Ralph Ghadban: Überlegungen zur Verteidigung der offenen Gesellschaft

Der Multikulturalismus am Ende? (2)

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BERLIN. (hpd) Die Massaker von Paris und Kopenhagen ebenso wie die Versuche rechtspopulistischer und islamophober Kreise (u.a. Le Pen in Frankreich, Wilders in den Niederlanden, Pegida in Deutschland), diese Vorgänge für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, werfen die drängende Frage nach dem richtigen, dem notwendigen Vorgehen zur Verteidigung einer offenen Gesellschaft auf. (Teil 2)

Kultureller Ansatz der 68er Generation

Die 68er Generation hatte trotz ihrer erklärten Absichten, die Interessen der Arbeiterklasse zu unterstützen, eigentlich mit der Arbeiterklasse wenig gemeinsam. Deshalb haben sie trotz ihrer intensiven Bemühungen nirgendwo den Anschluss an sie gefunden. Ihr Ansatz war hauptsächlich kulturell und nicht ökonomisch. Sie kämpften für die sexuelle Emanzipation, für die Rechte der Homosexuellen, der Frauen, der Ausländer und der Kinder (antiautoritäre Erziehung). Das waren alles Werte, die der Arbeiterklasse wenig behagten. In den 70er Jahren standen sie sogar teilweise gegen sie, als sie Ökologie und Umwelt auf ihre Fahnen schrieben. Das war gegen viele Produktionszweige gerichtet und bedeutete den Verlust von Arbeitsplätzen. Als der Multikulturalismus kam mit seinem Ansatz, die kulturelle Anerkennung stelle die Lösung aller Probleme dar, wurde er von vielen als Fortsetzung ihrer linken Positionen übernommen.

Multikulturalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern

Viele europäische Länder übrigens wie Großbritannien, Norwegen, Schweden, Holland, Dänemark übernahmen den Multikulturalismus als offizielle Staatspolitik. In Deutschland war das nicht der Fall, trotzdem breitete sich der Multikulturalismus quer durch alle Parteien aus, so dass in den 90er Jahren de facto eine Multikulti-Politik weitgehend betrieben wurde.

Die Grünen haben als einzige Partei in Deutschland den Multikulturalismus in ihrem Programm aufgenommen. Auf einer Außerordentlichen Bundesversammlung im Mai 1989 in Münster wurde eine Erklärung "Für eine multikulturelle Gesellschaft - gegen Rechtsradikalismus und AusländerInnen-Feindlichkeit" diskutiert und verabschiedet. In dem Programm für die kurz danach abgehaltenen Europawahlen 1989 tritt der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" schon auf.

Ein Jahr später, 1990, erklärt das Programm der Grünen zur ersten gesamtdeutschen Wahl: "Alle hier lebenden Menschen müssen sich an politischen Entscheidungen gleichberechtigt beteiligen können, egal welche Staatsbürgerschaft sie haben." Und weiter: "Wir streben offene Grenzen an: Jeder soll dort leben und arbeiten können, wo er bzw. sie möchte." Die Grünen sind für die multikulturelle Gesellschaft und verlangen für ein friedliches Zusammenleben, nicht nur ein sicheres Aufenthaltsrecht für Alle, sondern auch "daß in der Bundesrepublik alle EinwanderInnen und Flüchtlinge kulturell selbstbestimmt und gleichberechtigt mit uns leben." Außerdem müsse jeder, der aus politischen, rassischen und religiösen Gründen verfolgt ist oder wegen Bürgerkrieg, Völkermord, ökonomischer Not und anderen Gründen in die Bundesrepublik flieht, Asyl erhalten. Im Wahlprogramm 1994 erhalten alle Akteure in der "multikulturellen multiethnischen Gesellschaft" die Aufgabe, "Verständnis und Akzeptanz für die verschiedenen Lebenswelten von Minderheiten sowie ein friedliches Miteinander zu schaffen."

