Nägeln brennt, schließlich hat niemand im Raum diesem unfassbaren Argument (Atheismus führe zu totalitären Regimen, Holocaust, etc.) etwas entgegengesetzt.

„Also, ich werde Ihnen mal so einiges jetzt ersparen“, stelle ich einleitend fest, „aber eine Sache hätte ich noch. [...] Es ist durchaus der Fall, dass Stalin Atheist war, es ist durchaus der Fall, dass Mao Zedong Atheist war, aber das ist doch nicht der Grund, warum er seine Völkermorde begangen hat! Ich meine, ich bin auch Atheist, aber ich komme doch nicht auf die Idee: Wow, ich muss jetzt ganz viele Menschen umbringen, weil ich Atheist bin! Man kommt doch nicht von dem Nichtglauben an Gott, von dem Nichtglauben an übernatürliche Wesen, dann sofort auf die Idee: Wow, jetzt muss ich aber hier in den Straßen kopulieren! Das ist doch keine Logik! Und ich meine: Stalin und Hitler, die hatten auch beide Schnurrbärte, aber es würde doch keiner sagen: Weil sie beide Schnurrbärte hatten, deshalb sind jetzt alle Menschen, die Schnurrbärte haben, völlig unmoralisch! Das ist einfach nicht der Grund.“

Und wo ich schon einmal das Wort habe: „Und nehmen wir Schweden: Die haben 80% Atheisten. Eines der sozialsten Länder, eines der Länder, wo die Einkommensunterschiede am geringsten sind. Schweden ist eigentlich fast in jeder Kategorie ganz weit oben und 80% Atheisten. Wie kommt denn das?“

Antwort des Bischofs: „Weil sie auf christlichen Werten basieren.“ Weiter führt er aus, dass sich Einzelne (80% der Schweden?) auch ohne Gottesglauben ethisch verhalten könnten. Mir hat diese geistige Verrenkung einfach die Sprache verschlagen. Aber wissen Sie, warum mir der Vatikan so gut gefällt: Weil er auf säkular-humanistischen Werten basiert! Selbe Argumentation (mit dem Unterschied, dass mir der Vatikan natürlich gar nicht gefällt).

Christliche Nächstenliebe

Nach meiner Wortmeldung setzt ein großes Gemurmel und eine ziemliche Unruhe ein. Ich hätte wohl nicht darauf hinweisen sollen, dass Atheisten keine unmoralischen Monster sind. Es folgt eine Stellungnahme aus der rechten, oberen Ecke des Raumes, wo nicht die Polizisten, sondern die Oerlenbacher Gemeindemitglieder sitzen (so weit ich das sehen kann). Diese Wortmeldung wird eine sehr bedrohliche Stimmung auslösen.

„Ja, ich will einmal was sagen: Ich glaub, ich hab ne falsche Veranstaltung.“ Allgemeines Gelächter. „Das Thema heißt: Die Bedeutung der christlichen Werte für Staat und Gesellschaft. Und aus dem Publikum kommt das Lob des Atheismus, die reine Vernunft, da kommt etwas über andere Religionen.“ An dieser Stelle rufe ich „Freie Rede!“ hinein. Das gefällt den Anwesenden offenbar gar nicht und das Gemurmel wird lauter. „Ich möchte etwas mitnehmen, etwas Positives“, sagt der Mann weiter. „und nicht die ganze Kotzerei über die Kirche...“ Lautes, zustimmendes Klatschen erschallt aus der Oerlenbacher Ecke.

„Meinungsfreiheit!“, rufe ich hinein. Ein Widerspruch von einer anwesenden Dame erschallt: „Aber auf einer christlichen Veranstaltung...“, was mich zu dem Ausspruch nötigt: „Keine Diktatur! Meinungfreiheit! Schluss!“ Schon interessant: Gerade haben wir von den bösen, atheistischen Diktaturen geredet und nun muss ich bei den Christen ein elementares Grundrecht verteidigen. Ins protestierende Gemurmel rufe ich noch „Nein, wirklich: Freie Gesellschaft!“ Hierauf folgt allgemeines Gelächter. „Auch eine Grundlage unserer Verfassung“, betont Thomas Lehmann in Hinblick auf das Recht, eine abweichende Meinung zu vertreten, und das Gelächter ebbt ab. Offenbar sind die zahlreichen Lachenden der Meinung, dass die Sache mit der freien Gesellschaft nur ein Witz gewesen sein kann. Andere Religionen und Vernunft sind ja schon absurd genug, aber eine freie Gesellschaft trifft man allenfalls im Zirkus an.

Gewiss: Meinungfreiheit auf einer christlichen Veranstaltung ist auch für mich ein unvorstellbarer Gedanke. Allerdings handelt es sich eben nicht um eine christliche Veranstaltung, sondern um eine öffentliche Veranstaltung mit Diskussion, die in den Jahren zuvor keine Verbindung mit dem Christentum hatte (man lud etwa Roman Herzog, Günther Beckstein und Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier ein) und die stets im Zusammenhang mit der Polizeiausbildung stand. So schnell können sich die Dinge ändern.

Das Christentum ist wie ein Schwamm. Es saugt alles in sich auf, seien es die Werte der Aufklärung oder die Oerlenbacher Gespräche. Die Struktur des Schwamms bleibt dabei allerdings unverändert.

