EU-Parlament lehnt anlasslose Überwachung ab

Die "Chatkontrolle" wird so nicht kommen

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Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Zum Beispiel über funktionierende demokratische Strukturen: Der Ausschuss des Europaparlaments für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) hat sich darauf geeinigt, den Vorschlag der EU-Kommission für tiefe Eingriffe in die Privatsphäre abzulehnen, weil dieser eindeutig gegen europäische Grundwerte verstößt. Damit ist ein gefährlicher Gesetzesvorschlag der EU-Kommission zwar noch nicht vom Tisch, aber deutlich angezählt und wird sicher nicht wie geplant umgesetzt.

Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verfolgt mit der sogenannten Chatkontrolle seit Jahren ein Projekt von Überwachungsgesetzen, die sich gegen Jedermann richten. Sie stellen grundlegende EU-Prinzipen infrage, wie etwa das Postgeheimnis, die DSGVO, die Unschuldsvermutung, eine wirksame Verschlüsselung, die Integrität elektronischer Systeme oder die Möglichkeit von Anonymität im Internet. Diese extremen Mittel wurden damit gerechtfertigt, dass sie sich einzig auf ein gutes Ziel richten: Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen und die Verbreitung von entsprechenden Abbildungen ("CSAM") zu unterbinden. Ein wichtiges und hehres Motiv, mit dem sich offenbar lange alles Mögliche erreichen ließ.

Neben dieser moralischen Brechstange hatte es auch an Beschwichtigungen nicht gemangelt: Es handele sich nur um ganz themenspezifische Scans. Es würden nur abstrakte Marker (Hashwerte) verwendet, um bekannte Inhalte aufzuspüren. Und eine Ausweitung auf andere Fahndungssegmente, etwa gegen Drogenhandel oder Terrorismus, sei gänzlich ausgeschlossen. "Nun, wer das glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann", spottete die Europa-Abgeordnete Birgit Sippel (SPD) gegenüber Johansson im LIBE-Ausschuss. Und tatsächlich waren seitens Europol bereits Wünsche für eine solche Ausweitung angemeldet worden – wie auch nicht?

Denn bei der Chatkontrolle handelt es sich um eine Überwachungsinfrastruktur, die weltweit nicht ihresgleichen hätte. Eine KI-Denunziationsmaschine, die großenteils fehlerhafte Indizien gegen großenteils unbescholtene Menschen sammelt. Sie beträfe alle Inhalte elektronischer Kommunikation, inklusive Telefonie, Chats, Videochats, Spielplattformen, Clouddienste etc. Die Hinweise würden automatisch an Polizeien und bestimmte NGOs weitergeleitet und dort von Menschen ausgewertet. Natürlich wären auch Jugendliche selber betroffen, die einvernehmlich erotische Nachrichten austauschen. Doch nicht nur im Intimleben würde die Überwachung zu sofortigen Einschüchterungs-Effekten führen. Auch politische Akteure, sexuelle Minderheiten oder Whistleblower müssten sich fragen, ob sie nicht früher oder später ins Fadenkreuz einer ausgeweiteten Überwachung geraten.

So ist es gut, dass sich der hier federführende LIBE-Ausschuss klar gegen das Vorhaben ausgesprochen hat.

"Asteroid verfehlt Erde" – wäre das eine gute Nachricht?

Für viele Bürger hat die EU-Gesetzgebung etwas ähnlich Schicksalhaftes und stark Informationsabhängiges wie ein möglicher Asteroiden­einschlag. Bestenfalls atmet man auf – bekommt aber auch ein Bewusstsein für die bestehende Gefahr. Mir stellt sich die Sache anders dar. Als Beobachter und auch Akteur zum Thema Chatkontrolle möchte ich es genauer wissen:

  1. Was hat zu der Gefährdung geführt?
  2. Wer oder was hält dagegen?
  3. Wann und inwiefern ist wieder mit Ähnlichem zu rechnen?

Fest steht aus meiner Sicht: Die Gefahr für unsere Demokratie war und ist in diesem Fall immer noch sehr real. Immerhin haben sich 2021 rund 80 Prozent der damaligen Europaabgeordneten ohne Weiteres auf die Kompetenz ihrer Fraktions-"Experten" verlassen und die vorausgehende "E-Privacy Ausnahmeregelung" durchgewunken. Diese freiwillig durchgeführten CSAM-Scans sind seitdem legal und werden auf mehreren großen Plattformen praktiziert (u.a. von Alpha, Microsoft, Meta) – mit unbekanntem Erfolg und teils verstörenden Folgen.

