Nach Ansicht von Herder ist es sogar ein Fehler, von „Menschen“ zu sprechen. Es gibt keine Menschen. Es gibt nur Franzosen oder Deutsche oder Belgier. Es ist das kollektive Unbewusste, das in jeder Gesellschaft unterschiedlich ist, das die treibende Kraft der Gesellschaft ist. Vorurteile, Tradition, Obskurantismus, Konformismus sind dabei positive Kräfte, welche die Nation kräftig, gesund und blühend erhalten. Demokratie und rationales Denken untergraben im Gegensatz dazu die Gesellschaft. Die Entdeckung der "nationalen Identität" ist daher der notwendige Suchpfad zum kollektiven Unbewussten, das alle zusammen führt und hält.
Vielleicht wäre diese Kontroverse eine rein philosophische Debatte geblieben, wenn nicht im Jahre 1789 die Französische Revolution ausgebrochen wäre. Die Ideen der Aufklärung siegten. Die republikanischen Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden durch das revolutionäre Frankreich mit Waffengewalt in ganz Europa verbreitet. Es war eine Revolution ohne Grenzen, für eine Republik, die übrigens alle Bürger umfasste. Napoleon wurde schließlich durch eine Koalition von europäischen Staaten geschlagen. Aber die Ideen der Französische Revolution und der Aufklärung konnten nicht mehr durch Waffen bezwungen werden.
Viele Jahrzehnte standen sich so zwei Europas fast unversöhnlich gegenüber. Ein aufgeklärtes, republikanisches sowie revolutionäres Europa und ein konservatives, traditionelles, auch monarchistisches Europa. Ein Streit zwischen einer wesentlich französischen, rationellen und universellen Vision des Zusammenlebens und dem deutschen emotionalem und identitärem Ansatz. Deutscher bist Du, Franzose wirst Du. Eine Kontroverse, die ihren gewalttätigen Höhepunkt mit dem französisch-preußischen Krieg im Jahre 1870 erreichte. Es mussten noch zwei weitere folgen. Viele Franzosen und Deutschen mussten drei Kriege in einem Menschenleben erleben. Und der deutsche Dichter Heinrich Heine, der viele Jahre im Exil in Frankreich lebte, warnte schon früh vor einer "deutschen Antwort" auf die Französische Revolution. Eine Antwort, die 1933 von NS-Propagandaminister Goebbels als "das Ende der Französischen Revolution“ beschrieben wurde.
Aber vielleicht bietet die Eroberung von Elsass-Lothringen durch die Deutschen im Jahr 1870 den besten Beweis für die Unvereinbarkeit zwischen den französischen republikanischen Werten und dem Konzept der "nationalen Identität". Für die Deutschen war die Annexion nur eine Frage der Eigenart. Ihrer Ansicht nach war die Eroberung legitim. Sowohl hinsichtlich Rasse, Sprache und historischer Tradition gehöre das Elsass-Lothringen zu Deutschland. "Nein", argumentierten die Franzosen, Renan an der Spitze. Es ist wohl wahr, dass die Leute dort zu der deutschen Rasse gehören, aber es ist ihr Wunsch, nicht zu Deutschland sondern zum französischen Staat zu gehören. Dieser Wille sei wichtiger als ihre Herkunft. Ein Wille, welchen die Delegierten aus dem Elsass-Lothringen, am Tag der Vertragsvereinbarung, der die Übertragung des Gebiets von Frankreich an Deutschland besiegelte, in der französischen Nationalversammlung erneut bestätigten.
Damit bewiesen die Elsässer, dass nationales Bewusstsein nicht aus einem unbewussten Determinismus stammt, so wie dies durch jede Form des Identitätsdenkens vorausgesetzt wird, sondern eine davon unabhängige Entscheidung ist. Die Nation ist ein Bund, "eine" wie Renan es ausdruckt „an jedem Tag erneute Volksabstimmung“. Der Mensch ist nicht der Gefangene seiner Identität oder der Nation, sondern deren Rechtfertigung. Das Wiederlesen von „Qu'est qu'une Nation?“ (Was ist eine Nation?) aus dem Jahr 1882 von Renan hätte genügt, um die heutigen französischen Machthaber erkennen zu lassen, dass sie sich irren. Damit sie erkennen, dass es keine Frage der Sprache, der Rasse, der Religion, der Interessen, der Geografie, oder sogar der militärischen Notwendigkeit, nicht eine Frage der gemeinsamen Geschichte, keine feststehende Gegebenheit, nicht ein Zufall der Geschichte, kein vages Gefühl der Zusammengehörigkeit ist. Es wäre ausreichend gewesen, um sie verstehen zu lassen, dass eine Nation eine Frage der bewussten Solidarität, eine aktuelle Entscheidung ist, nach gleichen Gesetzen und Grundsätzen zusammenzuleben. "Une nation suppose un passé, mais elle se résume dans le présent par un fait tangible: le consentement, le désir clairement exprimé de continuer la vie commune. Un plébiscite de tous les jours, comme l’existence de l’individu est une affirmation perpétuelle de la vie". (Eine Nation bedeutet eine Vergangenheit, aber sie fasst sich in der Gegenwart durch eine fühlbare Tatsache zusammen: die Einwilligung, das deutlich geäußerte Verlangen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Ein tägliches Plebiszit, so wie die Existenz des Individuums eine fortwährende Bekräftigung des Lebens ist.)
Bedeutet dies, dass "Identität" keine Rolle spielt? Dass sie sinnlos ist und keine Bedeutung hat? Nein. Im Gegenteil. Aber so wie am Ende des 18. Jahrhunderts sind wir wieder in einen Streit verwickelt, bei dem das Wort falsch verwendet oder schlimmer noch, missbraucht wird. Was im 18. Jahrhundert die Aufklärung war, ist jetzt die moderne globalisierte Welt. Eine Welt, die sich sehr schnell dreht und die Menschen ohne Sicherheiten und ohne Halt lässt. "Identität" spielt die Rolle der Bake oder des Ankers in diesen unsicheren Zeiten auf diesem wackeligen Planeten. "Die Menschen brauchen in dieser unsicheren Welt eine starke Identität", das ist das Credo. Ich bin natürlich der Letzte, der den Menschen so eine Bake oder Halt verweigert. Nur ist es überhaupt nicht sicher, dass "Identität", diese Fähigkeit hat. Es setzt voraus, dass "Identität" ein gemeinsames, ein kollektives Konzept darstellt. Eine Tatsache, die für jede Person einer gleichen Gesellschaft gilt und auf jede Person auch die gleiche Wirkung oder Wirkung ausübt. Und das ist nicht so. (Ob dies schade ist oder nicht, lasse ich unentschieden.) Oder zumindest nicht so stark wie die Anhänger der Identitätsgedanken das behaupten.