Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (I)

hpd: Ich war einmal in Nürnberg auf dem Gelände des Reichsparteitages und im dortigen Dokumentationszentrum gab es eine Ausstellung zu Leni Riefenstahl, bei der auch Filmplakate gezeigt wurden. Ihr erster Parteitagsfilm 1933 hatte den Titel „Triumph des Glaubens“, erst der folgende, der berühmtere von 1935, hieß dann „Triumph des Willens“. Diese Parallelität ist offensichtlich und man muss dann gar nicht zitieren, dass Goebbels Jesuitenschüler war...

Streminger: …und Stalin Priesterzögling, und dort gab es genauso Heilige Schriften, Interpretationsmonopole, Stalin wurde als Halbgott verehrt etc. Und noch etwas: Unter den Nazis wurden Aufklärung und Religionskritik bekämpft, darin offenbare sich nämlich „jüdisch-zersetzender Geist“, weshalb die Freidenker nach der Machtergreifung auch als erste verboten wurden. In der SS war Glaube erwünscht und nicht das Gegenteil – ‚Glaube’ zwar nicht in der christlichen Form, natürlich nicht – auch das galt als jüdischer Schwindel –, aber Glaube als Geisteshaltung.

Bei den Aufklärern, um nochmals den Unterschied zu verdeutlichen, ist alles grundlegend anders. Im Politischen geht es nicht um Ein Volk, ein Reich, ein Führer!, sondern um die Teilung der Macht, gerade auch bei den Briten, erbitterte Gegner der Nazis, deren Zusammenleben trotz Monarchie ja auf der Gewaltenteilung beruht: zwei Kammern im Parlament und eine unabhängige Justiz. Ob es dann auch noch monarchische Strukturen gibt, ist sekundär. Und diese Gewaltenteilung fehlte bei den Nazis und im Stalinismus völlig und fehlt in allen totalitären Systemen. Hier überall Glaube, dort die Hochschätzung der Vernunft, für die das ständige Suchen nach guten Gründen, die permanente Warum-Frage wesentlich ist. Ich nehme nicht an, dass etwa in der SS eine solche Einstellung überaus geschätzt wurde. Also bitte: Mit den fürchterlichen Gewalttaten des 20. Jahrhunderts hat die Aufklärung nichts zu tun, im Gegenteil.

hpd: Ralf Dahrendorf, der in Deutschland eher noch als FDP-Politiker bekannt ist, war später Professor an der London School of Economics und hat in einem Aufsatz formuliert, dass die englische Gesellschaft „Ligaturen“ besäße, die in Deutschland nicht oder nicht mehr vorhanden seien. Das mit Klassenbewusstsein zu übersetzen wäre etwas zu vordergründig, aber es sind Elemente des Bewusstseins auch eines Rechts der Anderen, der Verbindlichkeit, dass man Streiks zwar nicht wunderbar findet, sie aber dennoch als Recht akzeptiert. Ein klassenbewusster englischer Arbeiter hatte auch nicht diesen Neid auf z.B. den Adel. Das war eine andere Klasse, von der man durchaus von ‚unten aus’ herab sah. Die These ist nun, dass diese Bindungskräfte sich gegen totalitäre Ideen behauptet haben. Warum gab es den Nationalsozialismus in Deutschland, in Italien der Faschismus, in Spanien Franco, in Portugal Salazar, Frankreich war auch nicht so ganz ohne, nur in England kaum etwas davon?

Streminger: … auch in Amerika nicht, dass muss man schon betonen, denn die hatten auch eine gewaltige Wirtschafts-Depression. Aber zurück zu Großbritannien: Abgesehen davon, dass man dort wohl stärker als bei uns versucht, auch die Gegenseite fair zu behandeln, lautet ein Erziehungsideal, zumindest in gewissen Kreisen, dass man auch a good loser zu sein habe, ein guter Verlierer also. Man muss nicht immer der Erfolgsreichste, der Beste sein, und es gibt Situationen, mit denen sollte man allein fertig werden. Es ist der kultivierte Umgang mit individuellem Irrtum und Scheitern, das bereits Teil der Erziehung ist. ‚Lerne auch, ein guter Verlieren zu sein! Lerne, dass die Welt nicht immer so ist, wie Du es willst. Lerne, dass Du nicht immer recht hast, sondern auch irren kannst!’

Ein weiteres Erziehungsziel, zumindest der britischen Oberschicht, ist die ‚Exzentrizität’. Versuche ein bisschen anders als die anderen zu sein, eben gerade nicht gleich geschaltet, sondern anders, eine besondere Begabung oder ein besonderes Interesse pflegend! Das schafft Freiräume der Kreativität und Toleranz.

Als ich in Oxford bei John Mackie studierte, habe ich mich als Philosoph so wohl gefühlt wie nirgendwo sonst. Denn ich musste mich dort nie als Philosoph – und Philosophie ist nun einmal ein Orchideenstudium – rechtfertigen, sondern war als solcher willkommen. Die Ausbildung bestand im Wesentlichen erstens darin, dass man neue Ideen entwickelt, also kreativ zu sein versucht, und zweitens, dass man diese begründet, also seinen Verstand bemüht, und drittens, dass man zu klären versucht, wie wichtig und neu das überhaupt ist, was man sich so ausgedacht hat – und wie sozial relevant es sein könnte. Auf diese Weise wurden also Phantasie, Verstand, Interesse an Geschichte und Vernunft bemüht. Das ist doch ein Erziehungsideal, das global und nicht allein für britische Snobs und Schnösel gelten sollte.

hpd: Würden Sie das in eine britische Tradition setzen, für die auch David Hume und Adam Smith stehen?

