Die Akte A

Welche Ziele verfolgt die UAAR?

Unser Motto lautet: „Wäre Italien ein besserer Ort, würde es die UAAR nicht brauchen“. Wenn es uns gibt dann deshalb, weil hier vieles im Argen liegt, was in andern Ländern schon früher und besser als in Italien realisiert wurde. Die Anerkennung der Rechte von Atheisten und Agnostikern, die Säkularisierung des Staates und seiner Institutionen, die Verankerung nichtreligiöser Weltanschauungen. Die italienische Verfassung garantiert uns Gleichbehandlung, und doch werden Nichtgläubige faktisch diskriminiert.

Inwiefern?

Es fängt damit an, dass Religionsspott in Italien als Delikt gilt. Oder denken Sie an Eltern in Kleinstädten, die ihre Kinder nicht in die Religionsstunde schicken wollen... Und schliesslich finanzieren Atheisten und Agnostiker die Kirche aufgrund der unseligen 8 Promille-Regelung über ihre Steuergelder direkt oder indirekt mit. D.h. konkret, dass 8 0/00 der gesamten vom Staate eingezogenen Einkommenssteuern religiösen Hilfswerken zufließen. Geistliche in Krankenhäusern und Gefängnissen werden mit öffentlichen Geldern entlohnt, Konkubinatspaare benachteiligt, Patientenverfügungen umgangen, die Einführung und Abgabe der Abtreibungspille RU-486, der sogenannten „Pille danach“ verzögert respektive erschwert.


Was ist die Religionsstunde und wie wird sie gehandhabt?

In der Religionsstunde erhalten die Schüler katholische Glaubensunterweisung durch Lehrer, die direkt vom Vatikan angestellt, aber vom Staat bezahlt werden. Es ist, als ob Marxismus auf dem Lehrplan stünde und der Staat ausgewiesene Marxisten beauftragen müsste, das Fach linientreu zu unterrichten.


Ist sie nicht freiwillig?

Theoretisch schon. Aber in der Praxis lässt sich kaum vermeiden dass Schüler, die sich dispensieren lassen, bis zu einem gewissen Grad diskriminiert werden. Gerade außerhalb der größeren Städte.


In Ihrem Buch "Wege aus der Herde” prangern Sie die “totalitären” Bestrebungen der Kirche an, das Individuum zu kontrollieren. Wo sehen Sie diese Gefahr?

Von der Wiege bis zur Bahre werden die Gläubigen angehalten, nach den strengen Regeln der katholischen Doktrin zu leben. Mehr noch, letztlich verfolgt die Kirche das Ziel, die gesamte Bevölkerung, ja die Menschheit zu missionieren und zu taufen. Eine solch weltumspannende Vision hegten nicht einmal die totalitärsten politischen Ideologen.

Wo liegt der Ursprung der engen Verflechtung zwischen dem italienischen Staat und der katholischen Kirche?

Den Grundstein legten die Lateranverträge von 1929 zwischen dem faschistischen Regime und dem Heiligen Stuhl. Bis dahin war Italien ähnlich laizistisch wie die andern europäischen Länder. Nach dem 2. Weltkrieg dominierten die Christdemokraten Italiens Politik während Jahrzehnten, was die Dinge noch schlimmer machte. In den 1970ern zeichnete sich endlich eine Kursänderung ab: Scheidung und Abtreibung wurden (gegen den Widerstand des Vatikans auf parlamentarischem Weg, Anm. d. Ü.) ermöglicht. Aber leider war diese Phase von kurzer Dauer.


Was sind „Enttaufungen“, und was bezweckt man damit?

Die sogenannte Enttaufung ist die legale Umsetzung eines grundlegenden Menschenrechtes: die eigene Religionszugehörigkeit zu ändern oder keiner Religion mehr anzugehören. In Italien erlaubt es dieser Akt, sich von der Kirche zu trennen und ihr so die Autorität zu entziehen, über das persönliche Handeln zu richten. Der italienische Gesetzgeber hat unglücklicherweise entschieden, dass in Glaubensangelegenheiten der Getaufte den Kirchenhierarchien unterstellt ist und er ihnen gegenüber zu Gehorsam verpflichtet sei. Die Enttaufung schafft hier Abhilfe. Manche lassen sich enttaufen, weil sie mit bestimmten Vorgaben der Kirche nicht einverstanden sind. Es gibt verschiedene Gründe für diesen Schritt.


Der Vatikan ist gegen Diskriminierung, streicht jedoch immer wieder Europas „christliche Wurzeln“ hervor. Ein Widerspruch?

