Gott, die Religion und die Sache mit dem freien Willen

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In Belfast ist die Erinnerung an den Bürgerkrieg allgegenwärtig.
In Belfast ist die Erinnerung an den Bürgerkrieg allgegenwärtig.

Wir leben zwar in einer säkularisierten Welt und viele Staaten kennen die Trennung von Staat und Kirche, doch religiöse Überzeugungen, Ideen und Machtinteressen sind in der Politik omnipräsent.

Die kürzlichen Anschläge in Sri Lanka demonstrieren die Folgen der religiösen Konflikte auf eindrückliche Weise: Radikale Muslime ermordeten in christlichen Kirchen Katholiken. Die religiös motivierten Gewalttaten sind nicht nur ein "Clash der Kulturen", viele religiöse Konflikte haben einen politischen Hintergrund.

So zeigt der brutale Streit zwischen Sunniten und Schiiten, dass es auch politische Machtkämpfe zwischen Glaubensbrüdern gibt. Der jahrzehntelange blutige Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, der durch den Brexit neu aufflammen könnte, zeigt das politische Konfliktpotenzial auch unter christlichen Religionsgemeinschaften.

Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wo befindet sich Gott, wenn sich seine Jünger in seinem Namen die Köpfe einschlagen? Er steht offensichtlich abseits und glänzt durch Abwesenheit.

Christen verteidigen seine "Gleichgültigkeit" mit dem Argument, Gott habe uns aus dem Paradies verwiesen und uns einen freien Willen gegeben, das Leben und die Welt nach unseren Vorstellungen zu gestalten.

Nur: Was hat der Sündenfall von Adam und Eva mit uns Zeitgenossen zu tun? Gerechtigkeit sieht anders aus, und die Kollektivstrafe ist nicht einmal im Militär erlaubt.

Opfer sind die Unterprivilegierten

Außerdem: Wir durchschnittlichen Menschen haben zwar einen freien Willen, doch wir können mit diesem keinen Frieden stiften. Ein paar skrupellose oder narzisstische Staatsoberhäupter – von Trump bis Putin, von Xi Jinping bis Duterte, von Erdogan bis Orban, von Maduro bis zu den afrikanischen Autokraten – zwingen Milliarden von Menschen ihren Willen auf.

Opfer ihrer Machpolitik sind oft die Unterprivilegierten. Nicht wenige landen trotz des vermeintlich freien Willens auf der Flucht in einer maroden Barke, die im Mittelmeer versinkt. Schaffen sie es doch bis nach Europa, haben sie zwar ihr Leben gerettet, doch sie sind meist entwurzelt und ohne Zukunftsaussichten. Der freie Wille bleibt also auf der Strecke.

Überhaupt gibt es den freien Willen nur im christlichen Glauben. Philosophie, Psychologie und Soziologie haben den Mythos von der Willensfreiheit längst enttarnt.

Wir sind eingebettet in soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen, die von uns Einordnung bis Unterordnung verlangen. Dies empfinden wir zu recht oft einengend, doch ohne Spielregeln sind wir nicht überlebensfähig. Unschön und teilweise missbräuchlich ist, dass oft machtbesessene und unempathische Menschen die Regeln bestimmen.

Ängste und Aberglauben legen uns lahm

Der freie Wille wird aber auch durch unsere eigene Bedingtheit eingeschränkt. Ängste, psychische Störungen, körperliche Grenzen und hirnphysiologische Fehlfunktionen prägen unser Leben mit – oder bestimmen es über weite Strecken. Außerdem legen wir uns auch selber lahm durch Selbsttäuschungen, Vorurteile, Einbildungen, destruktive Sehnsüchte, Ängste und Aberglauben.

Die religiöse Idee vom freien Willen, den uns Gott angeblich gegeben hat, ist also eine Illusion. Damit werden Gläubige getäuscht und diszipliniert. Dies ist vor allem in Freikirchen zu beobachten. Dort halten die Pastoren trotz gegenteiliger Erkenntnisse unbeirrt an der Idee von der Willensfreiheit aus religiösen Gründen fest.

Indem den Gläubigen vorgegaukelt wird, alle Entscheide selbst treffen zu können, werden sie in die Irre geführt. Gläubige, die schwach werden und sündigen, fühlen sich schuldig und minderwertig. Sie befürchten sogar, dass sie am Jüngsten Tag ein übervolles Sündenregister haben und ihnen die Tür ins Jenseits vor der Nase zugeschlagen wird. Und dann ist es mit dem freien Willen definitiv vorbei.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.