(hpd) Sind wir von Natur aus religiös, ein „Homo Religiosus“? Oder ist Religiosität sozial determiniert? Wozu ist Aufklärung dann überhaupt gut? Und wie sieht es aus mit der Macht der Ideen? Fragen über Fragen, die hier alle beantwortet werden.
Es ist alles wahr
Am 29. Juli 2009, also vor zwei Tagen, ist eine neue Studie über Religiosität im Journal for Evolutionary Psychology erschienen. Darin erfährt man, was auch in den letzten Teilen dieser Artikelreihe zu lesen war: „[...] Religion ist vor allem eine künstliche psychologische Reaktion, welche die tägliche Hilfe und den täglichen Schutz von übernatürlichen Wesen anstrebt, um Stress und Anspannung zu vermindern, die durch eine hinreichend dysfunktionale soziale und vor allem durch eine hinreichend dysfunktionale ökonomische Umwelt erzeugt werden.“
Damit sind die Ergebnisse von Tom Rees bestätigt. Der Autor, Gregory S. Paul, verantwortlich für die erste große Studie zum Verhältnis von Gesellschaft und Religiosität aus dem Jahre 2005, ergänzt, dass auch populäre Nichtreligiosität nur eine triviale psychologische Reaktion auf eine hinreichend sichere sozioökonomische Umwelt ist. Natürlich gibt es auch Atheisten, die durch philosophische Überlegungen zu ihrer Position gelangt sind, aber das ist eine Minderheit.
Außerdem wurde meine These bestätigt, dass Religion die Heilung gesellschaftlicher Wunden behindert: „[...] Eine konservative religiöse Weltanschauung trägt offenbar zur sozialen Dysfunktionalität bei und religiöse Sozialangebote und Wohltätigkeit sind weniger effektiv bei der Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse als säkulare Regierungsprogramme.“ Im Übrigen bedeutet dies auch, wie schon zuvor angedeutet, dass humanistische Sozialangebote unsere gesellschaftlichen Probleme ebensowenig lösen werden.
Gregory S. Paul geht auch auf die Bedeutung ungerechter Einkommensverteilung für den Grad der Religiosität in einer Gesellschaft ein, allerdings ist der Beitrag von Tom Rees hier umfassender und aufschlussreicher. Außerdem bestätigt Paul, dass die Akzeptanz der Evolutionstheorie ein geeigneter Maßstab für gesellschaftliche Gesundheit ist.
Sind wir von Natur aus religiös?
Damit befindet sich diese Artikelreihe auf dem aktuellen Forschungsstand. Nun möchte ich an Gregory S. Paul anschließen und noch einen Schritt weitergehen: „Die Nicht-Universalität starker religiöser Frömmigkeit und die Leichtigkeit, mit der große Populationen ernsthaften Theismus aufgeben, wenn die Bedingungen hinreichend gutartig sind, widerlegen die Hypothese, dass religiöser Glaube und religiöse Praxis den normalen, tiefeingeprägten mentalen Zustand darstellen, ob sie nun künstlich sind oder natürlich“, schreibt er. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass religiöse Indoktrination im Kindesalter keine so große Wirkung hat, wie bislang, u.a. von Richard Dawkins, angenommen. Gut so, denn damit würden Gläubige ohnehin niemals freiwillig aufhören (Fragen Sie einmal einen Evangelikalen, was er von der Idee hält, seinen Kindern nicht von Jesus zu erzählen. Ich habe einen gefragt, die Antwort können Sie sich vorstellen).
Die Religiosität ist also keineswegs der Normalzustand und ist somit nicht zu vergleichen mit Adaptionen wie unserem Sexualdrang. Wenn sie eine Adaption ist, dann hat Religiosität eine sehr limitierte Funktion. Sie verringert den Stress und die Anspannung, die aus modernen Zivilisationskrankheiten, vor allem dem Hauptfaktor der ungerechten Einkommensverteilung, hervorgehen. Da diese Zivilisationskrankeiten allerdings modern sind, also erst seit Beginn der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren existieren, ist die Religiosität keine Adaption. Adaptionen, also Anpassungen an Umweltbedingungen, die von der Evolution selektiert werden, benötigen weitaus länger als 10 000 Jahre, um den Weg in unsere Gene zu finden. Religiosität kann nur ein Nebenprodukt sein, wahrscheinlich vor allem von unserer Hypersozialität und somit unserer Fähigkeit, mit Agenten zu interagieren, die nicht anwesend sind.