Absolut. Unser Kontinent hat nicht nur christliche Wurzeln. Was ist mit dem enormen Einfluss der Aufklärung? Indessen hat der Vatikan ja auch versucht, die Gay Pride zu verhindern unter Bezugnahme auf den „heiligen“ Charakter, der Rom durch die Lateranverträge zukomme. Durch eine „christliche“ Auslegung der Gesetze werden alle Anders- oder Nichtgläubigen aufs Gröbste diskriminiert.


Nimmt die Zahl der Nichtgläubigen in Italien zu?

Fast alle verfügbaren Untersuchungen gehen davon aus, dass wir gegenwärtig rund einen Sechstel der Bevölkerung ausmachen. Die Zahl wäre noch höher, wenn die den Katholizismus fördernden Faktoren wegfielen. Das Religionsbarometer (welches Entwicklungen wie Kirchgang, Vertrauen in die Kirche, standesamtliche Heiraten, etc. berücksichtigt) zeigt eindeutig nach unten.

Ist der Atheismus, wie manche behaupten, nicht bloß eine andere Religion und welche Position nehmen die „Neuen Atheisten“ wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens ein?

Atheisten sind sich darin einig, dass es Gott nicht gibt. Abgesehen davon wird wohl jeder seinen Atheismus auf individuelle Art und Weise auslegen. Mit „Neue Atheisten“ bezeichnet man sowohl die weltweite Zunahme von Nichtgläubigen als auch eine junge Bewegung mit sehr profilierten Exponenten, die für die Vertreter etablierter Glaubensgemeinschaften zusehends bedrohlich wirken. Die Wortführer des “Neuen Atheismus” unterscheiden sich inhaltlich und in ihren Temperamenten sehr stark und können schwerlich auf einen Nenner gebracht werden.

Ist in Italien eine strikte Trennung von Kirche und Staat wie in den USA überhaupt möglich? Und wäre sie denn wünschenswert?

Italien gehört zur EU, welche sich eindeutig weiter säkularisiert. Ob wir in Italien je eine mit den USA oder Frankreich vergleichbare Trennung erreichen lässt sich schwerlich sagen. Auf sich gestellt hätte Italien mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich denke nicht, dass es sich auf Dauer lohnen wird, die massiven Privilegien der katholischen Kirche zu bewahren.

Kürzlich wurde die Homo-Ehe in Mexico City legalisiert. Wäre so etwas in Italien denkbar?

Früher oder später schon. Der weltweite Trend geht in diese Richtung. Die Frage ist nur wann. Italien zählt sich zu den europäischen Nationen. In Wirklichkeit sind wir das reichste, aber bei weitem nicht das fortschrittlichste Entwicklungsland.

Was sagen Sie zum Schweizer Minarett-Verbot?

Ich finde es falsch. Minarette fallen unter das private Baurecht, und natürlich sollen sie städteplanerischen Kriterien genügen. Im Gegensatz zur privat ausgeübten Glaubensfreiheit betreffen Kruzifixe in öffentlichen Gebäuden die Allgemeinheit.


Wie beurteilen Sie die Haltung der katholischen Kirche in Bezug auf die Evolutionslehre?

Sie ist widersprüchlich: einerseits distanziert sie sich klar von der Schöpfungslehre, ebenso, aber weniger deutlich, lehnt sie die Intelligent Design- Theorie ab. Andererseits gelten Adam und Eva als “historische Tatsache”. In dieser Haltung spiegelt sich m. E. die Unfähigkeit, wissenschaftliche Fakten mit den eigenen heiligen Schriften und Dogmen zu vereinbaren.

Was für Menschen treten der UAAR bei?

Die unterschiedlichsten! In der Regel sind unsere Mitglieder männlich, mit Abitur, aus norditalienischen Städten, in den 40ern. Viele arbeiten in der IT-Branche.


Missioniert die UAAR?

Nein. Wir sind für Menschen da, die sich bereits zum Atheismus oder Agnostizismus bekennen oder sich mit den eigenen Zweifeln auseinandersetzen. Es wäre inkonsequent, wenn eine Freidenker-Vereinigung zum Unglauben bekehren wollte. Menschen sind durchaus fähig, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Das Interview führte Marc Di Martino. Raffaele Carcano ist zusammen mit Adele Orioli Ko-Autor des Buches „Uscire dal Gregge“ (Wege aus der Herde), das 2008 im Verlag Luca Sossella Editore erschienen ist. Die UAAR betreibt eine italienischsprachige Website.

Mit freundlicher Genehmigung von „The American / In Italia“

Übersetzung aus dem Italienischen: Grazia Annen