Quantenwelt und Wirklichkeit

(hpd) Bei dem Buch „Quanten“ von Manjit Kumar, geht es um weit mehr als um eine Darstellung der Quantentheorie und ihrer Geschichte. Tatsächlich geht es, wie der Untertitel: „Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit“ schon andeutet, bei der Auseinandersetzung zur Interpretation der Quantenmechanik, um auch heute noch aktuelle grundlegende wissenschaftliche und philosophische Fragen.

Die Geschichte, die Kumar erzählt, handelt, neben einer Darstellung der Entwicklung der Quantentheorie und einer ausführlichen Schilderungen der Auseinandersetzung um die Interpretation ihrer Daten, insbesondere von den Menschen, die um Antworten auf die weit über die reine Wissenschaft hinausgehenden Fragen gerungen haben, die diese Theorie aufgeworfen hat.

Angefangen mit Max Planck, dem Begründer des „Quants“, arbeitet sich Kumar über Bohr, Einstein, Pauli, Heisenberg und Schrödinger systematisch durch die Lebensgeschichte aller maßgeblich an der Weiterentwicklung und Vervollständigung der Quantentheorie beteiligten Wissenschaftler.

Anders als bei einer nüchternen Darstellung oder Erklärung theoretischer Zusammenhänge oder Daten wird man als Leser in eine Geschichte voll von Verzweiflung, Besessenheit, Unverständnis, Neid aber auch Freundschaft, Respekt und gegenseitiger Unterstützung, hineingezogen.

Vor allem durch diese Konfrontation mit den Gefühlen der Wissenschaftler gibt Kumar dem Leser eine Vorstellung davon, wie brisant und bedeutsam, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Quantentheorie stehenden Fragen und Antworten sind.

Die Quantenwelt

„Das subatomare Reich der Quanten erinnert“, wie Kumar es treffend beschreibt, an „Alice im Wunderland“. Die Rationalität scheint außer Kraft gesetzt. Dinge können gleichzeitig an verschiedenen Orten existieren und gegenteilige Zustände einnehmen und Objekte, die an verschiedenen Enden des Universums sind, können sich augenblicklich beeinflussen usw.

Da jedes Objekt in der Makrowelt am Ende nur eine Ansammlung von Atomen ist, lässt sich keine klare Grenze zwischen Mikro- und Makrowelt ziehen. Das führte dazu, dass die Beobachtungen in der Welt der Quanten auf unsere erlebbare Welt übertragen wurden. Entsprechend waren die zeitgenössischen Physiker der Auffassung, auch unsere Welt der empirischen Erscheinungen müsse auf gleiche Weise zu erfassen sein. Man glaubte, die Quantentheorie könne eine vollständige Beschreibung auch der makroskopischen Wirklichkeit leisten. Hieraus ergaben sich paradoxe Konsequenzen, z. B. dass Lebewesen gleichzeitig tot und lebendig sein können usw. (Stichwort: „Schrödingers Katze“).

Die meisten Quantenphysiker sind auch heute noch von der umfassenden Gültigkeit der Quantenmechanik überzeugt. So wird die Debatte um ein neues Welt- und Menschenbild auf der Grundlage ihrer Daten keineswegs nur von Freaks geführt. Die Konstruktion von Paralleluniversen, die es ermöglicht, die quantenphysikalischen Beobachtungen der Experimentalphysiker irgendwie „logisch“ zu erklären, bringt im Gegenteil auch Philosophen und Physiker dazu, sich Gedanken über die Konsequenzen eines auf der Quantentheorie beruhenden „Multiversums“ zu machen. Was hat die „Erkenntnis“, gleichzeitig mehrere Existenzen in parallelen Universen zu führen für Auswirkungen auf unser Selbstverständnis, unsere Freiheit und unsere Sicht der Realität und ist vielleicht sogar eine ganz neue und andersartige Ethik notwendig? Das sind Fragen, mit denen sich diese Theoretiker auseinandersetzen (vgl. z. B. in „Die verrückte Welt der Paralleluniversen“, München 2009, von Tobias Hürter und Max Rauner).