Dies tun wir zum Beispiel, wenn wir die Gräber von verstorbenen Verwandten und Freunden besuchen und dort mit ihnen reden oder uns überlegen, was sie sagen würden. Beerdigungsritale und das Verbot der Grabesschändung sind ebenso Beispiele für unsere Hypersozialität (den Toten ist es egal, was wir mit ihnen machen). Von Naturvölkern weiß man, dass die im Dorf zurückgebliebenen Frauen zur Unterstützung ihrer jagenden oder Krieg führenden Männer Tänze aufführen. Weitere Beispiele für Hypersozialität sind Gebete, die Verehrung von Ahnen, oder der Glaube an Gott.
Damit wäre die Sache im Grunde erledigt und die adaptionistische These der Religiosität hat sich als unhaltbare Spekulation herausgestellt. Sie wurde auch von atheistischen Wissenschaftlern vertreten, vermutlich aufgrund der Frustration bei dem Versuch Gläubige zu überzeugen. Wenn man die Religion einfach zur Veranlagungssache erklärt, kann man sich die Aufklärung ersparen. Doch nun haben wir eine gute Erklärung dafür, warum Gläubige so schwer zu überzeugen sind und sie hat einen Vorteil gegenüber dem Adaptionismus: Sie ist wahr.
Optimistisch betrachtet wird nun kein Soziobiologe oder Religionswissenschaftler jemals wieder behaupten, dass Religiosität ein Bestandteil der menschlichen Natur wäre, weil sie die menschliche Fitness erhöhen würde. So einfach wird es aber leider nicht sein, darum führe ich im Folgenden weitere Argumente gegen den Adaptionismus an.
Die Position der Adaptionisten
Der Adaptionismus der Religiosität wird sehr lautstark von Deutschlands wohl bekanntestem Religionswissenschaftler vertreten, Dr. Michael Blume. Er ist beileibe nicht der einzige, auch andere Mitarbeiter der Religion und Wissenschaft versöhnen wollenden Templeton-Stiftung, wie David Sloan Wilson, teilen diese Einschätzung. In seinem Artikel im Magazin für Hirnforschung, „Gehirn und Geist“, bezeichnet Michael Blume Spiritualität und Frömmigkeit als „segensreiche Produkte der Evolution“. Er verwendet das Argument des biologischen Erfolgs der Religiosität auf seinen Blogs gegen praktisch alles, was Atheisten an Argumenten gegen Religion und Gottes Existenz aufzubieten haben, sogar gegen die Buskampagne, die damit im Grunde ja überhaupt nichts zu tun hat. Michael Blume schließt aus der Adaptivität der Religiosität für sich persönlich, dass sie auf Gottes Existenz hindeute, der also die Evolution so eingefädelt habe, dass Menschen enstehen, die an ihn glauben. Eine zunehmend populäre Haltung unter theistischen Evolutionisten.
Michael Blume hat zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten und Biologen Rüdiger Vaas, der Beiratsmitglied der Giordano Bruno Stiftung ist, ein Buch zum Thema geschrieben: Gott, Gene und Gehirn. Darin werden die wichtigsten Studien zur Religiosität vorgestellt und jeweils auf eine bestimmte Weise interpretiert. Wer es kennt, dem ist wohl aufgefallen, dass diese Artikelreihe einige Studien daraus aufgreift, sie jedoch anders interpretiert oder sie anhand neuerer Studien widerlegt.
Man kann an dieser Sammlung von Studien verschiedener Fachgebiete zur Religiosität in „Gott, Gene und Gehirn“ erkennen, warum es so schwer ist, Erkenntnisse zur Religiosität auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es ist ein riesiges Durcheinander und alles scheint allem zu widersprechen. Vaas und Blume versuchen sich in ihrem Buch auch gar nicht erst an einer Synthese (wobei Michael Blume seine Religion-macht-Kinder-These schon vorher regelmäßig zum besten gegeben hat).
Dass Religiosität keine Adaption sein kann, zu dieser Schlussfolgerung sind der Biophilosoph Edgar Dahl (siehe seinen Artikel zum Thema), der Psychologe Rolf Degen und ich etwa zeitgleich gelangt. Richard Dawkins hat die Nebenprodukt-Theorie in seinem „Gotteswahn“ bereits vertreten, die so aber nicht mehr vollständig haltbar ist (Religionen als falsche Ideen, die durch Tradition weitergegeben werden – was stimmt, aber nur im Hinblick auf die konkreten Inhalte, nicht im Hinblick auf den Glauben an einen kontrollierenden Gott selbst). Auf alle Thesen und Argumente der Adaptionisten kann hier nicht eingangen werden, aber auf die Wichtigsten:
Religiosität ist ein Nebenprodukt
Gläubige bekommen aufgrund ihrer religiösen Natur mehr Kinder (Fitness: Erzeugung fruchtbarer Nachkommen) und Atheisten sterben aus. Das ist die Kernthese der Adaptionisten. Dabei nehmen sie an, dass Religiosität in der menschlichen Natur liegt und Atheisten insgemein auch religiös sind (schließlich sind sie ebenfalls Menschen) – siehe die Beerdigungsritale von Lenin und Stalin. Das ist zwar ein Widerspruch, da Atheisten kaum aussterben können, wenn sie ohnehin zugleich religiös sind. Aber Widersprüche gehören, wie noch zu sehen, zur Grundausstattung der Templeton-Fraktion.
