Interview mit Dr. Ralf Schöppner

"Interessenvertretung muss universalistisch eingebettet sein"

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Dr. Ralf Schöppner
Dr. Ralf Schöppner

Der Begriff Identität spielt heute in vielen politischen Debatten eine bedeutende Rolle und ist zugleich hoch umstritten. Die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg hat sich mit dem Begriff und der Frage, welche Rolle er für den Humanismus spielt, auseinandergesetzt. Der hpd sprach mit Akademie-Direktor Ralf Schöppner, der jüngst einen "Humanistische Identität heute" betitelten Sammelband herausgegeben hat.

hpd: Wie habt ihr den Begriff "Identität" für euch definiert?

Dr. Ralf Schöppner: Ich verstehe darunter ein Identifikationsgeschehen, also eine soziale Praxis und keine Wesensbestände: womit wir uns zu einer bestimmten Zeit selbst identifizieren, wie wir uns selbst verstehen und wofür wir stehen wollen. Diese Prozesse des Sich-Identifizierens wiederholen sich und ihr Inhalt kann sich dabei ändern. Der Zugang zu diesen Prozessen und damit zum "wir" sollte unter humanistischer Flagge inklusiv sein. Dass andere Stimmen mit Identität eher festgelegte Bestände einer enger umrissenen Gruppe akzentuieren wollen, ist Normalfall in heterogenen humanistischen Organisationen. Und so versammelt auch das neue Buch unterschiedliche Perspektiven dazu.

Was wären denn Bausteine einer humanistischen Identität?

Vergessen wir nicht die Formfrage, Identität hat ja völlig zu Recht keinen einwandfreien Ruf. Wenn man diesen Begriff humanistisch nutzen will, muss man auch eine Reihe seiner Verwendungsweisen kritisieren. Im ersten Teil des Buches gibt es deshalb eine Auseinandersetzung mit der Form humanistischer Identität heute: Formen von Zugehörigkeit, Exklusions- und Gewaltpotentiale allzu starker Selbstidentifikationen, das Verhältnis von Identitätspolitik und Universalismus.

Im zweiten Teil werden dann einige Bausteine vorgestellt und diskutiert: dazu gehören Humanität, Menschenrechte, Toleranz, Selbstbestimmung und ein humanistischer Umgang mit Krankheit, Sterblichkeit, Tod und Trauer, dem der reduktionistische Naturalismus fremd ist.

Ist eine humanistische Identität eher eine Kopfgeburt oder speist sie sich vor allem aus gemeinsamen Erfahrungen?

Ist ein intensives Gespräch oder eine kontroverse weltanschauliche Debatte keine gemeinsame Erfahrung? Sich mit etwas zu identifizieren ist eine Erfahrung, sie wird gemacht in der pädagogischen Praxis einer humanistischen Kita wie auch in der Reflexion von Konzepten.

Betreibt der Humanistische Verband so gesehen humanistische Identitätspolitik?

Wenn wir unter Identitätspolitik den Einsatz für die Interessen und die Anerkennung einer spezifischen Gruppe verstehen, dann betreibt der Humanistische Verband Identitätspolitik, weil er sich als Interessensvertretung nichtreligiöser Menschen identifiziert und sich für diese engagiert. Damit es sich dabei um humanistische Identitätspolitik handelt, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens darf das Engagement für die Interessen der Nichtreligiösen nicht mit Ignoranz der Interessen anderer zum Beispiel auch religiöser Gruppen einhergehen, es muss also um Gleichbehandlung und nicht um Privilegierung gehen. Zweitens muss ein Verband dann mehr sein als nur Interessensvertretung für eine Gruppe, er muss sich identifizieren mit und einsetzen für Humanität und Humanisierung, was unteilbar ist. Er macht dann zum Beispiel in der Flüchtlingsarbeit selbstverständlich keinen weltanschaulichen Gesinnungstest für Flüchtende an der Eingangstür zum Wohnprojekt und hält zusätzlich aber noch spezifische Angebote für sogenannte "säkulare" Flüchtlinge bereit.

Cover

In einem der Beiträge wird die These aufgestellt, dass Universalismus Bestandteil humanistischer Identitätspolitik sei. Kannst du das kurz erläutern?

Gemeint ist, dass die Interessensvertretung universalistisch eingebettet sein soll: Sie soll keine partikularistische Klientelpolitik sein, die nur für die eigene Gruppe das Beste rausholen will. Und gemeint ist auch, das humanistische Identitätspolitik nicht schlichtweg auf die Identität einer Gruppe zielt, sondern auf eine allen gemeinsame menschliche Identität, die Humanität und Humanisierung begründet. Dazu müsste man natürlich noch mehr sagen. Mehrere Beiträge im Buch diskutieren das. Jedenfalls ist die pauschale Gegenüberstellung von Universalismus und Identitätspolitik, die die politische Debatte prägt, nicht überzeugend. Daher der Untertitel des Buches: Universalismus und Identitätspolitik.

Ich würde entgegnen, dass Identitätspolitik Universalismus nur dann für sich in Anspruch nehmen kann, wenn sie auf Gesellschaftsveränderung abzielt. Der HVD bewegt sich nach meiner Wahrnehmung aber eher im Rahmen der bestehenden Ordnung, als dass er sie umstürzen möchte. Ist die Ausweitung von Privilegien, die bislang Religionsgemeinschaften vorbehalten waren, auf Weltanschauungsgemeinschaften schon Gesellschaftsveränderung?