Wer am Sinn solcher Überlegungen zweifelt, muss sich mit starken Gegenargumenten auseinandersetzten. So erklärt etwa der Quantenphysiker David Deutsch: „Die Quantentheorie paralleler Universen ist (…) keine mühsame mögliche Deutung, die sich aus geheimnisvollen theoretischen Überlegungen ergibt. Sie ist die einzig vertretbare Erklärung einer bemerkenswerten und der Erwartung zuwiderlaufenden Wirklichkeit“ („Die Physik der Welterkenntnis, Auf dem Weg zum universellen Verstehen“, München 2000).

Die Einstein Bohr Debatte

Einstein war wahrscheinlich der Erste, dem klar wurde, was mit der Entdeckung und den Deutungen der Quantenwelt auf dem Spiel stand. Seine Kritik an der Quantentheorie, an deren Entwicklung er selbst einen maßgeblichen Beitrag geleistet hatte, beinhaltet - neben seiner Verteidigung einer objektiven Wirklichkeit - eine Wissenschaftskritik, die immer noch hoch aktuell ist. (Zusammengefasst im Einstein-Podolsky-Rosen-Aufsatz, kurz EPR, der 1935 erschien).

Im Zentrum von Kumars Werk steht dem entsprechend die spannende Debatte zwischen Albert Einstein und Niels Bohr, die auf der Solvay Konferenz 1927 ihren Anfang nahm. Denn, spätestens mit Beginn dieser Auseinandersetzung wurde klar, dass es hier um fundamentale philosophische Fragen geht, die, wie Kumar ausführt, „maßgeblich Physiker und Philosophen bis auf den heutigen Tag in Atem halten.“

Es ging um das Wesen der Wirklichkeit und die Frage, welche Formen der Wirklichkeitsbeschreibung als sinnvoll anzusehen seien.

Bohr vertrat das oben beschriebene Weltbild der Quantenphysik und hielt, wie er im Schlusswort zur Solvay Konferenz erklärte „die Quantenmechanik für eine abgeschlossene Theorie“, „deren physikalische mathematische Grundannahmen keine Veränderung mehr zulasse“. Für Bohr war die Quantenmechanik demnach eine vollständige Fundamentaltheorie der Natur. Aus ihr leiteten er und seine Anhänger (die Prominentesten von ihnen waren Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli), wie Kumar erklärt, ihr philosophisches Weltbild ab.

Einstein hingegen hielt an seinem unerschütterlichen Glauben an die Existenz einer kausalen, beobachterunabhängigen Wirklichkeit und damit an der Grundlage der klassischen Physik, fest. Daher konnte für ihn, die Quantentheorie nur vorläufig und unvollständig sein.

 

Während, wie Kumar erklärt, z. B. für Bohr und Heisenberg der Übergang vom „Möglichen“ zum „Tatsächlichen“ während des Beobachtungsaktes stattfand, es konsequenterweise also keine unabhängig vom Beobachter existierende Wirklichkeit gibt, war für Einstein der Glaube an eine beobachterunabhängige Wirklichkeit unabdingbar für die wissenschaftliche Tätigkeit.

Wie verfahren die Debatte - die der Autor in seinem Buch sehr ausführlich und über den gesamten Zeitraum, d.h. bis zu Einsteins Tod, dokumentiert - letztendlich war, wird vielleicht aus Bohrs Erwiderung auf Einsteins berühmt gewordenen Ausspruch: „Gott würfelt nicht“ deutlich. Bohr erwiderte: „Aber es kann doch nicht unsere Sache sein, Gott vorzuschreiben, wie er die Welt regieren soll.“

Während Einstein „Gott“ mit Naturgesetzlichkeit und Rationalität gleichsetzte, letztlich damit also einen persönlichen, unabhängig von den Naturgesetzen existierenden Gott ablehnte, hielt Bohr an jenem unverstehbaren Wesen fest, das die Welt nach eigenen willkürlichen Gesetzen regiert.