Zusammengefasst:
1. Der Adaptionismus (der Religiosität) basiert auf dem Prinzip der Gruppenselektion. Gruppenselektion existiert nicht. Richard Dawkins hat einen großen Teil seiner Karriere damit verbracht, zu erklären, warum das Gen oder das Individuum (je nach Perspektive) der Ansatzpunkt der natürlichen Selektion sind und nicht die Gruppe. Bereits in Das egoistische Gen stellte er fest: „Obwohl die Theorie der Gruppenselektion von nur wenigen professionellen Biologen, welche die Evolution verstehen, vertreten wird, verfügt sie über eine große intuitive Anziehungskraft“ (S 8, englische Jubiläumsausgabe). Und mit diesem Problem haben wir heute noch zu kämpfen. Allenfalls in Bezug auf die kulturelle Evolution ergibt das Konzept der Gruppenselektion Sinn, je nachdem, wie man diese Begriffe definiert, gewiss aber nicht in Bezug auf die natürliche Evolution.
2. Wichtig für den Adaptionismus ist die These, dass die Verehrung einer übernatürlichen Kreatur kooperatives Verhalten begünstige (wg. deren Wächterfunktion, also weil Gott zusieht und seine Anhänger im Jenseits Rechenschaft ablegen lässt) und sich Gläubige darum kooperativer verhielten als Atheisten. Aber diese These ist falsch. Atheisten verhalten sich genauso kooperativ wie Theisten. Das schreibt Michael Blume sogar in seinem eigenen Buch: „Das Experiment bestätigt die Hypothese, dass Religiosität die zwischenmenschliche Kooperation fördert – genauso wie die weltliche Moral [...]“. (S. 171). Gläubige und Atheisten verhalten sich ebenso großzügig und kooperativ.
3. In „Gott, Gene und Gehirn” erfahren wir zudem, dass verschiedene Konfessionen unterschiedlich reproduktiv sind. Aber warum? Sind manche Religionen etwa religiöser als andere Religionen? Laut Michael Blumes These müssten sie das sein. Demnach wären z.B. die römischen Katholiken religiöser als die Zeugen Jehovas (vgl. S. 86). Auf S. 87 steht, dass das Dogma der Enthaltsamkeit zum Aussterben der Shaker geführt habe. Waren ausgerechnet die Shaker weniger religiös als andere? Wohl kaum. Sonst hätte ja nicht ihr konsequent eingehaltenes Dogma der Enthaltsamkeit zu ihrem Aussterben geführt.
4. Auf S. 94 steht über die !Kung San: „Religiöse Überlieferungen ermutigten sie, Kinder zur Welt zu bringen [...]“. Also war es nicht die genetisch vererbte Religiosität, die zum Kinderreichtum führte. Es waren die religiösen Überlieferungen, ein kulturelles Erzeugnis.
5. Schließlich erklärt Michael Blume ausführlich selbst, warum seine These unzutreffend ist: „Unter diesen tausenden von Religionen haben sich nur jene durchgesetzt, die in ihrer Morallehre den Glauben an das Sondereigentum und den Glauben an die Familie vertreten haben. [...] Aus den Tausenden von religiösen Gemeinschaften, die jedes Jahr durch Abspaltung oder Neugründung überall auf der Welt entstehen, verschwinden die meisten wieder, noch bevor sie überhaupt die Wahrnehmungsschwelle von Öffentlichkeit oder Wissenschaft erreicht haben.” (S. 95-96). Es ist wiederum nicht die (natürliche) Religiosität, die zu Kinderreichtum führt, sondern bestimmte (kulturelle) Glaubensinhalte! Und die Tausenden von religiösen Gemeinschaften, die gleich wieder verschwinden, werden auch kaum mehr Kinder in die Welt setzen, als säkulare Gemeinschaften.
