Liberales Manifest zu europäischen Werten

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Guy Verhofstadt / www.liberales.be

BRÜSSEL. (hpd) In Auswertung der auch durch ihn initiierten Diskussion über die französische Initiative der „nationalen Identität“ und die auch in Deutschland aktuellen „nationalen Werte“, hat der Vorsitzende der „Europäischen Liberalen und Demokraten“ im EU-Parlament, Guy Verhofstadt, unter der Überschrift „Europa, soll postnational oder nicht sein“ einen bemerkenswerten Essay veröffentlicht.

Er widerspiegelt exemplarisch eine klassische liberale Position zu den Menschenrechten und der Aufklärung, sowie – und hier ähnelt sie überraschenderweise die der linken französischen Freidenker - zum Kommunitarismus in Europa:

 

Mein Kommentar zur Debatte über die nationale Identität in Frankreich (Le Monde vom 11. Februar) provozierte - wie könnte es anders sein - geteilte Reaktionen. Es gab viele Hunderte zustimmender Kommentare von Lesern der Zeitung selbst. Und es gab starke negative Reaktionen der französischen Würdenträger, an der Spitze Außenminister Kouchner. Sie reagierten, als ob sie von einer Wespe gestochen wurden. Nicht ganz ehrlich, vermute ich. Vom ehemaligen Gründer von „Ärzte ohne Grenzen“ erwartet man eher Zustimmung als Ablehnung. Aber auch Kouchner wird wahrscheinlich der Redewendung „que la fonction créé l'homme" (die Funktion erzeugt den Menschen) nicht entkommen.

Die vorgetragenen Argumente waren vorhersehbar. Die Stellungnahme wäre "eine verbal abwertende Schimpferei an die Adresse der französischen Republik". Jetzt wo ich erneut den Text lese, kann ich nicht im Geringsten ein böses Wort gegen Frankreich oder die französische Republik finden. Im Gegenteil. Der Text strahlt eine warme Zuneigung, fast Liebe für unsere südlichen Nachbarn aus. Frankreich wird eine Leuchtbake genannt. Aufs Korn genommen wird lediglich die unsinnige Initiative der französischen Regierung, eine öffentliche Debatte über die "nationale Identität" zu starten, was eindeutig ein Versuch war, vor den bevorstehenden Landtagswahlen Stimmen von der Front National zu holen. Es ist typisch für politische Machtinhaber - ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe mich oft daran beteiligt -, dass sie nicht mehr den Unterschied merken zwischen ihren eigenen Handlungen wie Entscheidungen und die des Landes und der Leute, über die sie regieren.

Nach einigen Jahren an der Macht, identifizieren sie sich derart mit dem Gebiet, das sie verwalten und den Menschen, die dort wohnen, arbeiten und leben, dass jeder Angriff auf ihre eigenen Ideen und Aktionen als einen Angriff auf das Land und seine Landsleute interpretiert wird. Aus den gleichen Gründen wurde ich vor ein paar Jahren des Antiamerikanismus und der Feindseligkeit gegenüber Großbritannien beschuldigt. Nur weil ich bis zum Ende die Invasion des Iraks ablehnte. Auch jetzt noch besteht Tony Blair weiterhin darauf, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vielleicht wird es nicht anders mit Besson, Kouchner oder Fillon laufen - obwohl sie es bereits heute besser wissen – und morgen und übermorgen hartnäckig darauf bestehen werden, dass die öffentliche Debatte über die "nationale Identität" in Frankreich eine heilsame Übung gewesen sei.

Auch der zweite Einwand gegen meine Meinungsäußerung war durchschaubar und war im Voraus abzusehen. "Ein Fremder", besagt er, dürfe keine Meinung über etwas haben, dass letztlich nur die Franzosen etwas angehe. "Sic" könnte man sagen. Gibt es ein besseres Argument, um den schmutzigen Charakter der Initiative zu illustrieren, als "Ausländer", "Fremde", kurz "Nicht-Franzosen" von der Debatte auszuschließen? Ich glaube nicht. Es zeigt deutlich, wozu eine Debatte über die "nationale Identität" immer führt, nämlich zum Nationalismus, zur Ausgrenzung der anderen, das Verketzern des Fremden. Es führt zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wie die vielen spontanen und massiven Beiträge zur "Aussprache" gezeigt haben.

Aber es ist auch falsch zu glauben, dass "Identität" ein Thema ist, das nur Frankreich und die Franzosen etwas angeht. Es ist ein Problem, dass jedes Mitglied der Europäischen Union gleichermaßen berührt. In fast allen europäischen Ländern wütet heute eine Debatte über unsere soziale, kulturelle oder politische Identität. Das ist das neueste Kleidchen, das den alten Nationalismus schmücken soll. Ein neuer Weg um sich klarer von seinen multinationalen und multikulturellen Feinden zu unterscheiden, beginnend mit den republikanischen Werten, die Frankreich wie kein anderes Land verkörpert. Werte die auch die Grundlage der Europäischen Union bilden und die heute unter Beschuss liegen.

Dass die Identitätsidee die neueste Verschleierung des nationalistischen Denkens ist, wird am besten durch die Reaktionen auf die Stellungnahme in meinem eigenen Land illustriert, in Belgien. Besonders extrem flämische Nationalisten waren durch die Botschaft verärgert. Und das sollte bei den Vertretern der französischen Republik eine Alarmglocke läuten lassen. Denn wie zum Teufel ist es möglich, dass diejenigen, die die Erben der Französischen Revolution und der Aufklärung sind, die gleiche Sicht auf die europäische Gesetzgebung haben, wie die eifrigsten Anhänger des engen kulturellen oder ethnischen Nationalismus? Welche von beiden liegt falsch? Wer entscheidet hier falsch? Die Antwort auf diese Frage ist leicht zu finden. Es genügt, einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen, auf das Ende des 18. Jahrhunderts, den Vorabend der Französischen Revolution: Wie damals in voller Kraft eine Debatte losbrach, welche das politische Denken des gesamten 19. und einen Großteil des 20. Jahrhunderts beherrschte. Der Kampf zwischen Herder und Kant, zwischen Geist des Volksgeistes und der Aufklärung, der Kampf zwischen der Seele der Nationen, dem Verherrlichen seiner eigenen nationalen Identität, der übermächtigen Gültigkeit der Tradition und Gewohnheit und dem Glauben im Allgemeinen einerseits, und den unvergänglichen, universellen menschlichen Werten andererseits.

Wie Alain Finkelkraut in „Der Niedergang des Denkens“ zeigt, kann Herder als der Begründer des Identitätsdenkens betrachtet werden. Und das in vielen verschiedenen Formen, wie die Verherrlichung des eigenen Volkstums, die Beseitigung von Wörtern ausländischer Herkunft, die Wiederentdeckung der Volkslieder, der Rückkehr in die Vergangenheit und die sogenannte Authentizität. Alles dies ist notwendig, sagen seine Fans, weil die Aufklärung dem Menschen seine Wurzeln genommen und ihn in einen luftleeren Raum gestellt hat. Die Nation ist kein Gesellschaftsvertrag, ein Zusammenschluss von selbstständigen Menschen, aber eine dem Menschen übergeordnete Organisationsform. Nicht der Mensch schafft die Gesellschaft, er oder sie ist in eine bestehende Gemeinschaft hinein geboren, an die er oder sie sich anpassen muss. Die Nation ist der menschliche Lebensatem. Ohne sie stirbt er.