Sie verpflichtend zu machen war unter anderem Inhalt der nun vorgeschlagenen zweiten Stufe der Chatkontrolle.

Die EU-Kommission steht vor einem Scherbenhaufen ihrer Ignoranz gegenüber kompetenter Kritik.

Dazu wird es nun hoffentlich nicht mehr kommen. Stattdessen sollte die Ausnahmegenehmigung auslaufen und die Scans damit wieder illegal werden. In diesem Fall können wir ganz sicher mit Vorhaltungen rechnen, dass man die Kinder nun wieder schutzlos den Übergriffen ausliefere, weil man plötzlich blind sei. Zum Glück ist das Unfug, denn zum Einen wird mit dieser Überwachung kein wesentlicher Teil der Taten verhindert – sondern mit anderen Mitteln, die nun wieder stärker in den Fokus rücken.

Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn in dem Ziel, die Kinder zu schützen und Täter zu überführen, sind sich alle einig. Sexualisierte Gewalt findet überwiegend im näheren Umfeld und seltener im Internet statt. Sie wird zumeist nicht digital abgebildet – und wenn doch, dann finden diese Abbildungen natürlich auf anderen Kanälen als den überwachten ihren Weg zu ihren kriminellen Empfängern.

Die probateren Rezepturen für eine Bekämpfung sollten lauten:

  • Infiltration von Täterringen
  • Aufklärung, Jugendarbeit, Prävention, auch gerichtet an potenzielle Gefährder
  • anonyme Alterskontrollverfahren
  • CSAM-Inhalte verpflichtend löschen statt "sperren"
  • Sichere Ausgestaltung von Diensten (Blockier- und Meldefunktionen, Ansprache nur durch Freunde als Standardeinstellung, Rückfrage beim Versenden mancher inhalte, Moderation öffentlicher Chats)
  • Crawler suchen im Netz und im Darknet nach kriminellem Material statt auf privaten Clouds.
  • Auch Strafverfolger müssen Material löschen lassen …
  • … das auch nicht zu "KI-Schulungszwecken" oder ähnlichem aufbewahrt wird.

1. Was hat zu der Gefährdung geführt?

Eine Innenkommissarin will zu viel – und bringt das überzeugend rüber.

Überwachungsgesetze stehen regelmäßig und überall auf den Wunschlisten von Innenpolitikern. Die verlockenden Möglichkeiten sind in der Welt. Sie nicht zu nutzen verlangt offenbar nach Argumenten, die schwerer wiegen, als der zu erreichende Gewinn an Sicherherheit, Kostenersparnis oder Image. Ob Grundrechte dieses Gewicht haben, darüber gehen die Meinungen auseinander. Realpolitiker:innen legen das gern je nach Situation aus, Verfassungsgerichte dagegen sehen das mit einer anderen, weitsichtigeren Brille.

Ylva Johansson trieb offenbar die feste Überzeugung, mit ihrer Gesetzesinitiative Positives zu bewirken. Würde man das Thema isoliert betrachten und hätte man wenig Ahnung vom Internet, wäre das verständlich. Doch Johanssons Mentorin, die Kommissionschefin Ursula von der Leyen, hatte ja bereits selbst schon einmal die Grenzen aufgezeigt bekommen – Stichwort: "Zensursula".

Auch damals hatte das deutsche Parlament ihren Netzsperren zunächst mit großer Mehrheit zugestimmt, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht eines Besseren belehrt.

Doch die Innenkommissarin hat sich von dem US-Schauspieler Ashton Kutcher und seinen Organisationen "Thorn" und "Safer" sowie von Microsoft begeistern lassen, was mit deren Überwachungssoftware alles erreichbar sei. Eine 24 Millionen Euro schwere Lobbykampagne mit eigens gegründeten NGOs rundeten das Paket ab. Diese massive Einflussnahme weckte erst spät Misstrauen – beinahe zu spät.