6. „Einige Staaten”, heißt es ferner, „wie Frankreich, Irland und Schweden” haben „inzwischen mit starker staatlicher Familienförderung die Geburtenrate in die Nähe der Bestandserhaltungsgrenze gehoben [...]” (S. 100). Wenn Religiöse wegen ihrer Natur mehr Kinder produzieren als Atheisten, sollte das aber nicht möglich sein. In Schweden gibt es schließlich 80% Atheisten. Oder sind das wieder die ominösen Undercover-Gläubigen?
7. Schließlich führt Michael Blume die Kriterien, die zu Kinderreichtum führen, selbst an: „Religiöse Lehren”, „Soziale Einbindung”, „Familiendienste”, „Stressbewältigung”, „Partnerwahl” (vgl. S. 104-105). Mit religiösen Genen haben diese Faktoren nichts zu tun.
8. Atheisten sterben nicht aus. Im Gegenteil sind sie in allen modernen Demokratien auf dem Vormarsch.
9. Religiosität ist als Partnerwahlkriterium völlig irrelevant. Wichtig sind Freundlichkeit, Attraktivität und Intelligenz.
Das alles soll nun keineswegs bedeuten, dass Religiosität überhaupt keine biologische Basis hätte. Im Prinzip ist Religiosität mit der Musikalität vergleichbar, nur nicht so, wie Michael Blume das gerne möchte. Die Musikalität (unsere Fähigkeit, Musik zu produzieren und zu genießen) ist nämlich ebenfalls ein Nebenprodukt, in diesem Falle von unserer adaptiven Sprachfähigkeit. Ein Nebenprodukt ist ein mögliches Ergebnis bestimmter Adaptionen, das aber selbst nicht adaptiv ist. Als hypersoziale Lebewesen können Menschen Sprache gut gebrauchen, Musik brauchen sie nicht. Sie existiert aber trotzdem, so auch die Religion.
Aufgrund bestimmter Anlagen neigen manche Menschen womöglich etwas mehr zur Religiosität als andere, wie eine Studie des Journal for the Scientific Understanding of Religion aufzeigt. Insgesamt gesehen ist Religion jedoch, wie die neueste Forschung gezeigt hat, das Produkt einer kranken Gesellschaft. Es ist sogar möglich, die gesellschaftliche Gesundheit direkt am Grade der Religiosität einer Gesellschaft zu messen. Religion ist ein Versuch, der ungerechten Welt zu entkommen, anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen. Religion ist eine Droge, die, ähnlich der Alkoholsucht, die Probleme nicht löst, die sie hervorgebracht hat. Vielmehr legt sie große Steine in den Weg zu einer besseren Welt.
Ist Religionskritik nutzlos?
Gläubige haben auf diese Artikelreihe nicht reagiert (von gelegentlichen Höllendrohungen abgesehen, tun sie das generell nicht), stattdessen bekam ich Mails von Atheisten, denen die Ergebnisse nicht gefallen haben. Ihnen zufolge können Gläubige nicht genauso wohltätig und kooperativ sein wie Atheisten, da sie wirklich schreckliche Dinge glauben, siehe ihre heiligen Bücher. Doch so gut kommen Gläubige hier gar nicht weg, schließlich habe ich aufgezeigt, dass sie sich in mehreren Bereichen weniger ethisch verhalten als Atheisten und vor allem, dass Religiosität die Entwicklung der Gesellschaft behindert und ihr effektiv schadet.
Präsentiere ich hier nur eine neue Fassung des sozialen Determinismus à la Marx? Nein, denn ich sage keineswegs, dass Ideen keine Rolle spielen und Religion ein unabwendbares Ergebnis sozialer Ungerechtigkeit ist. Zwar ist sie schon ein Ergebnis sozialer Ungerechtigkeit, aber nicht im Sinne eines unabänderlichen Determinismus, man sollte eher von einer gesellschaftlichen Prädisposition zur Religiosität unter bestimmten Bedingungen sprechen. Als Naturalist gehe ich zudem davon aus, dass Ideen real sind. Sie befinden sich materiell in unseren Neuronen und lösen physische Wirkungen aus. In diesem Sinne ist auch Gott durchaus real.
Die Macht der Ideen
Am Beispiel der französischen Revolution können wir sehen, was passiert, wenn man Menschen ihre religiösen Illusionen nimmt. Damals fanden antireligiöse Schriften und Karikaturen einen großen Absatzmarkt, die Philosophen der Aufklärung waren extrem populär (es wurde sogar Merchandising mit ihren Porträts verkauft), Voltaire wurde wie ein Popstar auf dem Level mit Michael Jackson gefeiert. Gleichsam war es eine Zeit großer sozialer Ungerechtigkeit. Nun fragt man sich schon, warum es in dieser Situation zu einer Revolution gekommen ist. Meistens wird sie als direkte Reaktion auf die Ungleichheit und auf die große Armut der Landbevölkerung erklärt. Aber funktioniert was wirklich? Das alte Ägypten hat seine Theokratie 5000 Jahre lang praktisch ohne jede Veränderung durchgezogen und damals war ein Großteil der Bevölkerung ebenfalls arm und nur Priesterklasse und Pharaoh waren unverhältnismäßig reich. Warum gab es damals nicht auch eine Revolution?
