Unterwegs zu einem anderen Islam

Im letzten Teil der Rezension befasse ich mich mit dem dritten Autoren, dessen Texte sie im Buch vorstellt:

Hasan Yusefi Eshkevari

Bei diesem Religionslehrer handelt es sich um den Favoriten der Autorin - wie sie selbst zugibt und wie man der Einleitung unschwer entnehmen kann. Eshkevari ist auch in Deutschland kein Unbekannter. War er doch im April 2000 beim Eklat in der Heinrich-Böll-Stiftung als Redner beteiligt. Diese Konferenz war als Forum für einen Dialog mit den Reformkräften gedacht; wurde jedoch von diversen Gruppierungen (unter anderem auch Exiliranern) unmöglich gemacht. Vermutlich gab es auch Mitarbeiter des iranischen Geheimdiestes unter den Störern, die sich als "agents provocateurs" betätigten. Die Heinrich-Böll-Stiftung geht darauf in ihrem Jahresbericht 2001 ein und verweist auch darauf, dass alle iranischen Teilnehmer der Konferenz nach ihrer Rückkehr verhaftet wurden.

Nun, aus Sicht des dort herrschenden Regimes verwundert das nicht, schrieb Eshkevari in der Süddeutschen Zeitung (vom 27.4.2000) [Artikel ist online leider nicht auffindbar]: „Regierung und Religion sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, sie miteinander zu verweben, schadet sowohl der Religion als auch der Politik.“ (Seite 112 - ursprünglich aus einem Interview mit der Süddeutschen.)

Dabei beruft er sich - wie die beiden bereits vorgestellten Geistlichen -, auf den Koran und die Hadithen. Er vertritt die Auffassung, dass zwar die Propheten den Anspruch besaßen, die Wahrheit zu kennen; aber nie behauptet und gewollt zu haben, sich in jede Angelegenheit des täglichen Lebens einmischen zu müssen. Damit stellt sich auch Eskevari gegen das iranische System, das sich als "Herrschaft der Rechtsgelehrten" ausgibt und aber tatsächlich die Religion zur Unterdrückung der universellen Menschenrechte nutzt. (Und sich, das sei vermerkt, sehr unreligiös bereichert.) "Deshalb bedarf es heute einer Reform des iranischen Systems" schreibt Katajun Amirpur, um dann Eshkevari zu zitieren: „Auch der Glaube an die Demokratie und die Volksherrschaft ist ... den Reformern ... gemein: Das Volk muss über seine Angelegenheiten bestimmen. Die Reformer lehnen damit alle anderen Formen der Herrschaft ab - sowie die Existenz einer staatlichen Religion.“ (Seite 115)

Da Eshkevari auch den Kopftuchzwang für die Frauen ablehnt und die permanente Einmischung des Staates in die privaten Angelegenheiten seiner Bevölkerung wurde er zu einem der wichtigsten Gegner des Mullah-Regimes. Denn: „...für Eshkevari gibt es keinen Zweifel: Islam und Demokratie sind vereinar, und die Demokratie ist sogar die Herrschaftsform, die dem Islam am meisten entspricht. Wieso und warum erklärt er in seinem Aufsatz "Eine demokratische islamische Regierung"“ (Seite 120)

Der genannte Aufsatz sowie der extra für Amirpurs Sammlung verfasste "Die Menschenrechte und die gesellschaftstrelevanten Bestimmungen des Islam" bilden den Werkausschnitt, den die Herausgeberin zusammengestellt hat.

Den ersten Text beginnt Hasan Yusefi Eshkevari mit einem groben historischen Auszug über die Entstehung und Geschichte der Religion. Er benennt die drei Hauptströmungen, die islamisches Denken heute prägen: fundamentalistische Denkweise, laizistisch-säkulare Denkweise (die nicht zwingend auch atheistisch sein muss) sowie derer, die er vertritt: eine Denkweise, die den Islam und die Demokratie für vereinbar halten.

Eshkevari listet dann auf, welche (bei ihm sind es 14) Fragen zu beantworten sind, um eine Vereinbarkeit (oder Unvereinbarkeit) von Islam und Demokratie zu beantworten. Auch er geht grundsätzlich und ohne kritische Frage davon aus, dass der Islam eine gerechte Religion ist und daher Gerechtigkeit als Grundlage der Regierung zwingend auf Demokratie hinauslaufen muss. „Diese Behauptung und dieses logisch und praktisch sich gegenseitig Bedingende von Demokratie und Gerechtigkeit folgt sowohl dem Text der Religion ... als auch aus den Erfahrungen, die die Menschen im Laufe der Geschichte gemacht haben. In der Anthropologie des Korans ist der Mensch frei und mit einem eigenen Willen erschaffen worden. [...] jeder Mensch (ist) für seine Taten und sein Denken und Handeln verantwortlich ... Er wählt sich seine Religion und seine religiöse Gesetzgebung selbst aus.“ (Seite 133)

Es ist klar, dass ich dieses Zitat nicht unwidersprochen hinnehmen kann. Denn anders als Eshkevari hier ausführt, kann sich kein Mensch wirklich frei für seine Religion entscheiden. Sondern er wird in die Umstände hinein geboren und innerhalb der Regeln der Religion seiner Eltern aufwachsen und entsprechend erzogen. Noch viel weniger kann sich der Mensch seine religiöse Gesetzgebung selbst auswählen. Das wäre sehr hilfreich. Für die Menschen; für die Religionen als Einheit eines Glaubens vermutlich nicht.

