Zur Identität Europas

                                                              VII

Von Seiten der christlichen Kirchen wird immer wieder mit Hinweis auf ein Bibelzitat das Urheberrecht für die Trennung von Staat und Kirche beansprucht.

Matthäus 22 (17) „Darum sage uns, was dünkt dich: Ist’s recht, dass man dem Kaiser Zins gebe, oder nicht ?“ (21) „Da sprach er zu ihnen: So gebet dem Kaiser was dem Kaiser ist und Gott, was Gottes ist.“

Dieses Zitat wurde während 1500 Jahren Staatskirchentums so interpretiert, dass der Kaiser die Steuern einnimmt und dafür alle kirchlichen Ausgaben bezahlt. Bis heute – trotz Abschaffung der Staatskirche – wird die Kirchensteuer vom Staat eingezogen und zusätzlich werden - durch Staatskirchenverträge und Konkordate abgesichert – kirchliche Ausgaben aus dem Staatshaushalt bezahlt. Mit der Trennung von Staat und Kirche hat dieses Bibelzitat also nichts zu tun.

Aus den Reformverträgen von Lissabon lassen sich Privilegien oder Hoheitsrechte der christlichen Kirchen oder anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für deren Insignien als Symbol der europäischen Geschichte jedenfalls nicht herleiten. Die Quellen jener Werte, auf die sich die europäische Union gründet – Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung, Pluralismus – liegen in der europäischen Antike, der Renaissance, im Humanismus und der Aufklärung – jedoch nicht im Monotheismus.

Eine verfassungsgemäße Trennung von staatlichen und religiösen Institutionen bedeutet:
1) Im privaten Bereich darf jeder seinen Glaubensinhalten und religiösen Institutionen folgen. Diese Freiheit steht unter staatlichem Schutz.
2) Im öffentlichen Bereich gelten die von staatlichen Institutionen demokratisch verfassten Gesetze. Ihre Einhaltung überwacht der Verfassungsschutz.
Die Gesetze demokratischer Staaten gelten für alle Bürger, die Gesetze religiöser Institutionen nur für deren Mitglieder.

Im Widerspruch zur europäischen Verfassung steht der 16. Artikel aus der „Augsburger Konfession“, der sich auf die Apostelgeschichte des Lukas Nr. 4 bezieht: „Deshalb sind die Christen schuldig, der Obrigkeit und ihren Geboten gehorsam zu sein in allem, so ohne Sünde geschehen mag; denn so der Obrigkeit ohne Sünde nicht geschehen mag, soll man Gott mehr gehorsam sein, denn den Menschen.“

Im Einklang mit der europäischen Verfassung steht die Grundsatzerklärung des Koordinierungsrates säkularer Organisationen:

„Die säkularen Weltanschauungsverbände in Deutschland stehen in einer langen Tradition europäischer Geschichte, die von der Antike, der Renaissance und dem Humanismus bis zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, der Aufklärung und den laizistischen Staatstheorien reicht ... Sie sind den Idealen der Menschenrechte verpflichtet... .treten für Toleranz und Gewaltverzicht zwischen den Kulturen und Religionen ein ... Sie streben nach individueller Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung. Gesetze staatlicher Institutionen gelten für alle Bürger, Gesetze religiöser Institutionen nur für deren Mitglieder.

 

                                                            VIII

Was also ist zu tun ?

Es geht nicht um die Zurückweisung des christlichen oder irgendeines anderen Glaubens, wohl aber um entschiedenen Widerstand gegen jede Art von Hegemonie des christlichen oder irgendeines anderen Glaubens im öffentlichen Bereich. Offenbar fehlt bei christlich geprägten Verantwortungsträgern bis hin zu hochrangigen Politikern und Richtern dafür das Bewusstsein. Wann werden die politischen Parteien den Reformvertrag über die europäische Union im Hinblick auf die weltanschauliche Neutralität des Staates in Deutschland vollständig umsetzen?

Helmut Kramer