Wege aus dem Labyrinth (2)

Mr DataWarum sich Mr. Data nicht vor der Schrottpresse fürchten muss

Mich erinnert die Vorstellung, dass emergente Eigenschaften uns bloß als solche erscheinen, jedoch im Grunde gar nicht existieren, an das sogenannte „Holodeck“ auf dem berühmten „Raumschiff Enterprise“ (Science-Fiction-Serie: Star Trek – The Next Generation). Holodeck-Programme stellen im fiktionalen Star-Trek-Universum eine zu Unterhaltungszwecken geschaffene, virtuelle Realität dar, in der lebende Personen (die Raumschiffbesatzung) mit Holo-Charakteren (holografisch erzeugten Persönlichkeits-Simulationsprogrammen) interagieren, die zwar täuschend echt wirken, jedoch in Wahrheit nur Teil einer komplexen Computermatrix sind. Holo-Charaktere besitzen (in der Regel) kein Bewusstsein, sie scheinen zwar, Empfindungen zu haben (sie lachen, weinen, kämpfen, streiten usw.), tatsächlich aber simulieren sie derartige Eigenschaften bloß. Da die Holo-Charaktere als reine Computersimulationen keine Empfindungsfähigkeit besitzen, hat die Crew der Enterprise verständlicherweise keinerlei ethische Bedenken, Holo-Programme nach Belieben zu starten, zu beenden, zu modifizieren oder zu löschen.

Es gibt jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel, nämlich in Gestalt des „Professor Moriarty“. Diese Holofigur wurde (so wollte es das Drehbuch von Star Trek, TNG, 2. Staffel, 3. Episode) geschaffen, um einen ebenbürtigen Gegner für das Crewmitglied Lieutenant Commander Data zu finden. Dies war allerdings nur unter der Voraussetzung möglich, dass Moriarty wie Data ein Bewusstsein seiner selbst entwickelte. Auf diese Weise wandelte sich die Computerspielfigur Moriarty zu einer eigenen (virtuellen) Lebensform. Gewiss: Derartiges müssen wir im realen Leben kaum befürchten, doch in der hypothetischen Welt des Science-Fiction ist bekanntlich Vieles möglich, woraus sich mitunter auch interessante, philosophische Fragestellungen ergeben können. Der Fall „Moriarty“ beispielsweise wirft unter anderem die folgenden Fragen auf: Wodurch unterscheidet sich Leben von Nicht-Leben? Sind die emergenten Eigenschaften von Leben wirklich notwendigerweise mit organischer Materie auf Kohlenstoff-Basis verknüpft? Oder sind „künstliche Lebensformen“ (etwa auf Siliziumbasis) denkbar, die alle wesentlichen Eigenschaften aufweisen, über die lebende Organismen verfügen?

Ich möchte die prinzipielle Möglichkeit „künstlichen Lebens“ keineswegs ausschließen, obgleich ich stark davon überzeugt bin, dass es in absehbarer Zeit derartige Lebensformen nicht geben wird. Sollten jedoch irgendwann einmal die emergenten Eigenschaften von Leben in künstlichen Systemen auftreten, so müssten wir diese künstlichen Lebensformen selbstverständlich in unseren ethischen Interessensabwägungen berücksichtigen. Captain Picard, der Kommandant des Raumschiff Enterprise, tut dies im Umgang mit Professor Moriarty (siehe TNG, Staffel 6, Episode 12). Und selbstverständlich verfährt er in gleicher Weise im Umgang mit Lieutenant Commander Data, der ebenfalls (wie Moriarty) kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine künstliche Lebensform auf Siliziumbasis ist.

Wenn Andreas Müller in seiner Artikelserie nun behauptet, dass ich Mr. Data bedenkenlos verschrotten würde, sofern mir eine Begegnung mit einem solch grandiosen Androiden vergönnt wäre, so zeigt dies, dass er weder meine Texte gründlich genug gelesen noch die eigentliche Pointe der Kunstfigur Data verstanden hat. Schließlich wird in der philosophisch interessanten Episode „Wem gehört Data?“ (TNG, Staffel 2, Episode 9) explizit die Frage verhandelt, ob dieser Androide namens Data bloß eine Maschine ist, die man bedenkenlos auseinander nehmen kann, oder ob er eine eigenständige Lebensform darstellt, die ethisch berücksichtigt werden muss, da sie zu echten (nicht bloß simulierten!) eigenen Gedanken und Empfindungen fähig ist. Letztlich setzt sich in der entsprechenden Gerichtsverhandlung die Ansicht durch, dass Data sehr wohl die emergenten Eigenschaften von Leben aufweist, auch wenn seine Empfindungen (zumindest vor dem Einsatz des sogenannten „Emotions-Chips“, was erstmalig im Spielfilm „Treffen der Generationen“ geschieht) nicht mit menschlichen Emotionen zu vergleichen sind. Weil Data darüber hinaus (im Unterschied zu seiner Katze „Spot“) über ein komplexes Bewusstsein seiner selbst verfügt, wird er per Gerichtsbeschluss als ordentlicher Bürger der Förderation anerkannt, der ausgestattet mit allen Rechten und Pflichten einer „normalen“, organisch-humanoiden Lebensform frei (im Sinne von Handlungsfreiheit) über sein Leben verfügen kann.

