„Eine Wand aus Watte"

Nirgendwo lässt sich die behauptete Freiheit des Einzelnen deutlicher einlösen als in der Politik zum Lebensende, meint der Schriftsteller Dieter Lattmann. Er engagiert sich persönlich und schreibt

in der neuen Ausgabe von „Humanes Leben - Humanes Sterben" über seine Erfahrungen.

Lattmann weiß, wovon er spricht: Von 1972 bis 1980 saß er für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Nun engagiert er sich persönlich für eine Anerkennung von Willensentscheidungen am Lebensende, schreibt Politiker und Ethikrat an, um dem Thema Gehör zu verschaffen. Und nun erhält er selbst jene Antwortbriefe von Bundestagsabgeordneten, die wortreich vor allem die Hilflosigkeit des Schreibenden zu kaschieren versuchen. Das frühere Präsidiums-Mitglied des Goethe-Instituts bekennt: „Auch ich habe oft auf Gebieten, in denen ich mich nicht auskannte, mit Hilfe von Ratgebern der Fraktion und Parlamentsunterlagen ähnlich bemühte, im Kern unverbindliche Auskünfte gegeben." Der Mitbegründer und frühere Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller spricht von einer „Wand aus Watte" im politischen Alltag: „Die Argumente, die einer vorbringt, mögen noch so wissend und durchdacht sein, meist geht die Antwort gar nicht darauf ein.

„Aber, wir wollen doch keine Sterbehilfe!" heißt es stattdessen vorwurfsvoll, und in drei von vier Fällen folgt der Hinweis auf die Verbrechen an Behinderten unter dem Nationalsozialismus. Ist den Verfechtern des bestehenden Zustands tatsächlich nichts wichtiger als die Verdrängung des eigentlichen Problems? Das läuft in Tonarten ab, als wolle eine allgegenwärtige Anstrengung öffentlicher Auskunftsstellen vor allem eines erreichen, nämlich das Weiterdenken über die Probleme des Lebensendes und die Erneuerung der Begriffe mit diesem Tabu aus der Vergangenheit zu versiegeln.

Darum kann man nicht oft genug klarstellen: Was damals „Euthanasie" genannt wurde, war Mord von Staats wegen, und der geschah auf Befehl einer kriminellen Regierung. Mit der absoluten Notwendigkeit, heute gesetzliche Freiheiten des Einzelnen zum Lebensende zu regeln, hat die Vergangenheit der Diktatur nichts zu tun. Wer mit diesem Schreckenswort Druck zu machen versucht, will Aufklärung und Fortschritt verhindern und unser Land in Europa im Rückstand isoliert halten. Und das in einer Gegenwart, in der sich bei unerschrockener Prüfung herausstellt, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik die Entscheidungsfreiheit Sterbender über das eigene Geschick vor allem auch zu ihrer Selbstachtung braucht.

Es ist schwer, das zu Ende zu denken. Ich persönlich glaube, dass die Angst der Ärzte vor dem Tod, der ihrem Beruf die letzte Grenze zeigt, sich auf die Politiker überträgt. Sie stellt sich ebenso ein bei Kirchenleitungen wie Wissenschaftlern oder Konzernherren der Pharmazie. Alle, die oben in der Gesellschaft Verantwortung tragen, müssen auf einmal erleben, wie begrenzt sie legitimiert sind. So bald sie sich der Gesetzgebung zum Lebensende nähern, betreten sie einen Raum, in dem sie nur noch eine Initialmacht, aber keine Reichweite ihrer Macht mehr besitzen. Wenn dazu noch Richter zu dem Urteil kommen, eine medizinische Behandlung gegen den Willen von Patienten am Lebensende könne unter einzeln zu beurteilenden Umständen den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen, stimmt plötzlich der Kanon der vereinigten Obrigkeiten nicht mehr.

Dem Alter aber ist der Tod vertraut. Ein Mensch, der geistig die Grenze überwindet, die ihn im Leben festhält, dem kann eine Souveränität zuwachsen, die jeden Zugriff aus der materiellen Welt aus seiner Gültigkeit entlässt. So kehrt die sterbende Greisin dem Chef in Weiß den Rücken, sie will mit letzter Entschiedenheit, dass ihr nicht mehr das Geringste, was ihr Sterben verlängert, noch angetan wird. Der Einwurf, es handele sich doch um die Verlängerung ihres Lebens, erreicht sie nicht einmal von fern.

Diese Grenzüberschreitung hat für Politiker etwas tief Beunruhigendes. Darum handeln sie so irritiert. Sie haben die Auseinandersetzung mit den Problemen der Gesetzgebung zum Lebensende seit Bestehen der Bundesrepublik im Parlament immer wieder vermieden. Nun aber ist es so weit, dass sie sich dieser Aufgabe stellen wollen."

<Gesamter Artikel>