Alles, was nun noch im Wege steht, wird in den Augen der Kommissarin zu missgünstigem Gemäkel an ihrer großartigen Lösung umgedeutet. Die Inbrunst, mit der sie am Rednerpult der EU-Kommission allen Tätern den Satz "We are coming to get you!" entgegenschleuderte, war echt. Und eine Social-Media-Kampagne, die in ausgewählten EU-Ländern die öffentliche Meinung noch drehen sollte, wurde im Eifer des Gefechts mit eben solchen Selektoren lanciert, die auf Initiative der EU-Kommission selbst als "unerlaubtes Microtargeting" verboten wurden. Ein peinlicher Fauxpas, wie selbst Johansson in einer Anhörung jüngst einräumte.

Wer so agiert, muss massive Scheuklappen aufgesetzt haben: Die EU-Kommission steht vor einem Scherbenhaufen ihrer Ignoranz gegenüber kompetenter Kritik. Denn diese kam längst von praktisch allen Seiten, die sich mit der Materie beruflich oder aus Berufung befassen. Von Providern und Kinderschutz-Aktivisten über den Chaos Computer Club (CCC) oder European Digital Rights (EdRI) bis hin zu Fachjournalisten und den Fachleuten der verschiedenen Fraktionen war die Meinung unisono: Diese Maßnahmen sind weder geeignet, noch verhältnismäßig, noch stehen sie im Einklang mit den EU-Grundrechten.

Doch seien wir ehrlich: Hätte nicht das grelle Schlaglicht dieser mittelgroßen Skandale der Sache einen unlauteren Beigeschmack gegeben, sehr wahrscheinlich wären die Bedenkenträger beiseite gewischt worden. Trotz ihrer Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Trotzdem sie bessere und wirksamere Vorschläge für dieselbe Sache – den Kinderschutz – vorgebracht haben. Trotzdem sie viele waren und die Presse ihnen langsam Gehör schenkte. Zu stark wirkte Johanssons Kinderschutz-Narrativ, ihre Position und nicht zuletzt ihr vorgetragener Habitus (resolute Dame mit Strickzeug und Frauenpower-Anhänger) bei der Mehrheit der Abgeordneten. Zu vereinzelt und irgendwie randständig (Piraten! Hacker! Missbrauchsopfer!) wirkten die Einwände.

2. Wer oder was hält dagegen?

Ein paar Unbeugsame wissen es besser und dringen endlich durch.

In diesem Fall waren es wenige Politikerinnen und Politiker im LIBE-Ausschuss, die den Ausschlag gegeben haben. Leute wie Patrick Breyer (Piraten), Moritz Körner (FDP), Cornelia Ernst (Linke) und Birgit Sippel (SPD) seien aus Deutschland lobend erwähnt, ingesamt sind es vielleicht ein Dutzend entschiedener Fürsprecher:innen für die Wahrung der Grundrechte, unter 700 Abgeordneten.

Flankiert wurden sie von Aktivist:innen (etwa bei EdRI, Digitale Gesellschaft, Netzpolitik.org, Digitalcourage, CCC oder Edward Snowden, um nur wenige zu nennen), die sich diesen Themen mit großem persönlichen Einsatz widmen. Elina "Khaleesi" Eickstädt vom Bündnis "ChatkontrolleSTOPPEN!" befasst sich nach eigener Aussage seit Jahren mit fast nichts anderem als der Chatkontrolle. (Übrigens ist auch die Giordano-Bruno-Stiftung diesem Bündnis beigetreten.)

Doch erst die Recherchen der Journalisten Giacomo Zandonini, Apostolis Fotiadis und Luděk Stavinoha brachten die Zusammenhänge im Hintergrund der Kommissions-Kampagne ans Licht. Erst jetzt verfingen die Anfeindungen nicht mehr, es handle sich bei den Kritikern des Vorschlags um eine verkappte Industrie-Lobby, um misogyne Neider oder verbohrte Digital-Fundamentalisten.

Ohne das Engagement dieser drei Gruppen hätte die Kommission ihren Stiefel durchgezogen. Hier zeigt sich, wie wichtig eine vielfältige politische Kultur, eine freie Presse und eine lebendige Zivilgesellschaft ist. Die Größe eines Eingriffs wie der Chatkontrolle wäre vielleicht noch lange nicht begriffen worden. Womöglich hätte sich erst in einer politischen Krise offenbart, welches totalitäre Überwachungsmonster die EU sich da im Stillen herangezüchtet hätte. Und noch ist die Kuh nicht vom Eis, denn als nächstes stehen Gegenvorschläge und Trilog-Beratungen an, in denen jede Seite versucht zu retten, was geht.

