Die Arbeitslampe ist erloschen

(hpd) Rechtzeitig zu einem aktuellen Jahrestag hat Katrin Rohnstock eine wichtige Anthologie von Erinnerungen herausgegeben: “Mein letzter Arbeitstag. Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe.” Das ebenso spannende wie aufklärende Buch erschien pünktlich 25 Jahre nach der “Wende” in der DDR. Betroffene geben persönliche, aber verallgemeinerbare Antworten auf die Frage nach der Humanität des Umgangs mit ihnen, nach ihrer individuellen Lebensleistung, was sie im Blick zurück erkennen, für wichtig halten. Sie werten die Vorgänge aus ihrer biographischen Sicht, belegt an Tatsachen.

Die differenzierten und differenzierenden Ansichten von 22 Männern und sieben Frauen, vom Kellner bis zum Staatssekretär, von der Kindergärtnerin bis zur Programmdirektorin des Fernsehens, stützen sich auf eigenes Erleben. Es sind kurze, ohne viel Umschweife erzählte Biographien. Sie beschreiben das Davor und das Danach, nicht lediglich, wie der Titel suggeriert, den Augenblick des letzten Arbeitstages am Ende einer Gesellschaft, in der sich fast alles um das Arbeitsleben drehte und der Staat im Wesentlichen über den Betrieb wahrgenommen wurde.

Diese leisen Stimmen und kurzen Worte, fast alle abgeklärt, nahezu keine Bitterkeit (was verblüfft), fügen den Augenblicken aktueller euphorischer Dankesworte an “das Volk” und einer unerquicklichen Debatte über “Unrechtsstaat” einige “Einwürfe” hinzu, ohne die nicht zu begreifen ist, warum die “Wende” vor allem eine ostdeutsche Geschichte ist. Die nur hier erlebten Umbrüche erzeugten eine generative “Erinnerungskultur”, die durchaus und nicht nur familiär tradiert wird.

Was die Texte so eindringlich macht, ist ihre ostdeutsche Verortung. Es kann dies keine ganz-deutsche Erlebniskultur sein. Sie bildete sich in Folge der deutschen Einheit dadurch, dass in relativ kurzer Zeit vier Millionen Menschen, etwa die Hälfte der ostdeutschen “Werktätigen”, ihren Job verloren. Jeder und jede erfuhr eine ganz persönliche Kehre. Die Geschichten verweisen auf die Gleichheitförmigkeit des Geschehens und legen Zeugnis ab über Kollegen und ganze Regionen.

Wiederum die Hälfte, also ein Viertel der Werktätigen und deren nun erwachsen werdenden Kinder oder Enkel, jedenfalls etwa zwei Millionen Menschen, gingen im Jahrzehnt nach der “Wende” in den Westen Deutschlands, dort ihr Lebensglück suchend. War diese Zuwanderung dort eine Bereicherung? Wenn ja, worin bestand diese?

Der vorliegende Sammelband, worauf die Herausgeberin in ihrem Vorwort hinweist, ging zwischen November 2013 und März 2014 aus ihren “Erzählsalons” hervor. Diese werden von der Soziologin Rohnstock seit Jahren in Berlin erfolgreich betrieben. Sie sind Teil auch ihrer geschäftlichen Produktion von Biographien, sowohl für den Familiengebrauch wie auch für die öffentliche Bühne. Beiträge daraus gingen übrigens ein in das aktuelle “Jugendfeier-Buch” des HVD “LebensWege. Geraden, Kreuzungen, Umwege” (ISBN 978–3–924041–35–9), das seit 2012 jeder Teilnehmende erhält. (1)

Der vorliegenden Produktion der “Rohnstock Biographien” unmittelbar voraus ging der Sammelband “Die Kombinatsdirektoren. Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist” mit einem Prolog von Dietrich Mühlberg. Dessen provokante Frage “Wer will was aus unserer jüngsten Geschichte lernen?” kann als Regelanfrage auch dem Band “Mein letzter Arbeitstag” unterlegt werden.

Wolfgang Engler, Rektor der Schauspielschule “Ernst Busch”, hat in seinem, die Texte resümierenden Nachwort den Gestus der Gespräche aufgegriffen und die Überschrift “Erinnerungen an die Zukunft” gewählt. Er hat mit seinen kultursoziologischen Forschungen in den letzten zwanzig Jahren diese Umbrüche begleitet, untersucht, dazu publiziert und immer wieder die Frage gestellt, was die Menschen in der DDR prädestinierte, nahezu nahtlos und ohne “Umerziehung” für den Kapitalismus tauglich zu sein, vom Betriebsdirektor bis zum Jugendbrigadier: “Das ungebrochene Arbeitsethos, das die Ostdeutschen an den Tag legten, als ihre Werkstätten schlossen, spiegelt die Üblichkeiten der arbeiterlichen Gesellschaft ebenso wie die Flexibilität, dank derer sich ein Großteil von ihnen unter den gewandelten Verhältnissen behauptete.” (S. 212)

Die Geschichten in dem Band beschreiben eindrucksvoll, wo und warum dies nicht gelang, nicht vor allem schief lief durch den mangelnden Willen oder unzureichende Fähigkeiten der Betroffenen, dem “Humankapital”, sondern durch Konkurrenzausschaltung mittels Treuhand, durch das Ende des Handels mit dem Ostblock, schlichte und freche Korruption, einsetzende Konkurrenzen mit Billiglohnländern (zu denen die DDR gehörte, etwa in der Schuh-, Textil- und Spielzeugindustrie), durch Aufhebung der besonderen Sozialmaßnahmen für Frauen und alleinerziehende Väter und Mütter (etwa die besonderen Arbeitszeitregelungen oder die zwölf bezahlten Haushaltstage usw.) und vor allem durch den Nachteil des Alters.

1990 über vierzig zu sein, das machte fast chancenlos. Vor allem wird in den Berichten noch einmal deutlich, wie sehr enorme Summen aus den bundes-, nun gesamtdeutschen Sozialkassen ab 1991 als Puffer eingesetzt wurden, vor allem durch großzügige Vorruhestandsregelungen und massenhafte Frühverrentungen. Wenn man so will, kann man darin die geldliche humanitäre Solidarität der westdeutschen mit den ostdeutschen “Werktätigen” sehen, auch wenn dies bis heute nicht so gewürdigt wird. Der steuerliche “Soli-Zuschlag” verhindert dies ebenso wie die “Agenda 2010”, die Ostdeutsche nicht mehr groß erschüttern konnte. Arbeitslosigkeit war hier kein Makel mehr, sondern eine allgegenwärtige soziale Lage, frei von persönlicher Schuld.

Mein persönlicher erster letzter Arbeitstag nach 25 Jahren Anstellung an der Humboldt-Universität war übrigens am 29. Januar 1997. Tags davor hatte ich meinen zweiten Arbeitsgerichtsprozess verloren und die Kündigung wegen “Mangel an Bedarf” wurde sofort wirksam. Ich habe diesen Tag zuhause an meinem Schreibtisch verbracht, an der Druckfahne der “Dissidenten” sitzend.

 


Mein letzter Arbeitstag. Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe. Hrsg. von Katrin Rohnstock. Berlin: edition berolina 2014, 329 S., ISBN 978–3–86789–836–2, 14,99 Euro

Link zum Buch

 

(1) Das “Jugendfeier-Buch” des HVD ist nicht im freien Handel erhältlich