Die soziale Kirche

Die arme, sozial engagierte KircheEine weitere Wortmeldung aus den Reihen der Polizisten weist uns darauf hin, dass die Kinder von Hartz-4-Empfängern viel zu arm sind. Die Frage läuft darauf hinaus, was die Kirche dagegen tut. Der Bischof macht darauf aufmerksam, dass der Kindergartenbereich (860 Kindergärten in kirchlicher Hand im Bistum Würzburg) von der Kirche erheblich finanziell und ideell gestützt werde. Tatsächlich sieht es so aus, dass die Kirche in Bayern lachhafte 5% der Kindergärten finanziert, den Rest übernehmen Staat und Land (je 40%), sowie die Eltern (15%). Jedenfalls war dies laut bfg München 1995 so. Meines Wissens hat sich daran nichts geändert.

Ein weiterer Polizist macht noch darauf aufmerksam, dass es vor allem Christen seien, die sich sozial bei der Essensausgabe für arme Menschen engagierten. Lautes Gemurmel ist die Folge dieser Bemerkung. Ich weiß nicht, warum. Entweder sie halten diese Aussage für zweifelhaft und es ist uns gelungen, das Bewusstsein für solche Bemerkungen zu erhöhen, oder sie haben nur Angst vor meiner Reaktion.

Zu einer solchen komme ich allerdings nicht mehr, denn ein örtlicher Pfarrer richtet sich in der letzten Wortmeldung an mich und weist auf folgendes hin: „Zwischen dem Alten Testament und Kant liegen ein paar tausend Jahre.“ Ich antworte: „Ja...“, da diese reine Tatsachenfeststellung kaum strittig sein dürfte. Unter realpolitischen Bedingungen änderten sich moralische Bewertungen, stellt der Herr Pfarrer weiter fest, so hätte die Bevölkerung zur Nazi-Zeit einen Attentäter gemeinhin verurteilt, der es gewagt hätte, Hitler zu töten. Nach 1945 hätte es für ihn Loblieder gegeben. „Ja, ich stimme Ihnen zu“, sage ich. „Ich weiß nicht, warum Sie das an mich wenden, aber ich stimme Ihnen zu: Werte ändern sich, genau der Punkt!“ Beim Vortrag des Bischofs ging es ja eben darum, dass sich Werte nicht ändern sollen. Keine Ahnung, was der Herr Pfarrer nun eigentlich damit aussagen wollte.

Ich habe fertig

„Ich bin außerordentlich begeistert über den Verlauf der heutigen Veranstaltung“, lässt uns Thomas Lehmann wissen, immernoch so gut gelaunt wie zu Anfang des Vortrags. Er habe schon vier Oerlenbacher Gespräche mitgemacht, „aber ich habe bislang keine derart – auch durchaus emotionale, aber da freue ich mich drüber – Diskussion erleben dürfen.“ Tja, endlich mal was los in diesem verschlafenen Nest, nicht wahr? „Sie [Bischof Friedhelm Hofmann] haben deutlich gemacht: Die Grundlagen unseres Staates, unserer Gesellschaft, beruhen auf der gottesebenbildlichen Menschenwürde und den Menschenrechten.“ Für alle, die es noch nicht kapiert haben, fügt er hinzu: „90% der 88 freien Demokratien sind mehrheitlich christlich.“ Da kann ich glatt einpacken mit meinem Schweden (sieht man sich an, was die Menschen tatsächlich glauben, ist diese 90%-Aussage natürlich falsch).

Das ist es also, was Polizisten in der Ausbildung in Deutschland beigebracht wird. Halleluja!

Nun verlassen alle den Saal. Zwei Damen weisen mich beim Hinausgehen darauf hin, dass sie meine Einwände „genau richtig“ finden, mindestens eine davon aus den Reihen der Polizei, und eine weitere, vermutlich der Oerlenbacher Gemeinde zugehörig, sagt, dass sie es für „unglaublich“ halte, dass wir direkt im Anschluss an ein Gespräch über die Menschenwürde – zwei junge Menschen, die ein paar Fragen haben – so behandelt werden. Nun, mich wundert es nicht, sondern es bestätigt alles, was ich über das Christentum im Speziellen und Religion im Allgemeinen ohnehin schon gedacht habe. Außerdem erfahren wir noch, dass die Veranstaltung für Polizisten freiwillig gewesen sei. Da frage ich mich, warum sie dann von Leuten besucht wurde, die meiner Meinung sind. Es wird schon eine Motivation sein, wenn der Chefausbilder die Gespräche mitorganisiert.

Draußen höre ich noch ein paar Polizisten darüber reden, wie unverschämt die Art und Weise gewesen sei, mit der ich meine an sich nicht ganz unberechtigten Einwände vorgebracht hätte. Darüber kann ja nun jeder selbst befinden, wer hier unverschämt war.

Bevor uns noch jemand verhaftet – und diese Befürchtung von mir war die einzige, die sich nicht bewahrheitet hat – machen wir uns lieber auf den Weg zurück in die große Stadt, zurück zur Zivilisation und weg von solchen Leuten, welche die freie Gesellschaft für einen Witz halten und meinen, dass Christen die Moral mit Löffeln gefressen hätten, während sie sich genau gegenteilig verhalten. Auf dem Rückweg schieben sich die grauen Wolken solidarisch beiseite und machen den Weg frei für ein paar Sonnenstrahlen. Wenigstens die Götter sind uns gewogen, wenn schon nicht ihre Anhänger.

Andreas Müller