Humanismusperspektiven

BERLIN (hpd) Humanismus ist keine einheitliche, über allgemein anerkannte Dogmen konturierte Weltanschauung, sondern bietet Raum für unterschiedliche Ansätze. Dies verdeutlicht der Sammelband „Humanismusperspektiven“, in dem diverse Autorinnen und Autoren ein gutes Dutzend Konzepte vorstellen.

Das Buch dokumentiert eine Tagung der Humanistischen Akademie Deutschland aus dem November 2008 zu dem Thema „Was ist Humanismus heute?“ und erscheint als erster Band einer Schriftenreihe. Ein Interview mit dem Herausgeber und Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland, Dr. Horst Groschopp.
 

hpd: Was will uns der Titel des Sammelbandes sagen?

Horst Groschopp: Es geht darum, verschiedene Perspektiven in der Sicht auf Humanismus abzubilden und dabei die Frage zu stellen, ob Humanismus Perspektive hat.

hpd: Im von Ihnen herausgegebenen Sammelband stellen namhafte Philosophen und Kulturwissenschaftler etwa ein Dutzend Humanismus-Konzepte vor; steht da jedes für sich allein oder lassen sie sich in „Gruppen“ oder „Traditionen“ zusammenfassen?

Horst Groschopp: Dass es tatsächlich so viele „Konzepte“ sind – das würde ich nicht so sehen, das mögen aber die Leserinnen und Leser entscheiden. Bemerkenswert scheint mir vielmehr, dass die Autoren allesamt ein Herangehen pflegen, wie es in den modernen Wissenschaften üblich ist, obwohl auch „Weltanschauliches“ verhandelt wird, bis hin zu der Frage, ob nicht Humanismus auch eine Art Bekenntnis ist – während anderen im Sammelband „Unglaube genügt“, wie ein Beitrag heißt. Einige der Autoren stehen den säkularen Organisationen und deren Bestrebungen übrigens ziemlich fern. Andere Autoren wiederum illustrieren das breite Spektrum, in dem Humanismus dort gedacht wird und sich institutionalisiert hat, etwa in der Giordano Bruno Stiftung, dem Humanistischen Verband Deutschland oder der Humanistischen Union. Der Diskurs über Humanismus ist etwas alle Autoren Verbindendes.

Beispielbild
Horst Groschopp / Foto: Peter Groht
hpd: Was ließe sich dann als gemeinsame Grundlage all jener beschreiben, die zu dem Buch Texte beigesteuert haben?

Horst Groschopp: Ich würde es den Wunsch und den Zwang nennen, den Dialog unter all jenen besser als bisher zu pflegen, die über Humanismus heute nachdenken, darunter also mehr verstehen als elfenbeintürmige antike Erbepflege und konservativ verstandenes Humanistisches Gymnasium. Alle Beiträge durchzieht ein „politischer Akademismus“. Man will sich wissenschaftlich verorten gegenüber theologischen Ansprüchen der Welterklärung, aber dies ohne religionskritische Aufregung.

hpd: Ist das nicht ein ziemlich einsamer Diskurs aus den Bedürfnissen des Humanistischen Verbandes heraus?

Horst Groschopp: Beides ist dahin, die immer mal wieder bemühte „Einsamkeit des HVD“ in Humanismus-Sachen und der Vorwurf, ihm gehe es ausschließlich um „Verbandshumanismus“. Mit diesen Befunden umzugehen, ist ja gerade ein Problem des Verbandes. Die besondere Bedürftigkeit würde ich aber nicht leugnen wollen, in doppelter Hinsicht: Man merkt, da fehlt noch Theorie. Aber man erkennt zugleich, dass man sie wirklich braucht.

Hier würde ich konstatieren, dass die „Humanismusperspektiven“ zu einem günstigen Zeitpunkt erscheinen. Kürzlich sind nämlich zwei weitere wichtige Bücher erschienen: Frieder Otto Wolfs „Humanismus für das 21. Jahrhundert“ und der von Jörn Rüsen und Henner Laass herausgegebene Sammelband „Interkultureller Humanismus“. In dem Sammelband von Rüsen und Laass finden sich viele Befunde über die Internationalität des Diskurses über Humanismus, darunter eine grundsätzliche konzeptionelle Anmerkung im Artikel von Heiner Roetz über konfuzianischen Humanismus. Er merkt an, dass Humanismus „kein Proprium des biblisch-griechischen Abendlandes“ ist.

