Nach dem Willen des Europarats sollen europäische Überlebende von Kindesmissbrauch in staatlichen oder religiösen Institutionen Gerechtigkeit erfahren durch Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, eine offizielle Entschuldigung sowie Wiedergutmachungszahlungen.
Die parlamentarische Versammlung des Europarats, dem 46 Staaten mit über 600 Millionen Bürger:innen angehören, hat am 26. Januar für die Aufarbeitung der früheren Missbrauchsfälle nach dem Vorbild der Schweiz gestimmt. Demnach soll das Leid der Überlebenden von Kindesmissbrauch in den Mitgliedstaaten offiziell anerkannt werden, die Betroffenen sollen – unabhängig einer allfälligen Verjährung – eine Wiedergutmachungszahlung erhalten und eine wissenschaftliche Aufarbeitung soll in jedem einzelnen Land stattfinden. Die bahnbrechenden Empfehlungen des Europarats entsprechen den Forderungen der europäischen Justice Initiative, welche von Guido Fluri ("Widergutmachungsinitiative") lanciert worden war. Leitender Berichterstatter in der Sache war der Schweizer Nationalrat Pierre-Alain Fridez.
Die Vergangenheit kann nicht ignoriert werden
"Wer die Missbrauchsfälle von früher ignoriert, kann die Missbrauchsfälle von heute und morgen nicht wirksam bekämpfen", sagte der Schweizer Berichterstatter Pierre-Alain Fridez vor dem Parlament des Europarats. "In Europa dürfen wir nie wieder die Augen verschließen vor dem Missbrauch von Kindern in öffentlichen, privaten oder religiösen Einrichtungen, die eigentlich sichere Häfen sein sollten". Diese Argumentation hat die Mehrheit der Parlamentsmitglieder des Europarats überzeugt. Ein Bericht zur Situation in Europa mit klaren Empfehlungen wurde abgesegnet. Wie schon die zuständige Kommission des Europarats, die sich einstimmig für eine umfassende Aufarbeitung ausgesprochen hatte, will auch eine klare Mehrheit im Parlament die Missbrauchsfälle in Europa nach Schweizer Vorbild aufarbeiten lassen: Das Leid der Opfer soll europaweit anerkannt und eine Wiedergutmachung in den einzelnen Ländern geleistet werden. Dabei geht es etwa um Missbräuche in privaten, staatlichen und kirchlichen Heimen, Misshandlungen bei Pflegeinstitutionen und Zwangsadoptionen.
Aufarbeitung nach Schweizer Vorbild
In der Schweiz hatte eine Volksinitiative, die "Wiedergutmachungsinitiative" der Guido Fluri Stiftung, zu einem staatlichen Gesetz geführt, das die Anerkennung des Unrechts, die wissenschaftliche Aufarbeitung sowie die Solidaritätszahlung ins Zentrum stellte. Über 12.000 Überlebende von Kindesmissbrauch haben in der Folge eine offizielle Anerkennung des Unrechts und eine Solidaritätszahlung erhalten, und die Missbrauchsfälle wurden staatlich aufgearbeitet.
Aufgrund dieser erfolgreichen Wiedergutmachung haben sich Opfergruppen und Kinderschutzorganisationen aus ganz Europa im Rahmen der Justice Initiative zusammengeschlossen und sich für eine ähnliche Gesetzesvorlage auf Stufe Europarat stark gemacht. Dieses Projekt wurde wiederum von der Guido Fluri Stiftung getragen. "Dass der Europarat eine umfassende Aufarbeitung beschlossen hat, ist für Überlebende aus ganz Europa eine Sternstunde! Die europäische Gemeinschaft muss alles unternehmen, damit die Betroffenen von Kindesmissbrauch noch zu Lebzeiten eine Form der Gerechtigkeit erfahren", so Initiator Guido Fluri nach der Abstimmung des Europarats.
Lösung des Europarats hat Vorbildcharakter
Die parlamentarische Versammlung des Europarats verlangt von seinen Mitgliedsstaaten (Doc. 15889 – Report – Working document (coe.int)), dass sie zunächst eine Bestandsaufnahme der Situation des Kindesmissbrauchs in den Einrichtungen ihrer Länder vornehmen. Die Ermittlungen müssen umfassend sein und sich auf körperliche, sexuelle und psychische Misshandlungen erstrecken. Dazu gehören die institutionelle Betreuung in öffentlichen, privaten oder religiösen Einrichtungen, unzureichende Pflege, die Betreuung in privaten Heimen, die Wegnahme von Kindern von Eltern, die als "untauglich" gelten, Zwangsadoptionen und Zwangssterilisationen. Die Behörden sollen dann das zugefügte Leid anerkennen und, wenn möglich, eine angemessene Behandlung der Folgen anbieten. Im Anschluss daran sollen sich die Behörden offiziell bei den früheren und heutigen Opfern entschuldigen.
