Ein Buch gilt für uns alle

BERLIN. Am 12. Dezember hielt Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in der Humboldt-Universität die5. Berliner Rede zur ReligionspolitikReligion und Recht.

Da Frau Zypries als Ministerin erheblichen Einfluss auf die Rechtsentwicklung hat, seien hier aus ihrer Rede Auszüge dokumentiert.

 

(...) „Eigentlich passt der Titel meines Vortrages für mich nicht so ganz. Zumindest nicht die Reihenfolge der beiden Begriffe: Religion und Recht. Ich bin weder Theologin noch sachkundige Laiin. Für mich als Juristin und Justizministerin kann daher nur das Recht der Ausgangspunkt meiner Überlegungen sein. Vom Recht aus kann ich der Frage nachgehen, wie es durch religiöse Einflüsse geprägt ist und wie es seinerseits das religiöse Leben in Deutschland ordnet. (...)

Religion und Recht – oder eben: Recht und Religion – dies ist nicht nur ein prägnanter Redetitel. Darin steckt zugleich die Aussage, dass Recht und Religion zwei unterschiedliche Dinge sind. Was uns heute ganz selbstverständlich erscheint, war nicht immer so – und ist es auch heute keineswegs überall auf der Welt. (...)

Die Trennung zwischen menschengemachten Gesetzen und göttlichem Recht, zwischen Staat und Religion, ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. In manchen Staaten steht sie allerdings noch aus – etwa dort, wo die Auswahl von Parlamentskandidaten oder die Ausübung staatlicher Macht durch ein religiöses Oberhaupt oder einen Wächterrat kontrolliert wird.

Das Ergebnis der Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht ist der säkulare Verfassungsstaat. Er ist Staat, weil er das Monopol legitimer Herrschaftsgewalt besitzt. Eine Macht, die ihm historisch vor allem deshalb zugeschrieben wurde, um die Gesellschaft zu befrieden und vor dem religiös motivierten Bürgerkrieg zu bewahren. Er ist säkularer Staat, weil er nicht religiös begründet ist und seine Ordnung nicht als göttlich vorgegeben gilt. Und er ist Verfassungsstaat, weil eben seine Verfassung Rechtsgrund und Maßstab seines Handelns ist.

Diese Trennung zwischen „weltlich“ und „geistlich“ begrenzt nicht nur wechselseitig die Macht von Staat und Religionen, sie ist auch Voraussetzung für die Religionsfreiheit. Nur weil der Staat keine umfassende religiöse Legitimation für sich in Anspruch nimmt, kann er Religionsfreiheit gewährleisten, und nur weil er dies tut, wird er zum neutralen Staat. Im säkularen Verfassungsstaat kann Religion nicht mehr den Anspruch haben, das Leben der Menschen vollständig und verbindlich zu regeln. Religion bestimmt nicht mehr die gesamte gesellschaftliche Ordnung, sondern sie ist weitgehend zur Privatsache der einzelnen Staatsbürger geworden. (...)

In Deutschland ist es das Christentum, das dem Recht seinen Stempel aufgedrückt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Tatsache sehr deutlich anerkannt – übrigens ausgerechnet im viel gescholtenen Kruzifix-Urteil aus dem Jahr 1995. „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen...“, und ganz konkret sagt das Gericht: „Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen.“ (...)

Mit der zunehmenden religiösen Vielfalt in unserer Gesellschaft sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass unser staatliches Recht jene religiös begründeten Wertüberzeugungen widerspiegelt, die auch der Einzelne teilt. Anfang der 70er Jahre gehörten rund 90 Prozent der Bevölkerung in der alten Bundesrepublik einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Heute sind es nur wenig mehr als 60 Prozent. Kein Wunder, dass sich die Verwaltungsgerichte immer häufiger mit religiös motivierten Konflikten befassen müssen. (...)