Wäre es keine Gesellschaftsveränderung, wenn es bundesweit humanistische Lehrstühle und Hochschulen, humanistische Lebenskunde an den Schulen, ausreichend humanistische Kitas, humanistische Seelsorge in allen relevanten Bereichen, humanistische Vertreter*innen in Rundfunkräten, Ethikkommissionen und anderes mehr gäbe? Wäre es keine Gesellschaftsveränderung, wenn zum Beispiel in der deutschen und europäischen Migrationspolitik Humanität Vorrang hätte und die Lebensumstände in Herkunftsländern verbessert – humanisiert – würden? Vielleicht ist das nicht die Gesellschaftsveränderung, die dir in deiner Frage vorschwebt. Aber universalistisch ist es auch, insofern es Beiträge zur Verwirklichung gleicher Rechte und gleicher Chancen für alle sind.

Ich könnte die Frage auch grundsätzlicher stellen. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung konnte unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der 1960er Jahre die Gesellschaft verändern. Heute hat sich der Diskurs so weit nach rechts verschoben, dass die real existierenden Identitätspolitiken nach meiner Wahrnehmung häufig eher repressiven als emanzipatorischen Ansätzen folgen. Wie kann eine humanistische Identitätspolitik in diesem Umfeld erfolgreich einen universalistischen Ansatz verfolgen?

Humanistische Identitätspolitik reiht sich ein in die universalistischen Kämpfe unterdrückter Gruppen um Gleichbehandlung. Nur ist natürlich die heutige Diskriminierung der Religionsfreien weniger drastisch und grausam als zum Beispiel die rassistische oder sexistische. Humanist*innen sollten darauf achten, diese Unterschiede nicht zu verschleifen, wenn sie von ihrer Diskriminierung sprechen. Dass es auch rechte Identitätspolitik gab und gibt, ändert nichts. Sich auf humanistische Identität zu berufen, bedeutet nicht, sich auf ein besonderes authentisches Sein oder nur auf die Interessen einer partikularen Gruppe zu berufen. So gesehen ist humanistische Identität das Schreckgespenst jeder "identitären Bewegung": Sie hat als übergeordnetes Prinzip stets die gleiche Würde aller im Auge und schließt nicht aus. Sie kreist nicht um sich selbst, sondern ist dialogisch. Ja mehr noch: Zu ihr gehört konstitutiv immer auch die Fähigkeit der Distanzierung vom Eigenen hin zum Anderen und Fremden.

Welche humanistische Praxis kann daraus erwachsen?

Stets eine doppelte: Engagement für die Gleichbehandlung der Religionsfreien und Engagement für das friedliche und respektvolle Zusammenleben der vielen Verschiedenen; Humanistische Lebenskunde als fakultatives Unterrichtsfach und in manchen Jahrgangsstufen zusätzlich Ethik für alle; JugendFeiern für Humanisten und Beteiligung am gemeinsamen Kampf gegen Höcke und Hanau, selbstverständlich zusammen mit Religiösen.

In diesem Zusammenhang wird immer mal wieder der Begriff der "Humanistischen Wende" angeführt. Was genau ist darunter zu verstehen?

Gemeint ist der historische Übergang von den Freidenkerverbänden zu humanistischen Verbänden und Organisationen gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die Interessensvertretung ist jetzt deutlicher universalistisch eingebettet: In soziale Dienstleistungen und Gemeinwohlorientierung; positive Gleichbehandlung statt Laizismus; aktiver und wehrhafter Pluralismus statt Kulturkampf und kulturelle Hegemonie. Diese Wende ist nicht abgeschlossen. Das ist noch nicht humanistisch genug. Menschen außerhalb der "Szene" verstehen in der Regel nicht, warum organisierte Humanist*innen sich pauschal von einer so uneinheitlichen Sache wie Religion abgrenzen und die Gretchenfrage derart in den Vordergrund stellen. Sie empfinden das als elitär und intolerant. Humanist*innen sind für sie Leute, die für Selbstbestimmung, menschliche Verantwortung, Solidarität und Humanität eintreten und diese praktizieren, unabhängig davon, ob sie darüber hinaus auch noch religiös sind oder nicht. Humanistische Verbände könnten diesen weit verbreiteten Alltagshumanismus besser berücksichtigen. Mit einer strikt positiven Selbstbeschreibung, die ohne Profilverlust eine pauschale Abgrenzung zur Religion gar nicht mehr nötig hat und trotzdem Kritik an konkreten Erscheinungsformen von Religion und politischen Einsatz für Gleichbehandlung begründet – wie das gehen könnte, auch darüber wird im Buch nachgedacht.

Zuletzt: ist Identität für humanistische Debatten eigentlich grundsätzlich ein wichtiger Begriff oder ist er derzeit nur so wirkmächtig, dass gerade niemand an ihm vorbeikommt?

Mache doch mal den Praxistest: Verwende das Wort ein ganzes Jahr lang einfach nicht und bitte auch dein komplettes Umfeld um diesen Verzicht. Danach überlegt ihr, ob ihr in dieser Zeit irgendetwas Wichtiges nicht gut ausdrücken konntet. Denn es gibt sicherlich Begriffe, auf die kann man getrost verzichten, "Schuld" ist zum Beispiel ein heißer Kandidat. Ich bin aber nicht sicher, ob das für Identität auch zutrifft. Vielleicht hat Wittgenstein recht: "Identity is the very devil and immensely important." Wie dem auch sei, wenn in einer für den Humanismus wichtigen politischen Debatte ein ambivalenter Begriff wie Identität eine zentrale Rolle spielt, dann muss man sich zu diesem Begriff verhalten. Begriffspolitisch gibt es dann immer mindestens zwei Möglichkeiten: den Begriff ablehnen oder ihn anders besetzen. Im konkreten Fall sehe ich gute Argumente für beide Optionen, aber sicher keinen zwingenden Grund für nur eine der beiden.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Ralf Schöppner (Hrsg.): Humanistische Identität heute. Universalismus und Identitätspolitik. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, Band 12, 286 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-309-9, 22,00 Euro

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