Unterwegs zu einem anderen Islam

Mohsen Kadivar

ist einer der beiden. Seine Hauptthese, die ihn als islamischen Reformer ausweist, ist folgende: „Die Menschen erwarten zwar, dass ihnen die Religion generelle Prinzipien und Werte in die Hand gebe, aber die praktischen Angelegenheiten gehören in den Bereich der so genannten „menschlichen Erfahrungen“ [...] Deshalb würden … in unterschiedlichen geschichtlichen Perioden unterschiedliche politische und ökonomische Systeme gebraucht.“ (Seite 46)

Für diese auch öffentlich vertretene Haltung ist Kadivar mehrfach in Haft gewesen. Er lehnt die Staatsführung durch "Die Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten" (velayat) - wie sie die "Islamische Republik" Iran derzeit als Staatsform kultiviert -, generell ab, „weil sie von der Unmündigkeit des Volkes ausgehe, da das Volk laut diesem Konzept eines Oheims oder eines Hirten bedürfe.“ (Seite 50)

Katajun Amirpur fasst es in ihren einleitenden Worten so zusammen, dass Kadivar feststellt, dass der traditionelle Islam mit einer Demokratie tatsächlich nicht vereinbar ist. Ein aufgeklärter, von ihm propagierter Reformislam sehr wohl. So heißt denn auch der erste Text im Buch von Mohsen Kadivar "Islam und Demokratie, ein Widerspruch?". Es ist zu erkennen, dass Kadivar nicht nur an einer islamischen, sondern auch an einer staatlichen Hochschule studiert hat; seine Schriften sind von bezwingender Logik.

Er definiert erst einmal, was er unter "traditionellem Islam" und "Reformislam" versteht. Das liest sich wie ein Lehrbuch; nutzt er doch Aufzählungen, in denen er sozusagen Merksätze definiert.

Ich gebe zu, dass mich vor allem die strikten Vorschriften des traditionellen Islam schaudern lassen. Solch ein eingeschränktes und nur von Verboten umgebenes Weltbild kann ich mir als im aufgeklärten Europa Aufgewachsener kaum vorstellen; vor allem nicht, dass dies tatsächlich für zeitgenössische Menschen noch immer Glaubensbekenntnis ist. Schon ein Satz wie „Alle religiösen Vorschriften, die sich im Koran befinden, sind feststehend und überzeitlich und unveränderlich“ (Seite 57) lässt mich den Kopf schütteln. Allerdings auch Kadivar, denn dieser Glaubensgrundsatz ist auch für ihn falsch. Denn, so argumentiert er, man könne den Koran und die Hadithen nur auslegen, wenn man die historischen Bedingungen ihres Entstehens mit bedenkt. (Diese Lesart, das als Zwischenbemerkung, täte auch den anderen Religionen gut.) Und so ist es regelrecht revolutionär, wenn er die Grundgedanken des Reformislam so charakterisiert: „Alle Mitglieder der Gesellschaft und jeder einzelne hat ohne ... Unterschiede der Religion, des Geschlechts, der Rasse und der Ansicht...dieselben Rechte. [...] Alle sind frei in der Wahl ihrer Religion [und der Nichtausübung einer solchen! - Anm. d. Autors]... niemand kann zu einer religiösen Handlung gezwungen werden. [...] alle religiösen Aussagen ... sind hinterfragbar und kritisierbar. […] Diese Vorschriften [gemeint sind Koran und Sunna] sind unter Beachtung der örtlichen und zeitlichen Umstände herabgesandt worden, und wenn diese Umstände nicht mehr existieren, dann verlieren die Vorschriften ihre Gültigkeit und Relevanz.“ (Seite 60 ff.)

Anschließend erklärt Mohsen Kadivar seinen Lesern, was Demokratie ist. Anders als Shabestari ist er nicht ganz so unkritisch, sondern stellt berechtigt fest, dass es keine einheitliche Demokratie-Definition gibt, geben kann, da sich die Umstände nicht gleichen. Er stellt dann jedoch die Gemeinsamkeiten heraus: freie und gerechte Wahlen; die politische Gleichheit und die Möglichkeit der allgemeinen Entscheidungsfindung über Abmachungen und Politik (Vgl. Seite 66).

