Soziale Bedeutung „verworfenen“ Wissens

(hpd) Der Kulturwissenschaftler James Webb (1946-1980) legt mit „Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert“ eine voluminöse Studie zur Geschichte von irrrationalen Strömungen vor. Er erweist sich dabei als ausgezeichneter Kenner der Materie, hätte aber noch stärker die Analyse der Bedingungsfaktoren in die Darstellung integrieren können.

 

Esoterische und okkultistische Strömungen in der Gesellschaft werden von Intellektuellen und Wissenschaftlern gern belächelt. Angesichts ihrer Irrationalität gibt es auch gute Gründe dafür. Gleichwohl handelt es sich hierbei um eine durchaus kritikwürdige Perspektive, ignoriert sie doch mitunter die soziale Bedeutung derartiger Auffassungen. Genau diese hat entsprechende sozialwissenschaftliche Forschung zu motivieren, was aber bei diesem Thema nur selten der Fall war. Zu den Ausnahmen gehören die Arbeiten von James Webb (1946-1980), einem in der Wissenschaftlergemeinde aber isoliertem Erforscher des Wirkens okkulter Bewegungen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dazu veröffentlichte er auch zwei voluminöse Bände, welche die Entwicklungen in den beiden Zeitabschnitten behandeln. Nachdem mit „Das Zeitalter des Irrationalen“ (2008) bereits der zweite Band für das 20. Jahrhundert erschien, kam jetzt, erst danach, mit „Die Flucht vor der Vernunft“ der erste Band für das 19. Jahrhundert auf den Markt.

Eingeführt wird man durch das Vorwort des Religionswissenschaftlers Marco Frenschkowski, der über Leben und Werk Webbs informiert. Im Vorwort des Autors benennt dieser als Absicht seines Werkes, es sei der „Versuch aufzuzeigen, wie die Wiederbelebung des Okkulten als Schlüssel für eine Krise benutzt werden kann, die wir noch immer nicht ganz begriffen haben, und wie das Okkulte sich zu den besser beleuchteten Regionen der Gesellschaft verhält“ (S. 54). In diesem Sinne sind auch die neun Kapitel des Werkes gehalten, welche über einen biographischen Ansatz arbeiten und sich insbesondere an dem Wirken einzelner Personen orientieren. Es geht darin um so unterschiedliche Entwicklungen im 19. Jahrhundert wie die Herausbildung des Spiritismus und die Faszination für östliche Mysterien, die Bedeutung der Theosophie und die aufkommenden Endzeiterwartungen, das Esoterische bei der künstlerische Boheme und die Wiederkehr des Gnostizismus, das Spirituelle in der französischen Politik und den Okkultismus von romantischen Sozialisten.

"Verworfenes Wissen"

Seinen zentralen Arbeitsbegriff definiert Webb wie folgt: „Das Okkulte ist verworfenes Wissen. Es kann Wissen sein, das von der herrschenden Kultur aktiv verworfen wurde, oder Wissen, das sich freiwillig von den Gunstbezeugungen seiner Zeit zurückgezogen hat, weil es erkannt hat, dass es mit der herrschenden Lehre nicht vereinbar ist“ (S. 309). Als Gründe für das Aufkommen sieht er einen immer wieder auszumachenden Effekt: „Die Konsequenzen von zu viel Vernunft waren unerträglich, und man suchte Zuflucht in Deutungen des Universums, die eine größere Hoffnung zuließen“ (S. 311). Demnach lehnt der Autor zwar die beschriebenen Auffassungen der okkulten Unterströmungen der abendländischen Kultur ab, er nimmt aber durchaus eine selbstkritische Haltung ein, worauf Frenschkowski im Vorwort verweist: „Webb ist Rationalist: aber nicht mit der behäbigen und stolzen Überlegenheitsattitüde ... sondern mit der Trauer des suchenden und ernsthaften Gelehrten, der Respekt auch gegenüber denen bewahrt, deren Ideologien er nicht teilen kann“ (S. 13).

Auch dieses voluminöse Werk Webbs weist ihn als herausragenden Kenner der Thematik „Okkultistische Tendenzen im 19. und 20. Jahrhundert“ aus. In mühevoller Kleinarbeit trug er die wichtigsten Informationen zu Entwicklungstendenzen in Subkulturen der unterschiedlichen Länder zusammen. Daraus entstand eine beeindruckende Gesamtdarstellung, die man auch als Nachschlagewerk gut nutzen kann. Dieser Band enthält auch ein entsprechendes Namens- und Sachregister. Kritisch angemerkt werden muss allerdings, dass sich Webb mehr als Historiker denn als Analytiker irrrationaler und okkultistischer Bewegungen verstand. Der oben erwähnte Hinweis auf einen Erklärungsansatz steht relativ isoliert in einem doch stark beschreibend angelegten Werk. Gleichwohl liefert es durch seine Materialfülle eine wichtige Grundlage, um eben solche Analysen anstellen zu können. Denn die angesprochenen Tendenzen lassen sich immer wieder ausmachen, auch in den Umbruchphasen des 21. Jahrhunderts dürften sie ihre Anhänger finden.

Armin Pfahl-Traughber

James Webb, Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert. Aus dem englischen von Michael Siefener, Wiesbaden 2009 (marixverlag), 576 S.