Rezension

Die Ohnmacht des Völkerrechts

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Saal im Gebäude der UN-Generalversammlung
UN-Generalversammlung

Christoph Safferling bietet in seinem Buch "Ohnmacht des Völkerrechts – Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen" einen verständlichen Überblick über Entwicklung, Grundlagen und Grenzen des modernen Völkerrechts und zeigt anhand historischer Etappen und aktueller Konflikte dessen fortwährende Herausforderungen. Dabei wird deutlich, wie politische Machtverhältnisse, internationale Institutionen und neue Phänomene wie "Lawfare" das Recht immer wieder an seine Grenzen bringen. Dennoch plädiert das Buch dafür, das Völkerrecht nicht abzuschreiben, sondern zu stärken.

Diskussionen über das Völkerrecht sind in der öffentlichen Debatte angekommen: War die Bombardierung der iranischen Atomanlagen durch Israel ein Bruch des Völkerrechts? Welche Rechte und Pflichten hat Israel nach dem Völkerrecht gegenüber der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens? Ist die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni der Beihilfe zum Völkermord schuldig? Fragen wie diese beschäftigen inzwischen Feuilletons und Social Media.

In diese Stimmung hinein liefert Christoph Safferling ein Buch, das auch für den Laien, der mit Geschichte und Quellen des Völkerrechts nicht vertraut ist, gut nachvollziehbar einen Abriss des Völkerrechts bietet und seine Entwicklung von den westfälischen Verträgen über die Nürnberger Prozesse bis ins Hier und Heute erklärt. Über die Grundlagen des Völkerrechts in bi- oder multilateralen Verträgen, dem Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsprinzipien, welche von "Kulturvölkern" in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen gemeinhin anerkannt werden, werden die Rechtsquellen erläutert und deren Grenzen und Schwierigkeiten nicht verschwiegen. Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Zivil- aber auch Strafrecht werden dargelegt und der Leser bekommt schon in den ersten, eher theoretisch-historisch orientierten Kapiteln eine Ahnung zu welchen Problemen dies bei der Anwendung des Völkerrechts auf die real existierenden Konflikte, die das 21. Jahrhundert plagen, führen wird. Dabei bleibt das Buch gut lesbar und streut auch die ein oder andere Anekdote ein. Oder hätten Sie gewusst, dass bei den Nürnberger Prozessen zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte simultan übersetzt wurde?

Buchcover

Nach dem ersten Abschnitt, der mit "Das Versprechen von Nürnberg" überschrieben ist und die Entwicklung des Völkerrechts darlegt, folgt im zweiten Abschnitt eine Übersicht über die wichtigsten Stationen des Völkerrechts in Zeiten des Kalten Krieges und darüber hinaus bis zur Wende von 9/11. Errungenschaften wie die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord werden ebenso erläutert wie die Spannungen, die aus der politischen Lage zwischen Ost und West erwuchsen. So wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zwar 1948 mit 48 Stimmen angenommen, es hatten sich jedoch der gesamte Ostblock ebenso wie Saudi-Arabien und Südafrika der Stimme enthalten. Der Ostblock war dabei keineswegs gegen die Idee von Menschenrechten, vielmehr forderte man dort die Anerkennung auch von wirtschaftlichen und sozialen Rechten und empfand den Fokus auf politische und bürgerliche Rechte der westlichen Staaten als defizitär.

Mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH), der für Staatenbeschwerden zuständig und kein Strafgericht ist, und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) werden zwei wichtige Organisationen der Rechtspflege des Völkerrechts eingeführt und deren Vorzüge sowie deren Schwächen diskutiert. Auch die Organisation der Vereinten Nationen (UN) selbst wird in ihrer Institutionalisierung einer kritischen Analyse unterzogen und es drängt sich sehr schnell der Verdacht auf, dass die in der UN gespiegelte Machtverteilung, die aus dem 2. Weltkrieg erwuchs, im 21. Jahrhundert zu Problemen führen würde. Gleichwohl, schreibt Safferling, "bildeten die Vereinten Nationen stets den wichtigsten Resonanzraum des Völkerrechts". Die Fallstudien zu Somalia, Ex-Jugoslawien und Ruanda runden den Überblick ab und stellen die Frage, ob die großen Erwartungen an die friedensstiftende Kraft des Rechts gerechtfertigt sind oder sein können. Speziell das Vorgehen der NATO gegen Serbien wertet Safferling als "das Ende des goldenen Jahrzehnts des Völkerrechts".

Mit dem auf die Anschläge von 9/11 folgenden "Krieg gegen den Terror" wurden völkerrechtliche Maßstäbe "auf den Kopf gestellt" und der Ton für die letzten 25 Jahre gesetzt, die Safferling unter dem Abschnitt "Enttäuschte Hoffnungen" behandelt. Der Bezug von UN-Sicherheitsresolution 1368 auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 war völkerrechtlich fragwürdig, war Al-Qaida im völkerrechtlichen Sinne doch eine private Organisation, und die Einrichtung von Guantanamo auf Kuba kann man nur als offenen Rechtsbruch bezeichnen. Völkerrechtlich offene Probleme, von Zypern über Kurdistan bis zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, erwiesen sich als rechtlich bisher nicht lösbar und verweisen auf alte und neue Gräben zwischen Ost und West. Eine alte Hilflosigkeit des Rechts gegenüber der Machtpolitik trifft auf neue Phänomene, wie das sogenannte "Lawfare", bei dem man versucht sich über wechselseitige rechtliche Maßnahmen zu "bekriegen". Erlässt der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin, schlägt die Russische Föderation mit einem Haftbefehl gegen die Richter des Internationalen Gerichtshofs zurück. Auch versucht man teilweise, über medienwirksame Anklagen Aufmerksamkeit für politische Themen zu erwirken. Ob dies am Ende dem Völkerrecht zuträglich sein wird, wird die Zeit zeigen.

Als Fazit bleibt eine neuerliche Respektlosigkeit vor dem Recht, die jedoch nicht so interpretiert werden sollte, dass man das Völkerrecht deswegen abschreiben sollte. Ganz im Gegenteil plädiert Safferling dafür, das Völkerrecht ernst zu nehmen und schlägt sechs konkrete Maßnahmen vor, wie dies praktisch umgesetzt werden kann. Betrachtet man den aktuellen Zustand der internationalen Beziehungen, ist es das richtige Buch zur richtigen Zeit, das aus der Entwicklung des Völkerrechts auch dessen Schwachpunkte adressiert, jedoch nicht, um das Völkerrecht verächtlich zu machen, sondern um einen Weg aus der Misere zu zeigen.

Christoph Safferling, Ohnmacht des Völkerrechts – Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen, München 2025, dtv, 263 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-423-28506-3

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