Zunächst einmal gibt es so viele Identitäten, wie es Individuen gibt. Jeder Mensch ist einzigartig. Und ihn unter eine Kategorie oder ein Etikett einzuordnen tut ihm Unrecht, schadet ihm, reduziert ihn zu einem Rädchen in einer Maschine, die "Gesellschaft" genannt wird. Amartya Sen hat in „Identity and Violence - The Illusion of Destiny“ eindeutig den entscheidenden Unterschied zwischen der einzigartigen, unverwechselbaren Identität, die wir häufig in der politischen Rhetorik anwenden, und den vielfältigen Identitäten, die in der realen Welt leben nachgewiesen. Die einzigartige, einheitliche Identität ist eine Illusion. Eine gefährliche Illusion, die aus unserem Wunsch entsteht, die Welt nach Religion, Kultur, Nation oder Zivilisation zu klassifizieren. Der Glaube an diese Illusion bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass wir auf jede Entscheidung über unsere eigene Existenz verzichten. Kurzum, dass wir keine Wahl über das, wer wir wirklich sein wollen, zulassen. Unser Schicksal liegt unwiderruflich fest, gebunden an der einzigartigen Identität, die für jeden in der Gruppe gleich ist. Alles, was wir in unserem Leben zu tun haben, ist diese einzigartige, eindeutige Identität zu "entdecken".
Diese Illusion verrät, so Sen weiter, eine reduktionistische Sicht auf die Realität. Eine Vision, die nicht berücksichtigt, dass jede Person eine Vielzahl von anderen Identitäten und Eigenschaften besitzt. Gegen diese einzigartige und reduktionistische politische Sicht auf die Identität steht die Wahlfreiheit eines jeden Menschen in der realen Welt. Nicht, dass diese Wahl für alle gleich ist. Weit gefehlt. Und auch nicht, dass sie unendlich ist. Diese Wahl unterliegt in der Tat Beschränkungen oder Begrenzungen, die von Person zu Person unterschiedlich sind, Grenzen, die oft in der Vergangenheit liegen. Aber der Unterschied zu der reduktionistischen Auffassung der Identität besteht darin, dass die Menschen die Individualität und Persönlichkeit nicht nur erben, sondern zu einem großen Teil selber aufbauen und erschaffen, frei und bewusst. In der modernen Welt wird sich der Mensch mehr und mehr seiner Verantwortung für seine eigene Identität und Persönlichkeit bewusst. Und die Identität und Persönlichkeit wird immer nachdrücklicher eine Frage der eigenen Wahl, der eigenen Interpretation der Selbstentdeckung, kurzum eine Frage der persönlichen Freiheit und Verantwortung.
Auf jeden Fall besitzt die eindimensionale Suche nach der gemeinsamen "Identität" eine ganz andere Dimension. Sie führt zum Einsatz einer Anzahl ethnischer, nationaler, kultureller oder religiöser "Container" oder "Bunker" in der Gesellschaft, aus denen der Mensch nicht mehr entweichen kann oder darf. Zwangsläufig endet sie in Gewalt, Krawalle in der eigenen Nachbarschaft, in Hass und Krieg in der Welt. "L'identité meurtrier" (die mörderische Identität) wie Maalouf sie nennt. Das vergangene mörderische 20. Jahrhundert gab uns dafür das tragische Beispiel. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass die letzte Konsequenz des Identitätsdenkens die Gaskammern in Auschwitz sind. Und der Grund, warum dies so ist, ist nicht schwer zu begreifen. "Identität" bedeutet, einer Gruppe von Personen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, die sich oft völlig von denen einer Gruppe mit einer anderen Identität unterscheiden. "Unterscheiden" bedeutet "anders". Und von "anders" ist es nur ein kleiner Schritt zu "feindlich".
Darüber hinaus führt "Identität" in erster Linie zu konformen Verhalten, bei dem das kritische Denken ausgeschaltet ist. Man gehorcht blind den Traditionen, auch wenn sie eine offene Diskriminierung anderer Rassen oder des anderen Geschlechts bedeuten. Schließlich werden Hass und Gewalt gegen diejenigen, die nicht die gleiche Identität haben, kaum kritisiert, geschweige denn verurteilt. Weil die Menschheit zu einer privaten Gruppe reduziert wird, besitzen die edlen Grundsätze wie Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Gewalt nur innerhalb der eigenen Gruppe Gültigkeit. Die "Identität", welche Serbien solange davon zurückhielt, ihre Kriegsverbrecher auszuliefern. Die "Identität", welche deutsche Gerichte nach dem Zweiten Weltkrieg dazu brachte, ihre Nazis zu lächerlich niedrigen Strafen zu verurteilen. Die "Identität", welche die weltweite islamische Gemeinde davon zurückhält, Osama Bin Laden zu exkommunizieren.
Kurzum, "Identität“ ist ein Begriff, auf dem unmöglich eine friedliche und wohlhabende Gesellschaft aufgebaut werden kann. Ein identitäre Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Ausgrenzung und des Konflikts. Meistens ist es die letzte Zuckung einer Gesellschaft, die ihren Höhepunkt überschritten hat und die verzweifelt nach einer Wiederherstellung ihrer angeblich glorreichen Vergangenheit sucht. Aber ganz allgemein ist "Identität" ein Symptom unserer Unfähigkeit, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist. In diesem Sinne sagt Leonard Donskis in „Troubled Identität and the Modern World“, dass eine Identitätskrise ein Pleonasmus ist, da die Verwendung des Wortes "Identität" symptomatisch ist für eine Gesellschaft in der Krise, eine Gesellschaft, die als unsicher und gefährlich wahrgenommen wird.
Jedenfalls ist die Zukunft von Europa weit entfernt von der Suche nach nationaler(n) Identität(en). Und natürlich liegt ihre Zukunft noch weniger in einer Addition von nationalen Identitäten. Das Europa von heute, als "l'Europe des Nations" (das Europa der Nationen) ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Es ist ein Europa, das nicht imstande ist, seine Probleme zu lösen. Und es ist damit kaum ein Europa, das eine wichtige Rolle in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts spielen wird. Kurz gesagt, die Zukunft Europas und die Europäische Union wird postnational sein oder nicht sein.
Übersetzung aus Liberales von R. Mondelaers
Die Werte der französischen Nation bleiben unklar (15.2.2010)
Werte der französischen Nation bleiben unklar (II) (17.2.2010)