Darauf aufbauend prüft Kadivar in den Abschnitten "Islam und öffentliche Kontrolle", "Der Islam und die politische Gleichheit" sowie "Die Möglichkeit der Entscheidungsfindung der Allgemeinheit über Bestimmungen und Politik", ob und in wie weit der Islam mit den Prinzipien der Demokratie vereinbar sein könnte. Gerade dieser Teil ist sehr lesenswert. Vor allem auch, um zu verstehen, dass es einiger geistiger Verrenkungen bedarf, um dem Islam in der Form, wie wir ihn kennen bzw. wahrnehmen, eine Möglichkeit zu eröffnen, demokratisch zu werden. Nach meiner Meinung ist das, was Kadivar letztlich am Islam mit der Demokratie vereinbar hält, nicht sehr religiös mehr. Letztlich läuft das - ohne dass er das so schreibt -, auf einen säkularen Staat hinaus, in dem Religion eine Rolle spielt, aber keine tragende (und schon gar keine staatstragende) mehr. „Wir kommen also zu dem Schluss: Traditioneller Islam und Demokratie sind in allen drei untersuchten Prinzipien nicht vereinbar, während Reformislam und Demokratie in allen drei untersuchten Prinzipien vereinbar sind.“ (Seite 79)

In zweiten, von Katajun Amirpur ausgewählten Text schreibt Kadivar "Vom historischen Islam zum spirituellen Islam". Hierauf werde ich nicht so ausführlich eingehen. Denn letztlich vertieft der Autor nur die im ersten Artikel bereits gemachte Feststellung, dass Interpreten des Koran und anderer Schriften die historischen Umstände mitdenken müssen: „In dem Maße, wie wir uns von der vorgeblich heiligen Vergangenheit entfernen und wie der Abstand zwischen den Umständen jener Zeit und uns sich vergrößert, so wird ... behauptet, haben wir uns vom ursprünglichen und wahren Islam entfernt. Deshalb ist mit der sogenannten Wiederbelebung der Religion nichts anderes gemeint, als dass man jene anfänglichen Umstände und Bedingungen wieder entstehen lassen will.“ (Seite 81)

Das lese ich als Hinweis auf und Warnung vor dem aktuellen Fundamentalismus. Selbstverständlich ist diese Lesart des Islam nicht die von Mohsen Kadiva vertretene. Im Gegenteil bekämpft er sie. Dazu bedient er sich einer Unterscheidung zwischen unveränderlichen und veränderbaren Teilen der Lehre. Dem dient der gesamte Text. Nach seiner Auffassung ist der "spirituelle Islam" derjenige, der auch eine Demokratisierung ermöglicht.

Hier schließt Kadivar nahtlos an Shabestari an, der als wichtigsten Grund für den Islam dessen Gerechtigkeit benennt. Insofern schlägt Kadivar den Bogen von der Gerechtigkeit, die sich aus den religiösen Vorschriften (seiner Auffassung nach) ergeben zu denen, die eine Demokratie charakterisieren. Nur die menschliche Vernunft sein in der Lage, so Kadivar, die Probleme der Zeit und des Miteinander zu lösen. Kein Mensch kann religiöse Vorschriften aufstellen und daher nicht aufgrund derer moderne Staaten leiten wollen, sondern das müsse auf Grund vernünftiger Gesetze erfolgen - ohne Hinweis auf die Religion (Vgl. Seite 104).

Das ist - um das noch einmal klar zu stellen - eine verheerende Kritik am herrschenden System in Iran. Dort maßt sich eine Clique selbsternannter religiöser Führer an, ihre rückwärts gewandten Ideen eines Gottesstaates einem Volk auf zu oktroyieren, dass gebildeter und aufgeklärter ist, als jene es wahrhaben wollen.