Niedergang des Multikulturalismus

Ende des letzten Jahrhunderts waren viele europäische Gesellschaften stark multikulturalistisch umgebaut. Anstatt der erwünschten friedlichen Koexistenz hatten die ethnischen und kulturellen Konflikte massiv zugenommen und gehörten zum Alltag. Die Ideologen, die zu Multikulti beigetragen haben, machten einen Rückzieher. Claude Lévi-Strauss, den die Expansion und die Aggression der muslimischen Gemeinde in Frankreich (circa 6 Millionen) erschrocken haben, erklärte gemäß seiner Theorie der Erhaltung und des Schutzes der Kulturen, die eigentlich für die Dritte Welt gedacht war, seine eigene französische Kultur nun beschützen zu wollen und nahm eine extreme islamfeindliche Haltung an.

Frederik Barth bedauerte zur selben Zeit, dass seine Theorie, die einen besseren Verständnis der Ethnien zwecks ihrer Integration in der Industriegesellschaft dienen sollte, das Gegenteil erreichte und eine Segmentierung der Gesellschaft durch die Essentialisierung der ethnischen Identitäten herbeiführte. Und schließlich verschwand die Postmoderne, die ein paar Jahrzehnte die Welt beschäftigte, unbemerkt und taucht heute kaum im öffentlichen Diskurs auf.

Die Länder distanzierten sich von ihrem Multikulturalismus. Holland hat seine zehnjährige multikulturalistische Politik im Jahre 1994 abgeschafft. Sarkozy erklärte in Paris dem Kommunitarismus den Krieg und Merkel in Berlin den Kommunitarismus für gescheitert. In ganz Europa werden die Migrations- und Sicherheitsgesetze verschärft, was eine Multikulti-Politik erschwert. Der Grund dafür ist der islamische Terrorismus, der seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in das Bewusstsein aller Menschen eingedrungen ist.

Problembereich: (unaufgeklärter) Islam aus Ländern ohne Demokratie

Multikulti in Europa hat direkt mit der muslimischen Einwanderung zu tun. In allen europäischen Ländern bilden sie die Mehrheit der Migranten. Sie stammen aus Ländern, in denen die Demokratie sich nicht durchsetzen konnte. Als Muslime haben sie eine Religion, die nichts und niemanden anerkennt außer sich, weder Nichtmuslime noch andere Religionen oder Weltanschauungen, geschweige denn Demokratie und Menschenrechte werden akzeptiert. Alle Versuche, den Islam zu modernisieren und reformieren, sind bislang misslungen.

Dr. Ralph Ghadban
Dr. Ralph Ghadban

Nach der iranischen Revolution von 1979 und dem Beginn des Kampfes gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan erschien der Islam als revolutionär und emanzipatorisch und wurde deswegen für viele attraktiv, insbesondere für die zweite Generation von Muslimen, die in Europa aufgewachsen sind, aber denen eine europäische Identität verweigert wurde. Auf die Ausgrenzung antworteten sie mit der Selbstabgrenzung, indem sie eine islamische Identität entwickelten, die sich gegen die Leitkulturen der Gastländer richtete. Umrahmt von religiösen Verbänden, die traditionell oder zum großen Teil fundamentalistisch sind, begannen sie, sich kommunitaristisch zu organisieren und verlangten die Anerkennung ihrer Identität und Lebensweise.

Der Multikulturalismus fördert diesen Prozess. Für ihn bedeutet eine wahre Anerkennung der Unterschiede, die Anerkennung des gleichen Wertes verschiedener Existenzweisen und die Aufforderung an die Politik die Gleichwertigkeit verschiedener Identitäten anzuerkennen. Dass viele Kulturen und Lebensweisen die Menschenrechte verachten und die Demokratie nicht akzeptieren, hat die meisten Multikulti-Anhänger nicht interessiert, bis der Terrorismus vor der Tür stand.