3. Wann und inwiefern ist wieder mit Ähnlichem zu rechnen?

Die hundertköpfige Schlange ist bestenfalls einen halben Kopf kürzer.

Themen wie die Chatkontrolle, das Verbot von Verschlüsselung und die Vorratsdatenspeicherung sind Widergänger, Untote, Zombies, die in regelmäßigen Abständen auf die politische Tagesordnung wanken. Besonders in Zeiten der Verunsicherung, nach spektakulären Nachrichten, werden sie aus Schubladen gezogen, um das Rad des Machbaren einen Zahn weiter zu drehen – in die scheinbar einzig mögliche Richtung: Mehr Überwachung.

Ohne das Engagement dieser drei Gruppen hätte die Kommission ihren Stiefel durchgezogen. Hier zeigt sich, wie wichtig eine vielfältige politische Kultur, eine freie Presse und eine lebendige Zivilgesellschaft ist.

Dahinter steht eine Mentalität: Der Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle. Ein Unverständnis und Unbehagen gegenüber fließend-organischen Gebilden wie dem Internet, Sozialen Netzwerken oder neuronalen Netzen, die nicht immer zu klaren Verhältnissen führen. Ich habe dies in einem älteren Beitrag einmal den "autoritären Geist" genannt, der einem liberalen, modernen Denken gegenübersteht. Letzteres setzt auf Resilienz, auf Lernprozesse und Anpassung, wo die Autoritären nach einer Tabula Rasa und vollkommenen Übersicht verlangen.

Es ist also eine Frage der Zeit, wann eines der oben genannten Themen wieder aufpoppt. Das Ärgerliche dabei: Ist eine Regelung erst einmal etabliert, kann auch ein Verfassungsgericht den Geist nur schwerlich wieder in seine Flasche bringen. Weniger liberale Staaten entschuldigen den Missbrauch ihrer Befugnisse dann bereits mit einem genüsslichen "das machen doch alle so". Und nicht zuletzt verändert sich in einem Gewöhnungseffekt das Denken darüber, was ein Staat dürfen sollte.

Noch eine gute Nachricht: Europa erfindet sich vielleicht bald neu

Was erstaunlich viele noch nicht gehört haben: Auch die Struktur der EU insgesamt könnte sich demnächst stark zum Positiven wenden. Das Europaparlament ver­ab­schie­de­te im Mai 2022 eine Resolution, die die Er­geb­nis­se eines ein­jäh­ri­gen Bür­ger­dia­logs zur Zu­kunft der EU für verbindlich erklärt. Die Beteiligung an diesem Dialog erfolgte per Zufallsverfahren. Das Verfassungskonvent, das die 325 konkreten Vorschläge umsetzen soll, soll nach dem jüngsten Beschluss des Verfassungsausschusses (AFCO) des EU-Parlaments nun endlich seine Arbeit aufnehmen. Die Lissaboner Verträge würden damit in wesentlichen Punkten überarbeitet.

Dazu wird gehören, dass die EU-Kommission vom Parlament gewählt werden und damit eine demokratisch legitimierte europäische Regierung darstellen soll. Das bisherige Prinzip der Einstimmigkeit im EU-Rat wird bei einer erneuten Erweiterung der Union nicht mehr haltbar sein und dem Mehrheitsprinzip weichen. Dadurch werden Blockadesituationen durch das Veto einzelner Länder der Vergangenheit angehören.

Verabschiedet werden könnte die neue Verfassung durch den Souverän selber: durch eine Wahl in allen Mitgliedsstaaten der EU. Wenn dies gelingt, könnte es also sein, dass eine nochmals erweiterte EU sich mittelfristig als handlungsfähiger und beweglicher denn je erweisen könnte. Man dürfte gespannt sein, welche Argumente sich Populisten, Euroskeptiker und Trollfabriken einfallen lassen, um gegen die Umsetzung ihrer eigenen Forderungen Stimmung zu machen. Die Parlamentarier:innen aller Fraktionen sind jedenfalls entschlossen, sich von den bestehenden Krisen nicht bremsen zu lassen, sondern sie als Ansporn zu verstehen, Europa demokratischer zu machen.

Erstveröffentlichung auf digitalhumanrights.blog.

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