Auf dem von Terre des Femmes veranstalteten "Filmfest FrauenWelten" konnte man den einfühlsamen Dokumentarfilm "Seyran Ateş: Sex, Revolution and Islam" sehen. Er erzählt die Geschichte der mutigen Frau, die sich selbst aus einem gesellschaftlichen Gefängnis befreite, um ihren Wunsch nach Freiheit für sich und andere mit einem neuen zu bezahlen. Er zeigt, was Religion anrichten kann.
"Warum wollt ihr mich töten?", fragt Seyran Ateş. Die Menschenrechtlerin, Rechtsanwältin und Imamin gründete die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, wo Männer und Frauen gemeinsam beten und queere Menschen willkommen sind. Eine einmalige Einrichtung und für konservative Muslime ein Skandal. Menschen sehen es als gerechtfertigt an, Ateş dafür mit dem Tod zu bedrohen, weshalb sie seit 2006 unter Polizeischutz leben muss. Eine Fatwa besteht außerdem gegen sie. Das Internet ist voll von Hasskommentaren, eine kleine Auswahl liest sie zu Beginn des Films mit unbeeindruckter Miene vor. Sie werde von rechten Muslimen ebenso angegangen wie von der westlichen linken Gesellschaft und der feministischen Bewegung, ein "seltsames Paradox". Jüngst zeigte sich das, als eine Podiumsdiskussion zu eben jenem Film, der hier besprochen wird, beim queeren "Soura Film Festival" mit der Begründung abgesagt wurde, man wolle der Moschee-Gründerin kein Podium für ihre "islamophoben" Auffassungen bieten (siehe dazu den soeben erschienenen hpd-Artikel). Im Anschluss distanzierte man sich auch von der Vorführung des Dokumentarfilms. Die Linken wollten die patriarchale Misogynie im Islam nicht sehen, sagt Ateş darin. Es sei "wirklich traurig", dass diese nicht auf ihrer Seite stünden.
Die Dokumentation der türkisch-norwegischen Regisseurin Nefise Özkal Lorentzen, welche die Aktivistin den Bildern nach zu schließen über einen langen Zeitraum mit der Kamera begleitet hat, ist international ausgerichtet: Die Protagonistin spricht türkisch, die Untertitel sind englisch, weitere Personen kommen ebenfalls in ihren jeweiligen Sprachen untertitelt zu Wort. Zunächst geht es um die Biographie von Seyran Ateş, die in Istanbul zusammen mit vier Geschwistern in Armut aufwuchs, wie sie berichtet. "Das bedeutet kleine Räume und kein fließendes Wasser". Die Familie wanderte nach Deutschland aus, mit dem Zug ging es nach Berlin. Ateş habe bald Deutsch gelernt und sei zur Familienübersetzerin geworden. Sie erzählt ihre Geschichte in einer therapeutisch anmutenden Szenerie auf dem Rücken liegend, ruhend auf einem Kissen unter einem Tuch auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung. Alte Fotografien illustrieren ihre Worte. Während ihre Brüder viel draußen herumkamen, musste sie sich plötzlich an Regeln halten, weil sie ein Mädchen war. "Das türkische Slum, aus dem wir kamen, wirkte wie der Himmel verglichen mit den 20 Quadratmetern Hölle in einem Wohnblock in Deutschland". Sie habe nicht mit den anderen Kindern draußen spielen dürfen und sich darüber mit ihrer Mutter gestritten, die ebenfalls im Film zu sehen ist und zu der sie heute trotz allem ein liebevolles Verhältnis zu haben scheint.
"Ich fing an, Fragen zu stellen: Warum gibt es Geschlechterdiskriminierung? Warum werden Mädchen anders aufgezogen als Jungen?", erinnert sich die Menschen- und Frauenrechtlerin. Frauen, die etwas unternahmen, seien als Huren bezeichnet worden. Ihr sei das Wort geläufig gewesen, ohne dass sie wusste, was es bedeutete. Sie habe Gewalt erlebt, wenn sie sich anders verhielt, als es von ihr erwartet wurde. Sie sei ein trauriges Kind und ein trauriger Teenager gewesen, es sei wie Sklaverei gewesen. "Ich hatte einen ständigen Drang laut zu schreien. (…) Ich wollte frei sein." Kurz bevor sie 18 wurde, sei sie von zu Hause weggelaufen, weil sie es nicht mehr aushielt. So sei sie zur Feministin geworden. Sie studierte Jura und half anderen Frauen, die ebenfalls aus dem Familiengefängnis ausbrechen wollten. Während dieser Arbeit wurde sie Opfer eines Anschlags, als ein Mann in die Hilfseinrichtung kam und auf sie schoss. Verdächtigt worden seien zunächst Familienangehörige, der Täter sei später zwar gefasst, aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen worden. Das zugrundeliegende Problem sei das Patriarchat, deshalb brauche der Islam eine sexuelle Revolution – eine aufschreierregende These, über die Ateş auch ein Buch geschrieben hat. Damit meine sie nicht, "dass die Leute herumlaufen und ständig Sex miteinander haben sollen", sondern dass die islamische Welt Geschlechtergleichheit und -diversität akzeptieren müsse. Anders sei das Erreichen der Aufklärung nicht möglich. Im Koran sei lediglich von einem Menschen und seinem Partner die Rede. Sexualität sei etwas Privates, das müssten Muslime auf der ganzen Welt lernen, und dass niemand das Recht habe, die Sexualität anderer Leute zu kontrollieren.
"Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?"
Die Kamera begleitet die Rechtsanwältin zu einer Verhandlung vor dem Arbeitsgericht Berlin, wo es um eine Lehrerin geht, die im Unterricht ein Kopftuch tragen will. Seyran Ateş ist für die Verteidigung des Neutralitätsgesetzes hier, was dies in der Hauptstadt verbietet. Man folgt der Protagonistin nach China auf Spurensuche nach anderen weiblichen Imaminnen. Im Land, das die muslimische Minderheit der Uiguren unterdrückt, gibt es diese Tradition seit über 300 Jahren. Sie wollte sich mit diesen Frauen treffen, die eine sehr konservative Haltung vertreten, um sich auszutauschen. Dies wurde jedoch unterbunden. Eine weitere Reise führt Ateş nach Madrid, zur Gedenkveranstaltung für die Opfer des islamistischen Terroranschlags von 2004. "Wo kommt all dieser Hass her?", fragt sie. "Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?" Man sieht Aufnahmen des Alltags, Menschen, die in Züge einsteigen und Rolltreppe fahren, unvermittelt zerrissen durch Aufnahmen von Opfern und Explosionen, einem zerborstenen Waggon. Dies sei der Politische Islam in seiner hässlichsten Form, sagt die Aktivistin. "Ich schäme mich und ich entschuldige mich." Es sei nicht genug, zu kritisieren, sich das aus der Distanz anzuschauen. "Der einzige Weg, den Politischen Islam zu bekämpfen, ist durch den Islam".
Inwieweit dieses Problem mit Männlichkeit und der Radikalisierung junger Menschen zu tun hat, ist eine weitere Fragestellung, der sich der Dokumentarfilm widmet. Extremisten machten sich die Unsicherheit und den Wunsch nach Zugehörigkeit junger Migranten zu Nutze. Auch die Angst schwuler Muslime vor der Hölle sei eine Motivation, für Allah sterben zu wollen. Ateş' Neffe, der Mitglied ihrer Gemeinde ist, erzählt das Beispiel dazu, wie es ihm selbst erging: Er sei nicht glücklich gewesen und wenn er den Weg seines Extremismus' zu Ende gegangen wäre, hätte er einer jener sein können, die Menschen in Spanien oder Deutschland erschossen oder in die Luft gesprengt hätten. Grund dafür, warum er umkehrte, sei seine Tante gewesen, die ihn nicht aufgeben wollte, und die von ihr gegründete Moschee. Sie bringe Menschen zusammen, während die Extremisten versuchten zu spalten.
Der Film lässt sich viel Zeit. Er stellt philosophische Fragen und lässt sie im Raum stehen, folgt dem Gespräch zwischen der Imamin, ihrer Schwester und ihrer Mutter am Esszimmertisch. Er legt großen Wert auf Symbolik, lässt die vorkommenden Personen ihre Gedanken mit Gegenständen visualisieren, zeigt ein Billardspiel als gegenläufige Metapher für einen Kampf, den man nicht nur einmal gewinnt und dann ist er vorbei. Man sieht Bilder zerspringender Fenster beim rechtsextremistischen Anschlag in Norwegen vor zehn Jahren und dann die Protagonistin, wie sie ihre Hand behutsam in eben jene Scherben taucht. Sie weint mit den Hinterbliebenen. Es sind Momente wie diese, die unter die Haut gehen. Hier stehen die Opfer im Vordergrund und das, was die Täter anrichten, nicht aber die Täter selbst. Die Dokumentation porträtiert einen warmherzigen, empathischen Menschen, dem viel an seinen Mitmenschen liegt, das zeigt sich schon in kleinen Gesten. Seyran Ateş ist eine bewundernswert mutige Frau. Allen Bedrohungen zum Trotz macht sie weiter. Sie will weitere Moscheen in ganz Deutschland eröffnen und in jeder europäischen Hauptstadt. "Wir wollen Frieden, und die einzige Möglichkeit Frieden zu schaffen ist, in ihm zu leben."
Seyran Ateş: Sex, Revolution and Islam, 81 Minuten, Dokumentarfilm (OmeU), Norwegen 2021