Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (I)

hpd: Nun habe ich als Sozialwissenschaftler gelernt, dass der Mensch bei der Wahrnehmung seiner Umgebung eine Methode verwendet, die als „Vermeidung kognitiver Dissonanz“ bezeichnet wird. Das heißt, wir sind sehr bestrebt, neue Erfahrungen immer in unser bestehendes Weltbild zu integrieren. Und wir sind bereit und fähig, Erfahrungen, die wir eigentlich erkennen müssten, so zu verdrehen, dass sie nicht mehr im Widerspruch oder dissonant zu unseren bisherigen Anschauungen sind, also passen. Da werden beispielsweise Situationen auf den Kopf gestellt, und wenn man zwei Leute, die zusammen etwas erlebt haben, fragt: „Was hast du gesehen?“ dann können diese beiden Leute durchaus sehr verschiedene Geschichten erzählen, weil sie jeweils einen anderen biographischen oder analytischen Ansatz haben. Wenn es also nur die reine Erfahrung ist, ...

Streminger: ...sieht man sie nur im Lichte des bereits Gewussten...

hpd: ...nur die Erfahrung kann es dann also nicht sein.

Streminger: Nein, natürlich nicht. Aber schon den klassischen Empiristen war dieses Problem bewusst. Sie haben versucht, dieser Schwierigkeit zu entgehen, und zwar durch die Idee der Unparteilichkeit und des Experiments – man schafft eine künstliche Situation, um genauer beobachten, intersubjektiv überprüfen zu können, was nun tatsächlich der Fall ist. Die Vermeidung kognitiver Dissonanzen ist, weil sie auf die Reduzierung der Informationsflut abzielt, in gewissen Situationen absolut lebensnotwendig. Das ist wohl auch ihr evolutionärer Ursprung. Aber sie ist zugleich sehr gefährlich, nämlich dann, wenn man sich nicht weiter überlegt, wie es denn ‚eigentlich gewesen’. Deshalb betonten die Empiristen den Wert der Unparteilichkeit. Eine eingeschränkte, vollständig reduzierte Wahrnehmung ist nämlich eine große Gefahr für das Zusammenlebens unter Menschen und die Wurzel vieler Übel: Man sieht nur noch, was man sehen will, das Andere interessiert nicht, und schafft so ungeheure Konflikte.

hpd: Während der Buskampagne haben wir ja häufig mit engagierten Christen diskutiert und der Kernunterschied war dann beinahe immer, dass sie dann sagten: „Ich habe die Existenz von Jesus persönlich für mich erfahren.“ Meine Antwort war dann stets mein Respekt, und: „Nun ja, wenn das für sie so ist, ich kann damit aber nichts anfangen“, weil das Element der Intersubjektivität, das über das subjektiv Persönliche hinausweist und eine Brücke zur realitätsbezogenen Empirie wäre, schlicht fehlt. Es ist für den Einzelnen sicherlich auch sehr wichtig, kann ja vielleicht sogar lebensprägend sein, aber die Möglichkeit, das als gesellschaftliche Basis einer Ethik zu formulieren besteht dadurch eben nicht.

Streminger: Genau so sehe ich das auch und meine ergänzend, dass ein solches Verhalten, also eine Verweigerung zur rationalen Begründung, eine große kulturelle Regression ist. Die religiöse Erfahrung wurde nämlich schon lange hoch gehalten, aber klügere Köpfe wussten, dass es mit der Berufung darauf nicht getan sei. Denn es führt nun einmal kein direkter Weg vom Vorgestellten zur tatsächlichen Existenz des Vorgestellten. Deshalb haben klügere Köpfe versucht herauszufinden, ob diese innere Erfahrung verursacht wurde durch etwas, das außerhalb des Subjekts liegt, oder ob sie ein reines Phantasieprodukt, eine bloße Illusion ist.

Das ist wohl der Ursprung der Gottesbeweise und aller Versuche, das Theodizee-Problem zu lösen. Der Gottesbeweis ist dann der Bezug, dass es einen Gott gibt, der diese Erfahrung im Subjekt zumindest verursacht haben könnte; oder aber, wenn der Beweis nicht gelingt, dann wäre gezeigt, dass diese innere Erfahrung sehr wahrscheinlich ein reines Phantasieprodukt, bloßes Wunschdenken ist. Heutzutage schließt man diesen Außenbezug praktisch völlig aus und lebt nur noch in Betroffenheit und Verzückung (‚Ich erlebe, wie Gott in mir arbeitet’). Aber zunächst ist es eben nur eine Möglichkeit, dass der liebe Gott zu mir spricht, aber es ist auch möglich, dass auf dem Mars ein Elefant sitzt, der unter einer Glasglocke auf einer Riesenschreibmaschine das Vaterunser tippt – auch das ist möglich. Also genügen Möglichkeiten zur Weltorientierung nicht, zumindest Wahrscheinlichkeiten tun not. Dass etwas wahrscheinlich und nicht bloß möglich ist, kann aber nur die von Gläubigen so viel geschmähte Vernunft zeigen.

Solch grundlegende philosophische Überlegungen interessieren leider kaum, vielmehr geht es heutzutage vor allem um den bloßen Glauben. Diejenigen, die glauben, haben ein subjektives Empfinden und fragen nicht, ob das religiöse Gefühl von etwas Externem verursacht wurde oder nicht. Aber damit besteht zunächst kein Unterschied zwischen einem solchen religiösen Gefühl und dem, was sich in irgendeinem Irrenhaus abspielt.

Angenommen, dort behauptet jemand, an jeder vierten Ecke warte Napoleon auf ihn. Nun, das könnte ja sein, also gehen wir hin und schauen nach. Man könnte auch überprüfen, ob es möglich ist, dass Napoleon noch lebt. Aber die meisten modernen religiösen Menschen wollen ihr subjektives Erleben nicht überprüfen, sie wollen es nicht infrage stellen und keine Gründe hören. Und doch ist es so, dass der Erlöser Jesus Christus eigenartigerweise nur in christlichen Ländern erlebt wird, etwa in Japan nicht. Die Jungfrau Maria wiederum scheint China wie der Teufel das Weihwasser zu meiden und will dort nicht erscheinen. Und bei uns wiederum gibt es keine Erlebnisse mit Vishnu oder Shiva. Das bedeutet, dass die kulturelle Prägung eine zentrale Rolle in religiösen Dingen spielt, und als denkender Mensch fühlt man sich verpflichtet zu überprüfen, ob das richtig ist, was man so erfährt – ganz besonders dann, wenn man, wie religiöse Menschen dies tun, sein ganzes Leben an solche inneren Erfahrungen hängt. Ich habe ja auch gewisse Vorstellungen etwa von anderen Personen und frage mich, stimmt das jetzt oder habe ich mich da geirrt, und ich versuche herauszufinden, was nun richtig ist und was nicht, indem ich beispielsweise die Meinungen anderer einhole. Eine solch selbstkritische Einstellung scheint der einzige aufgeklärte Weg zur Wahrheit zu sein; das andere ist Karneval im Kopf.