Wege aus dem Labyrinth (2)

gbs-LeonardoIch meine, dass ich diesen Leitsatz in meinen bisherigen Veröffentlichungen berücksichtigt habe – auch wenn ich die zugrunde liegende Denkfigur des „starken, naturalistischen Emergenzprinzips“ zuvor nicht explizit auswies. Möglicherweise hat die fehlende Offenlegung dieses basalen Denkprinzips einige zusätzliche Missverständnisse provoziert. So fühlten sich Autoren, die das Prinzip der Mikrodetermination nicht hinreichend berücksichtigen, dazu genötigt, mir gegenüber den Reduktionismus-Vorwurf zu erheben, während Autoren, die das Prinzip der Makrodetermination übersahen, meinten, ich würde nicht reduktionistisch genug argumentieren und stattdessen unnötige, anti-naturalistische „Bonus-Gesetze“ postulieren.

Ein Beispiel für die erste Variante eines solchen Missverständnisses (Reduktionismus- bzw. Biologismus-Vorwurf) lieferte unlängst Professor Reinhold Leinfelder, der Direktor des Museums für Naturkunde Berlin. Er warf mir vor, eine biologistische Form der Philosophie zu betreiben, was sich u.a. darin ausdrücke, dass ich den „Eigennutz“ nur „in humane Bahnen lenken“ wolle, statt ihn zu „überwinden“. Was ist von diesem Vorwurf zu halten? Nun, wenn es stimmt, was ich in diesem Artikel über Mikro- und Makrodetermination dargelegt habe, dann können wir schlichtweg nicht verhindern, dass wir „Trockennasenaffen“ nach Wohl- und Weheempfindungen agieren und „das subjektiv Beste“ für uns herausholen möchten, denn das „Prinzip Eigennutz“ ist ein unaufhebbares Erbe der biologischen Evolution! Jedoch können wir sehr wohl im Sinne der beschriebenen Makrodetermination kulturell auf die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Wohl- und Wehereaktionen Einfluss nehmen. Wir können beispielsweise mit guten, humanen Argumenten sowie förderlichen sozialen Rahmenbedingungen darauf hinwirken, dass ein sozialverträglicher, „empathischer Eigennutz“ (gewissermaßen ein „Wille zum Altruismus“) wahrscheinlicher wird. Wir können aber auch mithilfe von menschenverachtenden Ideologien und unfairen Sozialstrukturen die Wahrscheinlichkeit inhumaner Formen von Eigennutz fördern. Somit würden statt des empathischen Eigennutzes vermehrt Varianten eines individuell-verkürzten Egoismus auftreten oder aber jene begrenzt-altruistischen, letztlich kriegstreiberischen Formen des Gruppenegoismus, die ich in JvGuB beschrieben habe (siehe u.a. das Unterkapitel „Die Hölle sind die anderen“, S.69ff.)

Ein Beispiel für die zweite Variante des oben erläuterten Missverständnisses, nämlich den durch das Ignorieren von Makrodetermination bedingten Vorwurf, ich würde unnötige, anti-naturalistische „Bonus-Gesetze“ postulieren, lieferte die Artikelserie von Andreas Müller, womit wir nach unserem anstrengenden, leider aber unumgänglichen Exkurs über Emergenz und Reduktionismus endlich wieder zu dem Text zurückkehren können, der den Anlass für diese Replik lieferte.

Jenseits des Fatalismus

AMs Argument, das mich zu den vorangegangenen Darlegungen über die Bedeutung emergenter Prozesse nötigte, lautete: Ein „Naturgesetz des Lebens“ existiere in Wirklichkeit gar nicht – und ein solches „Bonus-Naturgesetz“ sei zudem auch nicht notwendig, um dem Fatalismus zu entgehen. Nach all dem zuvor Gesagten erkennt man hoffentlich den Fehler in dieser Argumentation: Denn wenn Leben als solches keine emergente Eigengesetzlichkeit aufweisen würde, dann hieße dies, dass alle menschlichen Handlungen, alle Gedanken und Empfindungen, letztlich nur bedeutungslose Folgeerscheinungen physikalischer Prozesse wären. Wir wären demnach bloß Marionetten, die sklavisch zur mikro- bzw. makrokosmischen Musik der Physik tanzten.

