(hpd) Praktisch alle relevanten Studien aus der empirischen Psychologie kommen zu dem Ergebnis, dass sich Menschen, die nicht an die "Willensfreiheit" glauben, antisozial und unproduktiv verhalten. Sollten wir also die Existenz des freien Willens nicht länger bestreiten, oder stimmt etwas nicht mit diesen Studien?
Außerdem hinterfragt Andreas Müller den Zusammenhang zwischen der Willensfreiheit und dem Strafmaß, verschreibt ein Gegenmittel gegen den Fatalismus und zerlegt philosophische Zombies.
Willensfreiheit für harte Strafen?
Bevor ich näher auf neue Studien zur Willensfreiheit eingehe, möchte ich noch zu einer Problematik Position beziehen, die immer wieder von Inkompatibilisten angeführt wird. Der Leser "Bebu" erwähnt das Argument auf meinem Blog:
"Sicherlich ist das Willensfreiheitsargument nicht der Grund für das Bedürfnis nach Rache. Aber er wird doch bei der Erstellung von Gesetzen und Urteilen als ein vermeintlich objektiver Grund angeführt. Von daher würde ein wissenschaftlicher Nachweis, dass es Willensfreiheit nicht gibt, den Befürwortern eines Strafsystems das Rache miteinschließt (z.B. durch sehr lange Haftstrafen unter Quasi-Folterbedingungen) ein Argument wegnehmen."
Gewiss wird die Willensfreiheit von gnadenlosen Richtern und rechtspopulistischen Politikern als Argument für unangemessen harte Strafen gebraucht. Aber das bedeutet nicht, dass sie irgendeine philosophische Legitimation hätten, so zu argumentieren. Es sei daran erinnert, dass gerade auch die Willens-Unfreiheit als Legitimation für harte Strafen gebraucht wird, siehe etwa die Popularisierung dieser Problematik durch den deutschen Film "Der Freie Wille". Tatsächlich funktioniert weder das eine, noch das andere. Die Willensfreiheit steht in keiner Verbindung zum Strafmaß.
Angenommen, es gäbe tatsächlich einen libertarischen freien Willen und wir könnten wollen, was wir wollen. Zum Beispiel könnten wir uns von Ursachen unabhängig für oder gegen einen Mord entscheiden (was auch immer das bedeuten mag). Warum sollten wir nun härter oder weniger hart für diesen Mord bestraft werden? Es gibt zahlreiche Argumente aus verschiedenen Gebieten, die man gebrauchen kann, um für harte oder weiche Strafen zu argumentieren, aber die Willensfreiheit gehört nicht dazu.
Ein vernünftiges Argument für eine harte Strafe wäre, dass sie in effektiverem Maße als Abschreckung wirken könnte (tatsächlich scheint es jedoch keinen Zusammenhang zwischen dem Strafmaß und der Kriminalitätsrate zu geben) und dass die Gesellschaft aufzeigen muss, dass sie bestimmte Handlungen nicht toleriert. Außerdem könnte man anführen, dass eine härtere Strafe auch dem Täter selbst vor Augen führt, wie falsch seine Tat war, sodass er nicht rückfällig wird. Ob er einen Mord begangen hat, weil er ein teuflischer Dämon ist, oder weil ihn Veranlagung und Umwelt letztlich keine Wahl gelassen haben – das kümmert im Grunde gar nicht.
Die Frage ist: Was will und kann man mit einer Strafe erreichen? Hierfür muss man empirisch belegen, welche tatsächlichen Auswirkungen harte oder weiche Strafen haben und die Verhältnismäßigkeit ist ebenso zu beachten. Ich beziehe hier Position für die philosophische Haltung des "Konsequenzialismus", der sich auf die Auswirkungen von Handlungen konzentriert. Was wir tun oder lassen, ist nicht gut oder schlecht, weil wir gut oder böse sind (selbst falls wir gut oder böse sein könnten!), sondern aufgrund der Folgen unserer Handlungen.
Aber was ist, wenn ein böser Mensch mit freiem Willen wieder morden wird, wenn man ihn auf freien Fuß setzt? Dann müsste man ihn doch härter bestrafen, weil er ein böser Mensch ist, oder? Gegenfrage: Was ist, wenn ein Psychopath ohne freien Willen wieder morden wird, wenn man ihn auf freien Fuß setzt? Es gibt durchaus empirische Daten, die darauf hinweisen, dass psychopathisches Verhalten eine starke genetische Komponente hat und dies gar nicht so unwahrscheinlich – aber auch nicht notwendig – ist.
Ganz einfach: Was uns hier interessiert, ist die Frage, ob der böse Mensch/Psychopath wieder morden wird. Es interessiert überhaupt nicht, ob der Mensch böse ist, ein Psychopath, oder ein durchgeknallter Bretzelverkäufer. Es geht um die Folgen unserer Handlungen, in diesem Fall um die Folge unserer Handlung, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen. Was wird geschehen, wenn diese Person freigelassen wird? Dies ist eine empirische Frage, wir können sie anhand der Realität überprüfen und unser Verhalten danach ausrichten. Ob wir es mit einem willensfreien, bösen Menschen zu tun haben, oder mit einem Psychopathen ohne Willensfreiheit, spielt keine Rolle! Dagegen ist es wichtig, ob eine Strafe effektiv darin ist, ein bestimmtes Verhalten zu unterbinden.
Es könnte zum Beispiel sein, dass eine Person aufgrund der Einschränkung ihrer inneren Handlungsfreiheit, ausgelöst durch einen Gehirndefekt, nicht in der Lage ist, mit dem Morden aufzuhören. Zugleich stelle man sich einen Menschen vor, der jederzeit mit dem Morden aufhören könnte, dessen Strafregister, laut dem er nach der Freilassung immer wieder rückfällig geworden ist, es aber nicht nahelegt, dass er auch tatsächlich mit dem Morden aufhören wird. Einfach, weil er das gar nicht will. Warum sollte man den einen anders bestrafen als den anderen?