Damit werden die Dimensionen und die Debatten klarer, in die ein wesentlich auf Deutschland bezogenes Buch wie die „Humanismusperspektiven“ hinein gerät. Zwei Beiträge in dem Band (Cancik, Vöhler) zeigen, wie „deutsch“ die „Erfindung“ des Begriffs 1808 und die Antikeaneignung zunächst war und von den Erben auch „verbogen“ wurde. Hier findet sich viel Wissenswertes für jeden Philosophiestudenten und eine allgemein interessierte Leserschaft.

hpd: Worin liegen dann die wichtigsten grundsätzlichen Unterschiede?

Horst Groschopp: Unterschiede ergeben sich logischerweise aus den behandelten Gegenständen und den argumentativen Methoden. Die Frage zielt aber eher auf den Streit „unter uns“ Säkularen. Es wurden ja bewusst „Programmatiker“ ums Wort gebeten. Was den bürgerrechtlichen von einem weltanschaulichen Humanismus trennt, das wird schon deutlich. Aber auch unter den „Weltanschaulichen“ hat ein erster Rezensent, der Pressesprecher des HVD Berlin, sofort eine wichtige Differenz festgestellt (ich will ihn hier zitieren): „ob Humanismus eine Frage der Kultur oder eher eine Frage der Natur sei. Während Nida-Rümelin ganz klar die Position bezieht, dass Humanismus und insbesondere eine Humanistische Ethik gegen die Philosophie des Naturalismus sperrt, nimmt Schmidt-Salomon die gegensätzliche Position ein. Steht auf der einen Seite das Argument, dass der theoretische Humanismus ‘nicht mit einem harten Naturalismus im dargestellten Sinne vereinbar’ ist, steht dem ein ‘Es gibt keine Kultur jenseits der Natur’ gegenüber.“

hpd: Sind solche Selbstvergewisserungen nur von theoretischem Interesse oder haben sie direkte Auswirkungen auf die praktische Arbeit und die politischen Strategien der organisierten Humanisten?

Horst Groschopp: Über die Zukunftsfähigkeit humanistischer Konzepte entscheidet eine entsprechende Praxis, die nicht nur eine politische ist. Praxis meint auch, dass Menschen von einer angewandten „Konzeption“ etwas für ihr Leben Nützliches haben wollen. Theorie macht weder satt noch gesund, betreut keine Kinder, hilft nicht beim Sterben usw. Aber ohne Theorie ist Humanismus wie das Christentum ohne Theologie – letztlich konzeptionslos.

Für „Theoriearbeiter“ wiederum sind „Konzeptdiskussionen“ Praxis und (geistige) Nahrung. Insofern haben wir Fortschritte zu verzeichnen. Die „Humanismusperspektiven“ begeben sich in die öffentlichen Debatten hinein, auch in die akademischen. Darin kommt um, wer nicht seriös ist. Da werden wir sehen, ob die „Humanismusperspektiven“ als ernsthafter Beitrag anerkannt werden auch bei den ernsthaften „konzeptionellen“ Konkurrenten. Das entscheiden weder Herausgeber noch Verleger.

hpd: Die Beiträge im Buch beziehen teilweise konträre Positionen; da stellt sich die Frage, wie die Diskussion zu den Perspektiven des Humanismus über die Tagung hinaus gelaufen ist und wie sie durch den Band neu angestoßen werden könnte.

Horst Groschopp: Darauf will ich ganz pragmatisch antworten und mich nur auf den HVD beziehen. Ein Weltanschauungsverband, der sich dem Humanismus schon durch seinen Namen verpflichtet fühlt, muss sich hierzu und zu all den vielen weiteren neueren Publikationen über Humanismus, intellektuell verhalten. Erst daraus kann er einige Antworten auf die Frage ableiten, wo sein eigener Platz in diesen Debatten ist und worin sein unverwechselbarer Beitrag zu einer Humanistik besteht. Das ist für mich eine Kernfrage, ob und wie es der akademischen Anhängerschaft des organisierten Humanismus – etwa seinen Akademien – gelingt, in diesen Debatten deutliche Spuren zu legen.


hpd: Das Buch soll also ein Beitrag zur Humanistik sein? Was ist das?