Nein, ich denke in der Tat, dass die Religionskritik und Aufklärung allgemein einen wichtigen Einfluss hatten auf die bürgerliche Revolution, eine These, welche die (fast ausschließlich katholische) Gegenaufklärung schon vor der Revolution vertreten hat und damit hatte sie wohl recht – obgleich dazu keine „Verschwörung“ von Philosophen nötig war, die sie ihnen unterstellt hat.
Innerhalb weniger Jahre wurden in vielen Ländern Europas und in Amerika die ungerechten Verhältnisse auf einen Schlag, wenigstens in der Gesetzgebung, aufgehoben. Auf einmal wurden Menschenrechte garantiert und die Bürger konnten ihre Regierung selbst bestimmen. Folter wurde in Frankreich im Revolutionsjahr 1789 abgeschafft, am 24. Dezember des selben Jahres erhielten Protestanten gleiche Rechte, am 4. April 1792 erhielten freie schwarze Menschen politische Rechte, am 20. August 1792 erhielten alle Männer außer Dienern und Arbeitslosen das Wahlrecht, am 4. Februar 1794 wurde die Sklaverei verboten und ehemalige Sklaven erhielten gleiche Rechte (übrigens durchgesetzt von Robespierres Revolutionstribunal).
Die Macht der Ideen wird gemeinhin eher unterschätzt. Ein weiteres Beispiel ist der Untergang der antiken Kultur, ausgelöst vor allem durch die Etablierung des Christentums als römische Staatsreligion, wie Rolf Bergmeier aufzeigt. Der Aufklärer Edward Gibbon kam in seinem berühmten Buch „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ bereits zu einem ähnlichen Ergebnis. Christliche Apologeten haben die Geschichte später umgeschrieben, bekanntlich eine ihrer liebsten Tätigkeiten. Sie machten unter anderem die „Dekadenz“ der Römer für den Fall Roms verantwortlich (zu viele Schwule, etc.). Dass ihre Religion zu exakt diesem Zeitpunkt zur Staatsreligion wurde, kann ja wohl nur ein Zufall gewesen sein.
Religionskritik ist also sehr wichtig. Rauschgiftsüchtige müssen zunächst einmal einsehen, dass sie süchtig sind, sonst können sie sich nicht heilen. Aufklärung erhöht, wie bereits in Gott und der Tod angemerkt, die Selbstbestimmung des Menschen und wirkt somit als Gegengift gegen die Hauptursache der Religiosität (persönliche Unsicherheit).
Fazit
Noch effektiver als die Aufklärung von religiösen Menschen ist jedoch die Überzeugung der ohnehin nicht mehr sonderlich religiösen Durchschnittsbürger von der Tatsache, dass Religion nicht etwas ist, das man respektieren müsste und das bestimmte Menschen irgendwie bräuchten – ohnehin eine sehr herablassende Haltung –, sondern etwas, dass der Gesellschaft großen Schaden zufügt. Neben der Aufklärung ist es wichtig, die Einkommensverteilung gerechter zu gestalten und außerdem muss der Staat aufhören, die beiden christlichen Großkirchen gegenüber anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu bevorzugen. Wenn die beiden Großkirchen weiterhin Mitglieder verlieren (und das werden sie), dann wird dies auch nicht mehr so unrealistisch erscheinen. Religiöser Pluralismus macht nicht nur Gläubige zufriedener und glücklicher, sondern er reduziert auch die Religiosität, welche nun von Wissenschaftlern als soziale Krankheit identifiziert wurde (nicht so sehr als Gedankenvirus, wie von Richard Dawkins vermutet).
Endlich können wir die Religion also wissenschaftlich erklären. Als eine Art „Nebenprodukt“ spendierte uns die moderne Religionsforschung außerdem eine Anleitung zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Packen wir es an.
Die Vorgänger:
Religion: Die neuesten Erkenntnisse (1)
Religion: Die neuesten Erkenntnisse (2)
Religion: Die neuesten Erkenntnisse (3)
(Danke an Rolf Degen für die vielen Tipps, bitte alle seine Bücher kaufen. Und bitte im Oktober auch mein Buch kaufen.)
Andreas Müller