Zur Identität Europas

 

                                                                 IV

Die Identität Europas wurde in den Lissabon-Verträgen vom 1. Dezember 2009 wie folgt vereinbart:

Präambel
[...] schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte der Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben [...]. In Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit [...] in dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition zu stärken [...].

Artikel 2
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschl. der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnen.

Artikel 6
(2) Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.
(3) Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.

 

                                                                V

In der Präambel sind als Grundlage des europäischen Reformvertrages alle religiösen und nichtreligiösen, humanistischen Quellen Europas benannt, sofern sich aus ihnen Demokratie und Menschenrechte entwickelt haben. Ein Blick zurück in die Vergangenheit möge zeigen, dass die abendländische Kulturgeschichte neben dem Christentum auch andere Quellen aufzuweisen hat, die bis heute – mehr oder weniger – nachwirken.

Die europäische Antike lässt sich in eine nördliche (Kelten, Germanen) und eine südliche (Griechen, Römer) unterteilen. Beide verbindet der Polytheismus, der heute in seiner säkularen Form als Pluralismus zu den Grundwerten der westlichen Welt zählt. Vielfalt ist Reichtum. Den für die Menschen bedeutsamen Naturerscheinungen wurden Götter als Verursacher zugeordnet, z. B. der germanische Donnergott Thor, der griechische Meersgott Poseidon und Sonnengott Helios, der römische Sonnengott Mithras. Die Natur wurde gedacht als von zahlreichen göttlichen Wesen belebt. In der Sprache der Naturwissenschaften wird heute von Naturkräften und Selbstorganisation gesprochen im Unterschied zu Schöpfungsmythen. Jede polytheistische Religion war aufnahmebereit gegenüber anderen, fremden Gottheiten. Religionskriege gab es nicht. Das entspricht heute dem Bestreben danach, andere, fremde Völker im eigenen Kulturraum zu integrieren (Globalisierung).

1) Aus der nördlichen Antike ist als einziges schriftliches Zeugnis die isländische Liedersammlung Edda erhalten geblieben. Zu verdanken ist das dem vorchristlichen, demokratisch verwalteten Althing – der Volksversammlung der freien Bauern Islands, die seit der Staatsgründung 930 n.d.Z. alljährlich in Tingvelir tagte. Erst nach jahrelangen Verhandlungen beugten sich die Isländer dem Christianisierungsdruck des norwegischen Königs, nicht ohne die Zusage erhalten zu haben, ihren alten Glauben im privaten Bereich bewahren zu dürfen. Die Brandbestattung war in Germanien weit verbreitet, wurde nach der Christianisierung verboten und ist in der Neuzeit von wachsender Bedeutung. Die Benennung der Wochentage nach germanischen Göttern ist bis heute erhalten (z. B. Tuesday nach dem Kriegsgott Tyr).

2) Aus der südlichen Antike sind im 14. Jahrhundert zur Zeit der Renaissance griechische Handschriften nach Italien gelangt, als der Druck des osmanischen Reiches auf Konstantinopel bis zur Eroberung 1453 wuchs. Auch auf dem Umweg arabischer Übersetzungen (maurischer Einfluss in Südspanien) sind griechische Texte erhalten geblieben. Bei der Eroberung Konstantinopels 1204 n.d.Z. durch das Heer des 4. Kreuzzuges wurde die umfangreichste und wertvollste europäische Bibliothek mit antiken Schriften geplündert und vernichtet. Der Einfluss der südlichen Antike auf die heutige Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft ist ausreichend bekannt.

Andere antike Sitten, wie Sklaverei, Unterdrückung der Frau und Despotismus, wurden erst im Zeitalter der Aufklärung überwunden.

 

                                                               VI

Bleibt die Frage, wie lange die vorchristliche – antike – abendländische Kulturgeschichte dauerte. Sie begann 594 v.d.Z., als unter Solon in Athen die erste demokratische Verfassung in Kraft tritt. Die Volksversammlung der freien Bürger wird zum Gesetzgebungsorgan.

1) Die südliche Antike endete 312 n.d.Z. mit der „Konstantinischen Wende“ nach der Schlacht an der Milvischen Brücke vor Rom. 391 n.d.Z.. wird das Christentum Staatsreligion im römischen Reich. Alle antiken Kulte werden verboten. Konstantin hatte erkannt, dass der Monotheismus gut geeignet ist, die Alleinherrschaft der römischen Kaiser zu etablieren. Das erste Gebot: „Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“ ist Grundlage des Vertrages zwischen weltlicher und kirchlicher Macht bis in unsere Tage.

2) Das Ende der nördlichen Antike begann 496 n.d.Z., als sich der Frankenkönig Chlodwig nach der für ihn siegreichen Schlacht bei Zülpich taufen ließ. Dadurch konnte er sich nach dem Vorbild der römischen Kaiser die absolute Macht sichern, während er bei den Germanen nach alter Sitte nur Primus unter pares war. Die Christianisierung aller germanischen Stämme dauerte allerdings bis ins 12. Jahrhundert.

Matthäus 10.34: „Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen sei, Frieden zu senden auf der Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“. Bei der gewaltsamen Christianisierung wurde das Schwert reichlich benutzt. So begann also die Jahrhunderte lange Prägung des christlichen Deutschlands und Europas, unter der auch die jüdische Bevölkerung zu leiden hatte, und die das Weiterwirken antiker Quellen in die Neuzeit erheblich behinderte.

Die Eingangsfrage kann also dahingehend beantwortet werden, dass die Antike auf dem Gebiet des südlichern Europas von 594 v.d.Z. bis 312 n.d.Z., also 900 Jahre, auf dem Gebiet des nördlichen Europas von 594 v.d.Z. bis 496 n.d.Z., also 1100 Jahre, dauerte. Im Mittel kann die europäische Antike also einen Zeitraum von 1000 Jahren in Anspruch nehmen.

Die uneingeschränkte Vormachtstellung des Christentums endete nach dem 1000-jährigen Mittelalter mit der Renaissance im 14. Jahrhundert. Die Folgezeit von 600 Jahren (1400 bis 2000 n.d.Z.) war geprägt durch die mühsam errungene Ablösung des Absolutismus, der nach dem Vorbild der römischen Kaiser die uneingeschränkte Herrschaftsgewalt durch das Zusammengehen von weltlicher und geistlicher Macht aufrechterhalten wollte. Teilt man die Zeit der Ablösung je zur Hälfte auf das Christentum und die Neuzeit als prägende Kräfte, so zählen in der 2600-jährigen Geschichte 1300 Jahre zum Christentum und 1300 Jahre zur Antike und Neuzeit. Von einer im wesentlichen christlich geprägten abendländischen Kulturgeschichte kann also keine Rede sein.