Hier stößt auch Eshkevari an die Grenzen des Raumes, in dem sein Denken sich bewegt, wenn er schreibt: „...denn wenn wir leugnen, dass der Mensch in jedem Bereich über einen freien Willen verfügt, haben weder die Rechtleitung noch die ethische Vervollkommnung und die Bewegung in Richtung auf Gott eine Bedeutung.“ (Seite 133)

Trotz dieser deterministischen Denkmuster, aus denen er so wenig entkommen kann wie die Herausgeberin bemüht sich Eshkevari weiter, die Vereinbarkeit des Islam mit der Demokratie nachzuweisen: „Die Quellen der Vernunft und der Überlieferung des Islams berichten davon, dass Macht und Herrschaft und Staat in unserem religiösen Denken und unserer religiösen Tradition eine irdische Quelle haben - nämlich das Volk - und keine himmlische.“ (Seite 138)

Damit spricht er den Rechtsgelehrten die Grundlage ab, nach der sie sich an der Macht erhalten wollen. Doch letztlich stellt sich auch ihm die Frage, weshalb es denn überhaupt notwendig ist, darüber nachzudenken, weshalb man eine religiöse Regierung benötigt, wenn doch Religion nicht Grundlage des Staates sein kann. „Die Antwort ist, dass die Definition, die ich von der Religion und ihrer Rolle und ihrer Funktion gegeben habe, dergestalt ist, dass weder die Religion noch die religiösen Menschen in Bezug auf die Regierung und das Verhalten der Regierenden gleichgültig und ohne Meinung sein können...“ (Seite 143)

Es tut mir leid, aber das ist für mich keine Begründung. Das ist Scholastik.

Und so tut sich Eshkevari sehr schwer, darüber zu sprechen, was geschieht, wenn in einer demokratischen Wahl sich die Mehrheit dazu entschließt, eben nicht religiös zu wählen, sondern säkular. Sein Credo bleibt verschwommen, wenn er zwar sagt, dass natürlich eine demokratisch gewählte, nichtmuslimische Regierung an der Macht wäre, diese zu respektieren sei; aber natürlich sei es den Muslimen unbenommen, mit ebenso demokratischen Mitteln die Macht wieder zu erlangen. Ich halte ihm zu Gute, dass er diesen Aufsatz für eine iranische Leserschaft schrieb, die er möglicherweise nicht verprellen wollte.

Diese "Entschuldigung" gilt für den zweiten Aufsatz jedoch nicht. In "Die Menschenrechte und die gesellschaftstrelevanten Bestimmungen des Islam" setzt sich Eshkevari vor allem (wie auch Kadivar) mit den Vorschriften des Islam auseinander, die er ebenfalls in "unveränderliche" und "wandelbare" Vorschriften unterteilt. Während erstere vor allem auf das Verhältnis der Menschen zu Gott abstellen, regeln zweitere das Leben der Menschen miteinander und haben sich daher den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten anzupassen. „In den Jahren vor der iranischen Revolution [1979] kam der Terminus "traditionelle Rechtswissenschft versus dynamische Rechtswissenschaft" unter den modernen, revolutionären und politischen Geistlichen in Mode.“ (Seite 158)

Weshalb Eshkevari jedoch auch Khomeyni als "modernen" Rechtstheologen bezeichnet, erschließt sich mir nicht. Weil dieser die politische Macht für den Klerus gewann? Weil dieser und seine Nachfolger einen fundamentalistischen Weg einschlugen?

Im Weiteren versucht Eshkevari dediziert auszuarbeiten, welche Vorschriften wandelbar und welche festgeschrieben sind. Dabei geht er immer wieder auf die verschiedenen Denkschulen und Differenzen ein. Allerdings ist das dann eher Thema für einen Islamwissenschaftler und nicht für einen eher laienhaften Leser. Ich gebe zu: das ist nicht das, was mich interessiert. Zumal mir das viel zu wenig lösungsorientiert ist. Und fast klingt es, als wäre das auch Eshkevari so gegangen, wenn er seinen Aufsatz mit den Worten beendet: „Hinsichtlich der Frage der Menschenrechte und des Islams gibt es unterschiedliche Standpunkte und einander entgegen gesetzte Meinungen. Manche halten beides für vereinbar und andere sind der gegenteiligen Meinung. [...] Meiner Meinung nach ist es unmöglich, alle Paragraphen der Menschenrechte aus den religiösen Texten herzuleiten.“ (Seite 180)