Die Auswirkungen des Terrorismus auf "Multi-Kulti" - am Beispiel der Grünen

Der Terrorismus wirkte sich auch auf die Politik der Grünen aus. Im Grundsatzprogramm 2002 "Die Zukunft ist grün" verzichten die Grünen auf den Begriff "multikulturelle Gesellschaft" und ersetzen ihn mit dem Begriff "multikulturelle Demokratie". Sie betonen zuerst ihr Festhalten an den Menschenrechten. Sie sind universell, unteilbar und unverhandelbar gegenüber einem falschen kulturellen Relativismus. Dann postulieren sie, dass die Menschenrechte zu den gemeinsamen politischen Zielvorgaben für das Zusammenleben in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft gehören. Und kommen zu folgendem Schluss: "...die Verbindung der Begriffe Demokratie und multikulturelle Gesellschaft heißt für uns: Multikulturelle Demokratie."

Dieser Kraftakt, Widersprüchliches zu vereinen, wurde widersprüchlich in der Öffentlichkeit vermittelt. Während die Umweltministerin Renate Künast in der Berliner Zeitung (03.12.2004) darin sah, "dass wir als Gesellschaft auch Erwartungen haben dürfen. Zum Beispiel, dass Zuwanderer die deutsche Sprache lernen und sich mit unserem Verständnis von Menschenrechten auseinander setzen. Ich denke da an die Stellung der Frau, die Frage von häuslicher Gewalt oder auch an das Problem der Zwangsverheiratungen", schrieben die Parteivorsitzenden Reinhard Bütikofer und Claudia Roth im Berliner "Tagesspiegel" (28.11.2004), dass es sich um eine neue Begründung der multikulturellen Gesellschaft handelt und dass diese "oft sogar Toleranz für Lebensweisen, die man für 'falsch' hält" fordert.

Im Programm 2002 taucht zum ersten Mal der Begriff "interkulturell" leise neben dem Begriff "multikulturell" auf, was wieder einen Widerspruch darstellt. Multikulturell bedeutet die Anerkennung und Respekt der kulturellen Eigenartigkeit. Das führt zum Kommunitarismus. Interkulturell bedeutet das Verständnis der anderen Kultur, um den passenden Umgang zu finden, bekannt als interkulturelle Kompetenz, für die Verwirklichung der Integration.

Dieser Widerspruch wurde im Programm von 2013 korrigiert. Dort wird nur von interkulturell gesprochen, der Begriff multikulturell war verschwunden. Anstelle von Anerkennung und Respekt ist nun massiv die Rede von interkultureller Öffnung der Verwaltung, der Institutionen, der Wirtschaft usw. kurz der Gesamtgesellschaft. Das bedeutet eine intensive Integrationsarbeit. Es fällt aber auf, dass manche führenden grünen Politiker interkulturell sagen, aber multikulturell denken und sogar multikulturell handeln, besonders in Bezug auf Religionen. Trotz der klaren Tendenz des letzten Programms scheint es so, als ob die Frage der Orientierung bei den Grünen noch nicht ganz entschieden ist.

Verteidigung der universellen Menschenrechte steht auf der Tagesordnung

Nach all diesen Umwälzungen seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die globalisierte Welt etabliert. Die Terrorakte vom September 2001, die Finanzkrise von 2008 und das Massaker von Charlie Hebdo 2015 sind Ereignisse, die diese neue Welt kennzeichnen. Es geht heute darum, das globale Finanzkapital unter Kontrolle zu halten, die Sicherheit jedes Einzelnen vor dem Weltterrorismus zu gewährleisten und die Zersplitterung der Gesellschaften zu stoppen und zu verhindern. Die Demontage und Relativierung der universalen Menschenrechte stehen nicht mehr auf der Tagesordnung, sondern ihre Verteidigung. Man sucht für den Zusammenhalt der Gesellschaften die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede.

Der Slogan "Vive la différence!" scheint ausgedient zu haben.

 

Der erste Teil dieser Abhandlung erschien gestern im hpd.