Der von Andreas Müller zitierte Fall der Kunstfigur Data zeigt also (anders als AM meinte), dass die Unterscheidung von Leben und Nicht-Leben keineswegs nur eine belanglose Spielerei von Philosophen ist, sondern dass sie von eminenter Bedeutung für unsere ethischen Entscheidungen ist. Mehr noch: Der Fall „Data“ belegt, dass die Differenz von Leben und Nicht-Leben selbst dann noch bedeutungsvoll sein wird, wenn es uns einmal weit schwerer fallen sollte als heute, zwischen Leben und Nicht-Leben zu unterscheiden. Selbstverständlich sollte in einem solchen Fall der Uneindeutigkeit (wie in der erwähnten Star-Trek-Episode) der alte Leitsatz „Im Zweifel für den Angeklagten!“ gelten. Und eben deshalb sollte ein potentieller Mr. Data der Zukunft (unter der Voraussetzung, dass die dann lebenden Menschen in der Lage sind, stringente philosophische Unterscheidungen vorzunehmen!) ganz bestimmt keine Sorge haben, in der Schrottpresse zu landen.

All dies hätte AM eigentlich auch ohne diese Replik wissen können. Er hätte bloß die entsprechende Passage aus dem FAQ zu „Jenseits von Gut und Böse“ vollständig (und nicht bloß unzulässig verkürzt) zitieren müssen. Dort heißt es: „Nun einmal angenommen, wir besäßen tatsächlich das technische Know-how, um einen Katzen-Roboter so zu programmieren, dass wir ihn von einer echten Katze nicht mehr unterscheiden könnten. Handelte es sich bei einer solchen High-Tech-Roboter-Katze nun um ein ‚echtes Lebewesen’ oder bloß um eine besonders raffinierte ‚Simulation eines Lebewesens’? Es könnte sein (und dies ist meines Erachtens die weit wahrscheinlichere Variante!), dass für diesen Roboter trotz seiner raffinierten Reaktionen und seiner scheinbaren Intelligenz die eigene Existenz ebenso wenig Bedeutung hätte wie für einen gewöhnlichen Staubsauger oder Toaster. Er wäre eine Maschine, unfähig zum Erleben von Wohl und Wehe, obgleich wir aufgrund einer geschickten Simulation emotionaler Reaktionen das Gegenteil vermuten würden.“

Leider zitiert Andreas Müller nur bis zu dieser Stelle aus dem FAQ-Dokument (womit er seine Ansicht begründen kann, dass ich Mr. Data wohl verschrotten würde), im Original geht die Passage jedoch folgendermaßen weiter: „Es könnte aber auch sein, dass wir (ohne unser Wissen und Wollen) tatsächlich ein kybernetisches Lebewesen erschaffen hätten, das Leid und Freude, Lust und Schmerz empfindet, kurzum: das seiner Existenz in irgendeiner Form ‚Bedeutung’ zumisst. Tragischerweise wäre es für uns unmöglich, das eine von dem anderen zu unterscheiden. Diese mögliche Unfähigkeit zur Unterscheidung von Leben und Nichtleben würde allerdings nicht heißen, dass die zugrunde liegende Unterscheidung bedeutungslos geworden wäre. Sie würde weiterhin die bedeutsamste Unterscheidung bleiben, die es überhaupt gibt! Denn echte Lebewesen (ob nun auf Kohlenstoff- oder auf Siliziumbasis) müssten wir in unseren ethischen Entscheidungen berücksichtigen, was auf emotionslose (wenn auch Emotionen möglicherweise perfekt simulierende) Maschinen nicht zutrifft. Fazit: Die Unterscheidung von Leben und Nicht-Leben wird niemals hinfällig sein, allerdings wird es in Zukunft wohl weit schwieriger – und wenn wir nicht aufpassen, vielleicht sogar unmöglich! – werden, diese basale Unterscheidung vorzunehmen.“

Im abschließenden dritten Teil dieser Replik erfahren Sie in der nächsten Woche, warum eliminatorische Reduktionisten eine „Zombie-Psychologie“ vertreten und warum der Glaube an Irreales durchaus mit realen Konsequenzen verbunden ist. Außerdem ziehe ich eine persönliche Bilanz der Debatte und bedanke mich bei meinem Kritiker, durch dessen Artikelserie mir einige Probleme bewusst wurden, die ich zuvor nicht hinreichend beachtet habe.

 

Michael Schmidt-Salomons Artikelserie:

Der erste Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (1)
Der dritte Teil der Replik „Wege aus dem Labyrinth (3)"

 

Andreas Müllers Artikelserie über die Willensfreiheit:

Teil 1: Im Labyrinth der Willensfreiheit
Teil 2: Abschied von der Willensfreiheit
Teil 3: Das Marionettentheater
 

FAQ zu „Jenseits von Gut und Böse“ (MSS)
 

Der von AM zitierte Wikipedia-Artikel „Physikalische Gesetze
 

Der jüngste Biologismus-Vorwurf von Prof. Dr. Reinhold Leinfelder