Rezension

Der Erfinder des Sadomasochismus

Reinhardt geht akribisch historischen Zeugnissen nach (Polizei- und Gerichtsakten, Briefe usw.), um wirkliche Sexualverbrechen de Sades von seinen schier unendlichen Phantasien zu trennen. Sein Gegenstand ist es aber nicht, de Sades Leben und Werk nach dem zu befragen, was durch ihn, seine Umwelt, seine Werke fast 200 Jahre später in eine Kultur innoviert wurde, die heute BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) genannt wird. Zweifellos ist die Biographie ein Beitrag zum aktuellen Sadomasochismus (SM). Dazu der Hinweis, dass professionelle Dominas in Deutschland ihre Dienste als “Galerie de Sade” anbieten. Sie wollen sich durch den “Ehrennamen” qualitativ von anderen Sex-Angeboten abheben.

Die Phantasien von Marquis de Sade orientierten sich an den zu seiner Zeit bekannten Folterinstrumenten, die für ihn zu Instrumenten der Lust wurden, die er literarisch, ja pornographisch in ihren möglichen Anwendungen analysierte. Was bei de Sade eine “sexuelle Elite” ausprobierte und was an den Anfängen der BDSM-Kultur in exklusiven Kreisen im Geheimen exerziert wurde, ist in der Gegenwart in verschiedenen Formen vermarktet, durchaus mit einer Tendenz zur Massenhaftigkeit behaftet.

De Sade hat die vorgefunden Beispiele wohl nicht alle erfunden, zugleich Teile davon selbst zu praktizieren versucht, sie jedenfalls in seiner Phantasie verfeinert und als Laster mystifiziert. Werden die bei de Sade vorfindlichen “Vergnügungen” mit dem aktuellen BDSM verglichen, so sind damals alle diejenigen Praktiken weitgehend vorhanden, zu denen die Mittel der Befriedigung zur Verfügung standen. Er berichtet vom Einsatz von Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv- und Geheimmitteln.

Wichtig für die Bewertung von SM zu Zeiten de Sades ist erstens, dass etwa Analverkehr ein todeswürdiges Verbrechen war (Feuertod), aber – trotz des zusätzlichen kirchlichen Banns – dennoch praktiziert wurde und zum “Standardrepertoire jedes Bordells” (S. 113) gehörte; zweitens, dass bei de Sade zunächst das atheistische Attentat im Vordergrund stand, denn die sexuelle Ausschweifung war insofern Nebensache und kein Tabubruch, “weil Geißelungen sowie ‘unnatürlicher’ Geschlechtsverkehr in den Pariser Luxusbordellen auf der Tagesordnung standen.” (S. 82) “Orgien mit Geißelungen waren damals [um 1760/70, HG] der letzte Schrei.” (S. 93)

Drittens war de Sade ein Verfechter der absoluten Gleichheit der Geschlechter. Viertens spricht er für Homosexualität, ob weiblich oder männlich. Es war dies “zugleich ein verschwiegenes Bekenntnis in eigener Sache”. (S. 241)

De Sade selbst innovierte die kunstvolle Aufführung von Opferrollen, wozu ihn wohl sein Charakter und sein Glaube an Verschwörungstheorien prädestinierten. “Der Marquis … war nicht feige und unterschied sich auch sonst von den Ausgeburten seiner Einbildungskraft. Die Inszenierung der Unterwerfung aber muss ihm wie seinen Kunstfiguren Lust bereitet haben.” (S. 119)

Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch hat um 1900 die Werke von de Sade seziert, die beschriebenen Praktiken obszönen Eigenarten zugeordnet und auf diese Weise Typen erotischer Gruppen des Sadomasochismus gebildert, wie sie in der Zeit de Sades vorkamen. Er hat sie entsprechend ihrer Arrangements sortiert und Steigerungsformen extrahiert (vgl. Eugen Dühren [= Iwan Bloch]: Der Marquis de Sade und seine Zeit, 1900, S. 407–431).

Es finden sich zu den SM-Sachverhalten bei de Sade wertvolle Einlassungen bei Reinhardt (vgl. S. 77 f.). Zu diesen gehört, dass der Autor nur vermuten kann, dass es Ereignisse in de Sades Kindheit gab, die den psychophysischen Ausbau einer möglichen Veranlagung zum SM zu einer realen Verhaltensdisposition beförderten (vgl. “Bei Jesuiten und Ersatzmüttern”, S. 52 ff.) Familie war ihm “ein Hort der Unterdrückung”. (S. 243)

Reinhardts Fazit zu diesem ganzen Komplex lautet: “Bekennende Sado-Maso-Praktiker treten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Vorabendprogramm der Privatfernsehsender auf und reklamieren – wie der Zuschauer sieht, völlig zu Recht – ihren Anspruch, eine vollgültige Variante menschlicher Lusterfüllung und Selbstentfaltung zu verkörpern, die bürgerlicher Wohlanständigkeit und einem liebevollen Familienleben mitnichten im Wege steht. Der Maquis hätte sich vor Grauen und Lachen zugleich geschüttelt: Peitschenhiebe, die auf ein vorher vereinbartes Stichwort hin aufhören, waren seine Sache nicht.” (S. 435) Damit ist auch indirekt ein klares Wort zum aktuellen Film “Fifty Shades of Grey” gesprochen.

Das Buch sei allen empfohlen, die sich mit de Sade und die an sein Wirken angrenzenden Themengebiete beschäftigen und an einer Kulturgeschichte der Sexualität interessiert sind.

 


Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie. München: Verlag C. H. Beck 2014, 464 S., 60 Abb., 1 Karte, ISBN 978–3–406–66515–8, 24,95 EURO