Die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik als „Evangelium“

Ein wesentlicher Aspekt in Kumars Buch ist seine Kritik am Absolutheitsanspruch der Quantenmechanik.

Die Kopenhagener Deutung war „als Quantenorthodoxie so fest etabliert“, „wie ein päpstliches Edikt aus Rom“, schreibt er und zitiert den Experimentalphysiker John Clauser: „Niemand, der nicht beruflich Selbstmord begehen wollte, wagte es die Kopenhagener Deutung in Frage zu stellen.“ „Unvoreingenommene Fragen zu den Wundern und Eigenheiten der Quantenmechanik“, die über die Kopenhagener Deutung (eine Interpretation der Quantenmechanik, die auf verschiedenen theoretischen Überlegungen zur Deutung der Quantenwelt beruht) hinausgingen, wurden „durch verschiedene religiöse Stigmata und soziale Zwänge praktisch verboten, die ihn ihrer Gesamtheit auf einen missionarischen Kreuzzug gegen derartiges Denken hinausliefen.“

Das sind Aussagen, die tatsächlich aufhorchen lassen. Ist es doch gerade der Anspruch, jederzeit offen für neue Erkenntnisse und Gedanken zu sein, sofern sie auf rational nachvollziehbaren Argumenten beruhen, der die Naturwissenschaften von religiösen Glaubensbekenntnissen unterscheidet.

Paradox vollständig oder rational unvollständig

Die Quantenmechanik „funktioniert“, das ist keine Frage. Sie formt, wie Kumar feststellt, unsere moderne Welt, indem sie alles ermöglicht – „vom Computer bis zur Waschmaschine, vom Handy bis zur Kernwaffe“.

Tatsache ist auch, dass die Unvollständigkeit der Quantentheorie experimentell nie nachgewiesen werden konnte, das gibt Kumar offen zu und dokumentiert er ausführlich bis hin zu den jüngsten Experimenten. Wozu er (bzw. die Position Einsteins) in seinem Werk jedoch letztlich auffordert ist, immer wachsam zu bleiben und die eigene Rationalität nicht einer Autorität zu unterwerfen, auch wenn diese in einer etablierten Theorie besteht. Deutlich wird, dass es immer bedenklich stimmen sollte, wenn eine Theorie für abgeschlossen und vollständig erklärt wird. Denn, wenn es kein kritisches Hinterfragen und keine Offenheit für neue Erkenntnisse mehr gibt, wird eine Theorie schnell zum Dogma und unterscheidet sich nicht mehr wesentlich von dem, was die Religionen bieten.
Erstaunlich ist in jedem Fall zu erfahren, wie bereitwillig hochintelligente Menschen lieber die rationale Deutung der Welt aufgeben, als ernsthaft zu erwägen, dass eine paradoxe Theorie, nach der wir mehrfach parallel existieren, gleichzeitig hier und dort, tot und lebendig sind, unvollständig sein könnte.

Fazit: Kumar ist es in seinem Werk nicht nur gelungen, die philosophischen Fragen und Konsequenzen der legendären Auseinandersetzung zwischen dem Verfasser der Relativitätstheorie und dem einflussreichsten Begründer der Quantentheorie differenziert darzustellen. Es ist ihm auch gelungen ein spannendes, lehrreiches, nachdenkenswertes und sogar bewegendes Buch über Inhalt und Geschichte einer Theorie zu schreiben, die “die Welt verändert hat”.

Anna Ignatius

Manjit Kumar: „Quanten“ - Einstein Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit -, Berlin, Berlin Verlag, 2009. 540 Seiten, ISBN-13: 978-3827004963, 28,00 Euro.