Streminger: Ja, natürlich. Man darf nicht vergessen, dass mit dem Individualismus auch der Markt gefördert wurde (und umgekehrt). Ursprünglich galt der Markt als Befreiung von ungerechtfertigten Privilegien. Gegenwärtig sieht man zu Recht vor allem seine negativen Komponenten – es ist ja fürchterlich, was da passiert –, aber der Markt hat natürlich auch seine positive Seiten: Die Privilegien und Monopole der Zünfte und Kartelle werden dadurch abgeschafft, der freie Zugang zum Markt ist also auch ein Gerechtigkeitsmoment.

Dazu gibt es ein besonders schönes historisches Beispiel: Einer der Freunde Adam Smiths war James Watt, der Erfinder der universell einsetzbaren Dampfmaschine. Watt war wie Smith Schotte, wurde aber in London zum Werkzeugmacher ausgebildet. Als er zurück nach Glasgow kam, durfte er dort nirgendwo seine Werkstatt eröffnen, eben weil er in keiner schottischen Zunft ausgebildet worden war. Smith hat ihm daraufhin in der Universität Glasgow einen Arbeitsplatz verschafft, und dort hat Watt einige seiner revolutionären Entdeckungen gemacht.

Ist das nicht ein unüberbietbares Argument, dass der freie Markt auch positive Auswirkungen haben kann? Zudem darf man nicht vergessen, dass Smith kein Marktfetischist war, sondern immer von einem durch Sympathie und Gerechtigkeit regulierten Markt ausging. Aber noch ein letzter Blick, was den Markt betrifft, zurück in die Gegenwart: Der Politik, die Jahrzehnte lang geprügelt wurde – Mehr privat, weniger Staat! -, scheint es nicht wirklich zu gelingen, das Finanzkapital wieder an die Leine zu nehmen. Wenn es die Politik nicht schafft, sich aus ihrer Demutsstarre zu lösen, dann bedarf es dringend des mutigen Engagement der Zivilgesellschaft sowie kluger, schon deshalb gewaltfreier, aber ‚angry young men and women’.

hpd: Ich hatte den Eindruck, als Sie von James Watt sprachen, als ob die Schotten in Großbritannien so etwas wie die Schwaben in Deutschland sind, fleißige und kreative Leute. Es gab das Bonmot, das in der Industrialisierung die Unternehmer alles Protestanten waren und die großen Erfinder moderner Technik – Bosch, Daimler, Zeppelin – alle schwäbisch miteinander schwätzen konnten. Die andere Seite war jedoch eine geistige Enge, aus der die Unruhigen hinaus strebten. Ist der Vergleich mit Schottland vielleicht völlig verkehrt?

Streminger: Nein, überhaupt nicht. Um die Geschichte Schottlands und der Aufklärung dort zu verstehen, muss man wissen, dass es – ehe die Aufklärung auf den Plan trat und schließlich die Wiege der wissenschaftlich-industriellen Revolution, mehr als anderswo, zum Schaukeln brachte … Ehe das alles geschah, hatte es in Schottland sieben magere Jahre gegeben, 1696 bis 1703. Damals sind zumindest 10 Prozent der Bevölkerung in furchtbaren Hungersnöten verhungert, viele zogen als Tagelöhner oder Diebe durchs Land. Entscheidend, um dieses Elend zu beheben, war die Öffnung des Marktes zu England sowie der Zugang zu den Kolonien. Glasgow etwa liegt mit seinem Hafen näher zu den amerikanischen Kolonien und den Tabakplantagen als London, hat also diesbezüglich einen natürlichen Vorteil. Aus Not wurde aber nicht nur mit England eine Freihandelszone geschaffen, sondern dieselbe Not formte auch sehr praktische Menschen, die im Bewusstsein lebten, etwas tun zu müssen, damit so etwas nicht mehr geschieht. Die Klügsten unter ihnen wurden dann die heute so berühmten Schottischen Aufklärer.

hpd: Ich habe noch eine Frage zu David Hume. Schottland war ja offiziell nicht mehr katholisch, aber von der Identität her noch geblieben, und Österreich ist ja nun auch katholisch. Wie kommt man eigentlich als ein Mensch, der in einer katholischen Gegend groß geworden ist, eigentlich zur Religionskritik?

Streminger: (Pause) Sie meinen jetzt nicht die Schotten, sondern mich...

hpd: (lacht) Ja...

Streminger: (lacht) Sie begannen mit Schottland...

hpd: Ja schon, aber das Gemeinsame mit Österreich war meines Erachtens schon die in Schottland immer noch vorhandene Verehrung des katholischen Herrscherhauses der Stuarts...

Streminger: Nun, die Schotten waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts doch zu einem Großteil Calvinisten geworden, mit John Knox als Reformator, der noch schlimmer wütete als sein Lehrer Calvin in Genf, und die Intelligenteren unter ihnen waren Anglikaner geworden und standen der englischen Bischofskirche nahe. Als drittes gab es natürlich, vor allem in den Highlands und auf den Inseln, noch katholische Stuart-Treue.

Mein Interesse an Religion ist beinahe rein intellektuell, ich war einfach neugierig. Da behaupten einige, dass es einen gütigen Gott gibt, der seine schützende Hand über alle breitet, und das hat mich dann doch interessiert, auch fasziniert, denn es gibt doch auf der anderen Seite so viele Schmerzen und Leid und Böses. Wie geht das bloß zusammen, der liebe Gott auf der einen Seite und etwa Naturkatastrophen auf der anderen? Das wollte ich verstehen.

  


Fortsetzung mit Teil II