Was heißt das für unser Thema? Es wird für unser Recht immer schwerer, insbesondere dort gerechte Lösungen zu finden, wo sich für einzelne ein Widerspruch auftut zwischen ihren individuellen religiösen Verpflichtungen und der Forderung des Staates, sich an bestimmte Gesetze und Regeln zu handeln. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Konfliktfelder in Zukunft gewiss nicht geringer werden. Wir müssen deshalb neu nachdenken über die Religionsfreiheit und über das Spannungsfeld zwischen staatlicher Neutralität, religiöser Toleranz und einem Mindestmaß an Regeln, die alle Menschen für ein friedliches Zusammenleben akzeptieren.

Ein Ansatzpunkt dafür ist das Grundgesetz selbst. Es schützt in Artikel 4 bezogen auf die Religion dreierlei: die Freiheit des Glaubens, die Freiheit des Bekenntnisses und die ungestörte Religionsausübung. Haben, Äußern und Ausüben einer Religion soll der Staat gewährleisten. So hat es der Parlamentarische Rat einst gewollt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese drei Elemente zu einem einheitlichen Grundrecht zusammengezogen und außerordentlich weit ausgelegt. (...)

Die Religionsfreiheit steht natürlich nicht nur den christlichen Kirchen zu; sie hängt auch nicht von einer offiziellen Lehrmeinung ab. Bei der Bestimmung dessen, welche Anforderungen die Religion an das Verhalten der Gläubigen stellt, ist nach Ansicht des Verfassungsgerichts vor allem das Selbstverständnis der Gläubigen maßgebend. (...)

Das Bundesverfassungsgericht hat also ein außerordentlich weites Verständnis davon, was alles als Religionsausübung anzusehen ist. Gleichzeitig hat aber der Gesetzgeber nur wenige Möglichkeiten, der Religionsausübung Schranken zu ziehen. Im Unterschied zu anderen Grundrechten enthält Artikel 4 keinen Gesetzesvorbehalt. (...) Deshalb müssen wir die Möglichkeiten des Gesetzgebers für einen Interessenausgleich erweitern. Die zwei dogmatischen Ansatzpunkte dafür sind: Das Grundrecht auf freie Religionsausübung muss deutlichere Konturen bekommen und die Schranken dieses Grundrechts müssen erweitert werden. (...)

Ich selbst halte eine größere Präzision beim Schutzbereich des Grundrechts für wünschenswert. Wir brauchen wieder mehr begriffliche Klarheit beim Punkt der Religionsausübung, und wir sollten nicht mehr jedes beliebige Verhalten unter den besonderen Schutz dieses wichtigen Grundrechts stellen. (...) Ich meine, man mag manche Lehrinhalte je nach religiösem Standpunkt unterschiedlich bewerten, aber die Religion darf kein Vorwand sein, um Kinder in Unwissenheit zu halten und ihnen Bildung vorzuenthalten.

Wir müssen das Verständnis der Religionsfreiheit deshalb wieder stärker präzisieren. Wenn wir das nicht tun, werden immer häufiger Menschen versuchen, sich durch den Hinweis auf ihre Religion von der Geltung der allgemeinen Gesetze zu befreien. Und dies kann unsere Gesellschaft auf Dauer nicht hinnehmen. (...)

(Wir erleben) nun in Deutschland das, was einige die „Renaissance der Religion“ nennen. Sie scheint allerdings eher ein Feuilleton-Phänomen zu sein; denn eine Welle von Kircheneintritten ist wohl nicht zu verzeichnen. Stattdessen rangieren in den Bestsellerlisten jene Sachbücher ganz oben, in denen religiöse Werte besonders laut beschworen werden. Ob Nachrichtensprecher, Verfassungsrichter oder Pädagoge – sie alle beklagen in ihren Büchern den Verfall und den Niedergang von Werten und Kultur. Schuld daran sind stets die 68er, und Ausweg ist für alle die Rückbesinnung auf die Religion. Die Art und Weise, wie allerdings mit Hilfe der Religion wieder Ordnung in die Gesellschaft gebracht werden soll, die ist wenig durchdacht. (...)

