Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (I)

hpd: Der Psychiater Peter Riedesser, der ja schon leider im vergangenen Jahr gestorben ist, hat immer ein sehr schönes Bild gehabt. „Wenn jemand zu mir in die Sprechstunde gekommen wäre, der mir das erzählt hätte, was man sich unter religiösen Leuten so erzählt, ich hätte ihn sicherlich einer psychologischen Krankheitsdimension zuordnen müssen, weil diese subjektiven Vorstellungen mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Wenn dieser Mensch, den ich als psychisch krank oder zumindest in diesen Aspekten nicht mehr als realitätsfähig betrachten müsste, dann auf der anderen Straßenseite in eine Kirche gegangen wäre und dort das gleiche erzählt hätte, seine Gläubigen hätten Halleluja! geschrieen.
Natürlich kann man es bei den Leuten belassen, solange sie nicht gewalttätig werden und andere bedrohen,...

Streminger: ... aber es ist nun einmal gefährlich. Es geht dabei um die grundsätzliche Einstellung, ob ich bereit bin, mich zu hinterfragen, was ich da erlebt habe, oder aber eben nicht. Wo ist hier die Grenze zwischen einer harmlosen religiösen Erfahrung der Urgroßomi und einem subjektiv erfahrenen gewalttätigen Auftrag, den mir Gott erteilt hat?

hpd: Was ich in der Praxis immer nicht verstehe, zeigt das Beispiel von „Pro Reli“ in Berlin im vergangenen Jahr, als Bundestagspräsident Lämmert, immerhin der zweite Mann im Staat in Deutschland, im Französischen Dom an einer Kirchenveranstaltung teilgenommen hatte. Er referierte zum Thema Religion und Politik und machte deren Unterschied deutlich. Religion beruhe auf Wahrheit, und über Wahrheiten könne man nicht diskutieren, da es immer nur eine Wahrheit geben könne. Und es gibt den Bereich der Politik, der beruhe auf Interessenausgleich, auf Kompromissen, und deshalb könne man diese beiden Sphären Politik und Religion überhaupt nicht miteinander in Verbindung bringen weil sie sich grundsätzlich nach anderen Prinzipien organisieren. Dem konnte ich insgesamt zustimmen. Dann aber sagte er: „Wir als Gesellschaft brauchen Werte, die jeglicher Diskussion entzogen sind und die können nur religiös definiert werden.“ Da habe ich gedacht: Huups, wie schafft er das jetzt?

Viele ranghohe Politiker in Deutschland – vom Bundespräsidenten über den Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin, den Bundesinnenminister, etc. – vertreten ja die Auffassung, dass der Staat nur mit Hilfe der Christlichen Werte zusammengehalten werden könne, denn: „Ohne Christentum gibt es keine Werte“. Warum eigentlich? Fällt den Leuten nichts Besseres ein? Es müsste ihnen doch bekannt sein, dass die Hälfte der Bevölkerung sich nicht mehr als religiös versteht und sie denen folglich auch weltanschaulich nichts mehr zu sagen hätten.
Ist diese Erwartung, dass es etwas Undiskutierbares geben müsse, das für alle Menschen gelte, im Kern schon eine religiöse Auffassung?

Streminger: Ich denke, dass gerade Werte nicht undiskutierbar sein sollten. Besonders Werte, die das Fundament unseres Zusammenlebens bilden, müssen stets aufs Neue diskutiert und begründet werden. Ich habe den Verdacht, dass bei all diesen religiösen Überzeugungen Folgendes m Hintergrund steht: „Wenn es keine Religion gibt, dann ist alles erlaubt.“ Ein Satz von Dostojewski, dessen Inhalt durch die Geschichte aber hinlänglich falsifiziert ist. Wahr ist vielmehr das Gegenteil: Je religiöser ein Zeitalter war, während des Dreißigjährigen Krieges etwa, desto gewalttätiger war es auch. Die Religion bewahrt eben nicht vor (Massen-)Hysterien, sondern befördert sie, wenn nämlich Religiöse begeistert um das Goldene Kalb einer liebgewordenen Illusion tanzen und auf diese Weise die Köpfe der Menschen verwirren.

Zudem haben wir genügend Fähigkeiten: Sinne, Empathie, Mitgefühl, Interessen, Denken, Phantasie und Vernunft, um die für ein gedeihliches Zusammenleben besten, intersubjektiv begründbaren Werte zu finden. Denn wir Menschen sind es, die die Werte schaffen, da sich in begründeter Weise nicht zeigen lässt, dass es einen Gott gibt, der sie objektiv vorgab und wir sie nur noch zu entdecken hätten.

Noch in anderer Hinsicht ist meines Erachtens die religiöse Fundierung von Werten ein großer Fehler. Denn aufgrund des Misslingens aller Theodizeen -- also aller Versuche, die Güte und Gerechtigkeit Gottes angesichts der Übel in der Welt zu beweisen --, … Aufgrund des Misslingens aller Theodizeen also kann in begründeter Weise nicht gezeigt werden, dass es einen gütigen Gott gibt, und doch wird behauptet, Gott sei die Quelle der Moral. Aber es ist doch verwerflich, von jemandem Werte zu übernehmen, dessen Willen erfüllen zu wollen, von dem man gar nicht weiß, ob er überhaupt gut bzw. gütig oder gerecht ist.

hpd: Für mich öffnet sich hier eine Brücke. Wenn man Religiöse fragt: „Wo sind denn eure Werte?“, geantwortet wird: „Die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben doch die Säkularen oder Atheisten verursacht - Stalinismus, Mao-Tse-tung, Hitler und Nationalsozialismus.“ Ich kontere dann; „Halt Stopp, das waren politische Religionen, die nach dem gleichen Prinzip wie Religionen gebaut sind, es gibt einen Führer, eine Wahrheitsauffassung, die für alle verbindlich ist und wer nicht daran glaubt, wird daran glauben müssen.“ Das waren keine säkularen Auffassungen. Das die SIE aus christlicher Sicht partiell atheistisch waren, nun ja, aber da gibt es über Mao-Tse-tung den schönen Satz: „Er war bisher der einzige Atheist, der es geschafft hat, selbst zum Gott zu werden.“ Allein darin zeigt sich schon der Widerspruch.

Streminger: Das alles sehe ich genau so. Nur zur Ergänzung: Der Nationalsozialismus war eine meines Erachtens durch und durch religiöse Bewegung, mit dem Katholiken Hitler als Messiasgestalt, der nie aus der Kirche ausgetreten ist oder ausgeschlossen wurde, dessen Mein Kampf nie auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher stand (wie etwa die Schriften Humes, Jahrhunderte lang!). Hitler selbst sprach häufig von der Vorsehung, deren Weg er ‚mit der Sicherheit eines Schlafwandlers’ gehe, die Nazis behaupteten ein Interpretationsmonopol, es gab heilige Schriften, eben Mein Kampf, geschah eine militärische Niederlage, so wurde sie als Prüfung gesehen, der schwarze Orden der SS erinnert an den der Jesuiten, etc. Ich habe unlängst gehört, dass der Eid auf Hitler „heiliger Eid“ hieß und auf Hitler und den Allmächtigen zugleich geschworen wurde. In den Nürnberger Rassengesetzen galten als Voll-Arier angeblich jene, die vier christliche Großeltern hatten, religiöse (!) Kategorisierung also. Ich konnte dies noch nicht hinreichend verifizieren, aber es passte vorzüglich ins Bild vom Nationalsozialismus als einer politischen Heilsreligion.