Horst Groschopp: Der Begriff „Humanistik“ ist in Holland und Belgien bereits „normal“. Als Theorie und Geschichte des Humanismus ist das Wort parallel zur Kategorie der Germanistik gebildet und mit dem der Urbanistik vergleichbar. Letztere kennt einen „Urbanismus“, kann „urbane“ Zustände erkennen und bewerten, weiß in etwa, was „Urbanität“ ist usw. Gleiches kann für den Humanismus angenommen werden: „Humanität“ bedeutet „Menschlichkeit“, benennt „humane“ Zustände, Handlungen und Personen.

Einen „wissenschaftlichen Humanismus“ halte ich nicht für möglich, aber eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm durchaus. Das könnte man „Humanistik“ nennen. Wir nehmen hier eine ältere Debatte wieder auf. Für den HVD ist wichtig – gerade im aktuellen Streit um Islamlehrstühle – wie Humanismus an Hochschulen verankert wird, generell, und speziell wie unsere Lebenskundelehrer und Lehrerinnen und unsere humanistischen Beraterinnen und Berater akademisch gebildet werden. Auch Vorschulerziehung wird ja Hochschulfach und wir haben etliche humanistische Kitas.

hpd: Was haben die „Humanismusperspektiven“ damit zu tun?

Horst Groschopp: Der Sammelband ist ein bescheidener Diskussionsbeitrag. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es sicher nur einen Humanismus gibt, aber viele Zugänge und Lesarten. Die Literatur kennt, und einige wenige Spezialitäten stellt das vorliegende Buch näher vor, Humanismus (in alphabetischer Reihenfolge) als abendländischen, afrikanischen, alten, anthropologischen, anthropozentrischen, anthropozentristischen, antiken, atheistischen, bürgerlichen, christlichen, dritten, ersten, ethischen, evolutionären, indischen, interkulturellen, islamischen (bzw. arabischen), jüdischen, klassischen, konfuzianischen, kritischen, lateinamerikanischen, multikulturellen (diesen mehrfach), naturalistischen, ökologischen, pädagogischen, philosophischen, praktischen, realen, sozialistischen (nicht immer zugleich proletarischen), super-humanistischen, trans-humanistischen, weltlichen (säkularen), zeitgenössischen, zweiten ... Selbst über „sexuellen Humanismus“ erschien 1988 ein Buch, geschrieben von Prostituierten.

Kurz: Der „weltanschauliche Humanismus“ kann schon durch bloße Kenntnisnahme anderer Beiträge viel gewinnen. Ich halte es da mit dem Vorschlag des Philosophen, Physikers und Wissenschaftstheoretikers Ernst Mach von 1883, Humanismus sei die Lehre, „eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen“.

hpd: Mir ist aufgefallen, dass einige Autoren sich sehr um Abgrenzung gegenüber dem so genannten Neuen Atheismus beziehungsweise gegenüber jeder Art polemischer oder satirischer Religionskritik bemühen, sogar der olle Johann Most wird als „Radau-Atheist“ verdammt. Warum fällt es Humanisten so schwer, herzhaft über die unsinnigen Aussagen von Religion zu lachen?

Horst Groschopp: Das hat viele Facetten. Erstens sei daran erinnert, dass am zweiten Tag der Konferenz die „Humanistische Akademie Berlin“ zum Thema „’Neuer Atheismus’ und politischer Humanismus“ (veröffentlicht in „humanismus aktuell“ Heft 23) eingeladen hatte, und dass danach der „KORSO“ gegründet wurde. An beiden Tagen herrschte das Bedürfnis nach klarer Aussprache vor.

Zweitens ist mir die Frage nach dem Humor „der“ Humanisten zu allgemein, denn es gibt, wie man so sagt, so’ne und solche. Dann ist – drittens – der Johann Most eine historische Person und zunächst als solche zu sehen. Das bedeutet auch, dass das Damals nicht das Heute ist und umgekehrt, woraus sich sicher Vergleichsschwierigkeiten ergeben. Aber er gilt nun einmal mit seiner „Gottespest“ von 1887, worin er diese als Geisteskrankheit geißelt, als radikaler Anti-Religionskämpfer und ein Vergleich mit dem „Gotteswahn“ bietet sich nun einmal an – inwiefern gerechtfertigt, das muss die Leserschaft selbst feststellen.

Viertens finde ich persönlich vieles in Religionen lächerlich. Aber auch der real existierende Säkularismus ist oft nicht frei von Komik. Dieses oft zu kurze weltliche Hemd ist mir näher als mancher überlange geistliche Rock.

