Dabei geht Kermani aber von der Grundthese aus, dass es überhaupt keiner Diskussion darüber bedarf, ob und welcher Religion ein Mensch anhängt, sondern dass es der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nur darum gehen kann, ob die Grundrechte jedem Menschen zugestanden werden und ob jeder Mensch auch die Pflichten, die sich daraus ergeben, auf sich nimmt. Wenn dem religiöse Vorstellungen entgegenstehen, hat jegliche Religion hinter dem Allgemeininteresse zurückzustehen.
Kermani – und das finde ich sehr beachtenswert – lässt sich an keiner Stelle des Buches dazu hinreißen, eine Wertung der westlichen, der christlichen Religion als Gegenüberstellung zum Islam vorzunehmen. Der Schuster bleibt bei seinen Leisten, selbst wenn er mit seinen Glaubensgenossen hart zu Gericht geht „Ja, es gibt ein Feindbild Islam. Aber die Muslime sollte es mehr beunruhigen, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind gebärdet.“ (S. 40) Allerdings belässt er es nicht dabei. Sondern appelliert auch an die Gesellschaft und erinnert daran „... was immer über oder gegen den Islam geschrieben wird, bei allen schrillen Tönen - in der Gesellschaft funktioniert das Zusammenleben weitaus besser, ist die Toleranz gegenüber Muslimen weitaus größer, als es in der medialen Wirklichkeit erscheint.“ (S. 54) Damit stimmt er dem Eindruck, den ich habe und auf den auch die bereits erwähnten Autoren Arikan und Ham hinweisen, zu. Der Islam ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft – in den Großstädten zumal – angekommen.
Deshalb gilt es darüber nachzudenken, ob die Grenzen, die wir oft setzen, reale Grenzen sind. Kermani meint, dass der reale Konflikt innerhalb der islamischen Welt ausgetragen wird (Stichwort: aufgeklärter Islam), wobei natürlich auch das Verhältnis zum Westen gewertet wird. Aber der Riss, so man denn davon reden kann, trennt nicht die Religionen oder Wertvorstellungen, es ist keine Grenze zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“ - was es beides nach Kermanis Verständnis so vereinfacht nicht gibt. Es ist ein Riss, der durch die gesamte menschliche Gesellschaft geht; ein Riss entlang einer eher sozialen Linie denn einer religiösen/ideologischen. So meint er, dass ihm jeder Großstadt-Mensch, egal wo auf der Welt, näher und verständlicher ist als selbst ein Muslim, der vom Lande und ungebildet ist.
Er fragt sich und den Leser, weshalb es in diesem Land so schwierig zu sein scheint, den Islam zu integrieren – sprich: Muslime zu integrieren. Dabei schreibt er einen bemerkenswerten Satz: „Eine spezifisch deutsche Schwierigkeit für die Einbürgerung des Islams besteht darin, dass das Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland komplizierter ist als in vielen anderen Ländern Europas. Der deutsche Staat ist nicht laizistisch. Das erschwert eine strikte Gleichbehandlung und macht es einer neuen Religion schwerer, ihren Platz zu finden.“ (S. 151/152) Aber er gibt auch uns Säkularen etwas Nachdenkenswertes mit auf den Weg wenn er sagt: „Die weltweite Rückkehr der Religionen, die hierzulande annonciert wird, ist in Wirklichkeit die Entdeckung, dass Religionen außerhalb Westeuropas niemals verschwunden waren.“ (S. 33) und verweist dabei zum Beispiel auf das Nachbarland Polen.
Obwohl das Buch nur einen Umfang von etwa 170 Seiten hat, deckt es ein großes Spektrum an Themen ab die sich alle um die Frage nach dem „Wir“ der Muslime in unserer Mitte drehen. Ich habe mir sehr sehr viele Zitate aus dem Buch notiert. Es würde aber den Rahmen der Rezension sprengen, diese alle hier anzubringen und zu kommentieren. Daher kann ich nur dringend empfehlen, sich dieses Buch zu besorgen und zu lesen.
Meiner Meinung nach ist Navid Kermani einer der besten deutschsprachige Islam-Wissenschaftler, der verständlichste ist er in jedem Falle. Und seine Stimme sollte nicht ungehört verhallen. Nicht, wenn wir diese Gesellschaft verstehen und verändern wollen.
Frank Navissi
Navid Kermani – Wer ist wir? - Deutschland und seine Muslime, Verlag C.H. Beck München, 2009, 173 Seiten, 16,90 Euro