Der Rückgriff auf die Religion ist eine Modeerscheinung von Autoren, denen alles zu unordentlich geworden ist in Deutschland. Er sagt viel über ihre Sehnsucht nach der Ordnung von gestern, aber er bietet keine Antworten auf die Fragen von heute. Was unsere Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält – diese Frage stellt sich doch auch deshalb so eindringlich, weil heute eben kaum mehr als 60 Prozent der Bevölkerung den beiden großen christlichen Kirchen angehören – und sich noch weniger dort wirklich zu Hause fühlen.

(...) Sicher, im freiheitlichen Staat kann es keine verordnete Leitkultur geben. Aber fördern kann der Staat die Ausbildung von Kultur und Werten schon – und zwar nicht zuletzt in der Schule. Dort muss mehr als nur Wissensvermittlung geleistet werden. Wie steht es dabei mit der Religion? Denkbar wäre eine strikte Trennung von Religion und Schule. Aber das macht wenig Sinn, denn man kann einen wichtigen gesellschaftlichen Faktor wie die Religion nicht einfach am Schultor aussperren. Die Schulen müssen hier so vielfältig sein, wie das Leben selbst. Deshalb wäre es auch wünschenswert, wenn wir bald einen Islamunterricht hätten – gleichberechtigt mit dem christlichen, erteilt von gut ausgebildeten Lehrern und in Übereinstimmung mit den Lehrplänen und Schulgesetzen.

Die Religion ist aber nicht die einzige Quelle von Werten einer Gesellschaft. Die Kirchen haben deshalb in der Schule keinen Monopolanspruch auf die Wertorientierung junger Menschen. Gerade weil die Religionsgemeinschaften die Kinder nach Bekenntnissen trennen, muss der staatliche Unterricht auch Foren der Integration schaffen. Rechtskunde und Politik, ’Werte und Normen’ oder Ethik – all solche Fächer sind eine gute Gelegenheit zur Verständigung über Grundüberzeugen, zur Vermittlung und zum Erlernen von Werten. (...)

Es geht nicht um ein ’entweder - oder’. Ich meine, wir brauchen beides. Die Einführung eines Pflichtfaches Ethik hier in Berlin ist deshalb kein „Anschlag auf die Religionsfreiheit“ wie manche meinen. Aus der Freiheit für Religionsunterricht lässt sich keine Freiheit von Ethik-Unterricht konstruieren. Es gibt keinen Exklusiv-Anspruch der Religionen auf einen Werte-Unterricht. Gerade wegen der Vielfalt der Bekenntnisse muss der Staat auch in den Schulen durch gemeinsame Werte-Unterrichte die gesellschaftliche Integration noch stärker fördern. (...)

Die Schwierigkeit, mit der wir es zu tun haben, ist doch die, dass Demokratie leider nicht vererbbar ist. Demokratie und alles, was dazu gehört – Toleranz, Rücksichtnahme, Akzeptanz von Niederlagen und vieles Andere mehr – muss jede Generation neu lernen.

Wenn ich die jüngsten Äußerungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde richtig verstehe, dann setzt er beim Zusammenhalt unserer Gesellschaft vor allem auf die Gesetzesloyalität. Sie sei das unverzichtbare Minimum an Gemeinsamkeit. Mögen manche Gläubigen auch einen inneren Vorbehalt gegen die Verfassungsordnung haben, praktizierte Rechtstreue werde auf Dauer auch zu einer Anerkennung der staatlichen Ordnung führen. (...) Nicht der Glaube ist also entscheidend, sondern ob jemand ein ehrlicher Mensch ist – mit Böckenförde könnte man auch sagen: ob jemand loyal ist zu den Gesetzen. Diese Rechtstreue ist das unverzichtbare Minimum für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Mögen sich die Menschen in unserem Land auch an Bibel, Koran oder Talmud halten. Wir werden auf Dauer nur dann in Frieden zusammenleben, wenn ein Buch für uns alle gilt – und das ist das Grundgesetz.

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