Dann wird mir – fünftens – das Thema Religion häufig von (ich greife jetzt das Wort mal auf) „Radau-Atheisten“ nicht ernstlich genug genommen. Religionen lassen sich nicht einfach weglachen. Wenn Humanismus Religionen ersetzen soll, das ist ja der Wunsch vieler, die für ihn eintreten, dann müssen Religionen ernst genommen werden als Kultursysteme. Das hat Folgen.

Böse Folgen hat aber auch, sechstens, wenn ich die Religionsfrage über die „soziale Frage“ stelle. Hier steht mir mancher religiöse Sozialist wiederum näher als mancher atheistische Chicago-Bruder.

hpd: Ich könnte auch anders fragen: Beschreibt die Abgrenzung gegenüber dem Neuen Atheismus die Trennlinie zwischen zwei politischen Lagern oder geht es eher darum, das eigene Profil klar zu zeichnen, um so die Unterschiede innerhalb eines politischen Lagers erkennbar werden zu lassen?

Horst Groschopp: Ich glaube, es ist noch zu früh, von der Ausbildung politischer Lager innerhalb der Fraktionen der deutschen Säkularisten zu sprechen. Organisationen, noch dazu nicht sehr große, sind zudem keine „Lager“. Historisch gesehen gab es immer mindestens zwei Fraktionen, die der Freireligiösen und Humanisten sowie die der Atheisten und Freidenker. Vielleicht passt das wirklich nicht in einen Verein.

Man kann Ansätze zu einer „Lagerbildung“ unter den Organisierten erkennen in der politischen Strategiefrage, ob die Antwort hinsichtlich der Staat-Kirche-Trennung vorrangig (!) in GG Art. 140 iVm Art. 138,1 WRV gesehen wird (verkürzt: Abschaffung aller Staatsleistungen) oder in Art. 137,7 (verkürzt: Gleichbehandlung).

Doch ob das mit der Atheismus-Debatte etwas zu tun hat oder ob Diskurse über kulturellen versus evolutionären Humanismus uns in der Strategiebildung weiter bringen, das wage ich sehr zu bezweifeln. Hier geht es zwar um wichtige weltanschauliche Profile und theoretische Thesen, durchaus auch von Organisationen – aber daraus folgt nicht notwendig ein politisches Schisma. Gerade die „Humanismusperspektiven“ können so etwas nicht belegen.

hpd: Mir hat die Formulierung bei Petra Caysa, die in Anlehnung an Michel Foucault Humanismus als „Kunst des Nichtregiertwerdens“ bezeichnet, gut gefallen, da sie Humanismus als politisches Projekt versteht. Gibt es unter den organisierten Humanisten eine Mehrheit für eine solche Interpretation von Humanismus?

Horst Groschopp: Zunächst ist Petra Caysa meine geschätzte Kollegin am „Institut für Humanistische Lebenskunde des HVD Berlin“. Insofern ist sie eine organisierte Humanistin.

Inwiefern das humanistische Prinzip der „Selbstbestimmung“ in den Wunsch nach dem „Nichtregiertwerdenwollen“ münden könnte oder sollte und dann auch noch mehrheitsfähig sein könnte, das ist wahrlich eine „konzeptionelle“ Frage. Sie schließt nicht nur die Frage ein, was „Regieren“ und „Regiert-werden“ heißen soll. Das Problem ist hier die alte freidenkerische und sozialdemokratische Überlegung, dass sich, ganz konsequent gedacht, die „Volksherrschaft“ und die Staat-Kirche-Trennung durch Abschaffung des Staates einführen lassen. Damit wären wir dann wieder beim ollen Johann Most und seinem und anderer linker Leute Anarchismus als ein Vorschlag in diese Richtung.

Ob das jetzt ein vordringliches Thema ist, das weiß ich nicht. Aber wenn hier Debattenbedarf gesehen wird, schön, dann sollte dazu jemand, wenn wir dafür Geld und Zeit finden, eine Debatte organisieren. Ich würde da gern etwas zum „‘Staatshumanismus’ in der DDR im Gefolge einer zweckdienlichen Aneignung des Arbeiterbewegungskulturerbes“ einbringen.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismusperspektiven. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschlands, Bd. 1. Aschaffenburg 2010. Alibri Verlag, 209 Seiten, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-058-6
 

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.