Den Opfern muss unabhängig von ihrem Alter eine Entschädigung gewährt werden: Es muss eine offizielle Entschädigung für alle Opfer geben, für alle Kinder, die irgendeiner Form von körperlicher, sexueller oder psychologischer Gewalt ausgesetzt waren, und zwar ohne zeitliche Begrenzung der Frist für die Feststellung des Sachverhalts. Die Zeitspanne zwischen der Begehung des Missbrauchs und seiner Aufdeckung durch das Opfer darf daher keine Rechtfertigung für die Verweigerung einer Entschädigung sein. Die Höhe der zuerkannten Entschädigung muss erheblich sein und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verursachten Schaden und Leid stehen. Schließlich müssen die Staaten ein umfassendes Programm von Präventions- und Sensibilisierungsmaßnahmen einleiten, einschließlich der Überwachung von institutionellen Betreuungseinrichtungen und jeder Situation, in der Kinder in Obhut genommen werden, um Risiken zu minimieren und Probleme in einem möglichst frühen Stadium zu erkennen.
Schweizer Botschafter betont den Mehrwert des Europarats
Der Ständige Vertreter der Schweiz beim Europarat, Botschafter Claude Wild, ist erfreut über diese wichtige Resolution, die von der Parlamentarischen Versammlung angenommen wurde. Ebenso erfreut ist er über den substanziellen Beitrag, den die Schweiz mit dem ausgezeichneten Bericht von Pierre-Alain Fridez und den guten nationalen Praktiken der Schweiz, die als Modell angeführt werden, geleistet hat. Diese Resolution zeigt den Mehrwert des Europarats als einzigartiges Forum für den Austausch nationaler Erfahrungen zu Situationen, in denen die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit verletzt werden und verschiedene Länder betreffen. Um die Öffentlichkeit, insbesondere künftige Generationen, für diese schweren Taten an Kindern zu sensibilisieren und zu verhindern, dass sie sich wiederholen, äußerte Botschafter Claude Wild den Wunsch, dass die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung auf zwischenstaatlicher Ebene fortgesetzt wird. Die Mitgliedstaaten des Europarats sollten vom Ministerkomitee ermutigt werden, das Unrecht der Vergangenheit anzuerkennen und aufzuarbeiten sowie den Schaden der Opfer wiedergutzumachen.
Das sagt das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) zum Beschluss des Europarats:
"Wir begrüßen den Beschluss der parlamentarischen Versammlung des Europarats, der die Aufarbeitungs- und Entschädigungsforderungen der Opfer von Kindesmissbrauch unterstützt. In Deutschland war es bis Ende 2023 nach dem Opferentschädigungsgesetz möglich, Entschädigungen zu erhalten, seit dem 1.1.2024 sind derartige Ansprüche im SGB XIV geregelt. Problematisch bleibt hierzulande aber weiterhin, im Einzelfall den Nachweis der Tatbegehung sowie deren Ursächlichkeit für erlittene psychische oder wirtschaftliche Schäden zu führen. Den Opfern sexueller Gewalt steht als Anspruchstellern derzeit nicht selten ein langer Weg durch die Instanzen bevor. Teils ist die Abwehrhaltung der staatlichen Stellen überdeutlich und beklemmend unbarmherzig. Insoweit wäre eine gesetzliche Vermutung am Platz, dass die erlittene Misshandlung wesentliche Ursache der eingetretenen Schäden ist. Da der deutsche Staat groteskerweise bislang weitestgehend den Täterorganisationen selbst die Aufarbeitung überlässt, ist es sehr erfreulich, dass der aktuelle Beschluss den Mitgliedsstaaten zudem empfiehlt, eine Bestandsaufnahme der Situation in öffentlichen, privaten und religiösen Einrichtungen durchzuführen und auch ein Präventionskonzept zu entwickeln. Dieser Empfehlung nachzukommen, ist überfällig."