Diesem fatalistischen Szenario entkommt Andreas Müller keineswegs mit dem (in dem Kontext seiner Argumentation) fast schon tragisch-komisch anmutenden Plädoyer: „Wir können die Welt verändern! Unsere Handlungen beeinflussen die Realität, wir haben einen Einfluss, der so groß sein kann wie der von Napoleon oder der von Plato! Wir sind nicht einfach Ursachen ausgeliefert, wir sind selbst Ursachen! (…) Ausgerechnet dieses wichtige Argument erwähnt Schmidt-Salomon mit keinem Wort.“

Als ich diese Zeilen las, war ich einigermaßen verblüfft, schließlich handelt mein ganzes Buch von kaum etwas anderem als davon, dass Menschen Einfluss auf die Realität nehmen. (Da sie dies auf sehr unterschiedliche Weise tun, machte ich mir die Mühe, die Gründe zu erörtern, weshalb beispielsweise Homosexuelle im Iran exekutiert, in unseren Breitengraden jedoch nach einem mühsamen Kampf für die sexuellen Selbstbestimmungsrechte endlich akzeptiert werden). Warum aber habe ich es bei diesem „Argument“ in der Auseinandersetzung mit dem Fatalismus nicht belassen? Ganz einfach: Weil die banale Erkenntnis, dass Menschen „die Welt verändern“, also Ursachen für Wirkungen sind, gar kein Argument gegen den Fatalismus ist! Denn jeder Fatalist kann diese Banalität mühelos akzeptieren! Es geht nämlich bei der Grundfrage des Fatalismus, ob unser „Schicksal“ vorbestimmt ist oder nicht, überhaupt nicht darum, ob Menschen Wirkungen verursachen (das bestreitet niemand!), es geht vielmehr um die tiefer zielende Frage, worin denn die eigentlichen Ursachen für das ursächliche Wirken von Menschen liegen! Geht man hierbei (wie Andreas Müller dies in seinem Text nahe legt) von der vulgär-materialistischen Hypothese aus, dass Leben letztlich nur ein Epiphänomen physikalischer Determinanten ist, so landet man, ob man will oder nicht, automatisch bei einer fatalistischen Erzählung.

An dieser Stelle verwickelt sich AM in einen schweren Selbstwiderspruch: Denn wenn er meint, dass Leben restlos auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden kann, so kann er nicht gleichzeitig das aufklärerische Loblied auf die Wirksamkeit rationaler Gründe singen! Er muss sich vielmehr entscheiden: Entweder er verabschiedet sich vom Vulgär-Materialismus und akzeptiert die emergenten Eigenschaften bzw. makrodeterministischen Rückwirkungen von Leben und Kultur, was zur Folge hat, dass er menschlichem Denken, Handeln und Empfinden eine tatsächliche (nicht bloß scheinbare!) Wirksamkeit zuschreiben kann – oder aber er bleibt bei der (theoretisch durchaus denkbaren!) eliminatorisch-reduktionistischen Position, die davon ausgeht, dass es in Wahrheit nur „kalte Materie und ihre Wirkungen“ (Zitat AM) gibt, womit er sich jedoch jegliche Unterstellung einer realen Bedeutsamkeit von Selbstreflexion, Aufklärung etc. abschminken kann! Beide Positionen gleichzeitig zu vertreten, ist logisch schlichtweg unmöglich!

Halten wir deshalb noch einmal fest: Wenn sich Leben von Nicht-Leben nicht durch real wirksame, emergente Systemeigenschaften unterscheidet, d.h. wenn es im Universum nur eine aufwärtsgerichtete, aber keine abwärtsgerichtete Verursachung gibt, dann würde dies bedeuten, dass U1 --> W1 absolut gleichbedeutend mit U1*--> W1* wäre. Dann wären all unsere „Gründe“ letztlich bloß Physik, alle „Hoffnung“ Physik, alle „Liebe“ Physik – und nichts weiter! Wie gesagt: Denkmöglich ist eine solche Position schon (alle uns emergent erscheinenden Phänomene könnten in der Tat bloße Illusionen sein!), die Frage ist allerdings, ob wir mit einem solch fatalistischen Bild der Wirklichkeit gut leben können.