Konservativer Rollback im Namen des Laizismus

Gesinnungscharta für öffentlich geförderte Einrichtungen und Bürger

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The Île de la Cité, the Île Saint-Louis and the Pont de la Tournelle seen from the Arab World Institute(Paris, France) | CC-BY-SA 4.0

Die Abgeordneten des Verwaltungsbezirks Île de France haben eine "Regionale Charta für die republikanischen Werte und die Laizität" beschlossen, die sich sowohl auf Staatsbedienstete und öffentlich geförderte Einrichtungen als auch auf diejenigen, die deren Dienstleistungen in Anspruch nehmen, erstreckt. Die Verwaltungsvorschrift richtet sich gegen die religiöse Radikalisierung insbesondere von Muslimen, enthält jedoch keine Lösungsvorschläge für die Konfliktszenarien. Zudem stellt sie grundsätzliche Menschen- und Bürgerrechte infrage.

Bereits 2007 wurde die weltanschauliche Neutralität für Staatsbedienstete und Angestellte im öffentlichen Dienst in einer nationalen Laizismus-Charta festgeschrieben. Dieser zufolge sind die Angestellten im öffentlichen Dienst angehalten, ihren Kollegen und den Bürgern gegenüber ein "unparteiisches Verhalten" an den Tag zu legen und deren Religions- und Glaubensfreiheit zu respektieren. Ein Bekenntnis der persönlichen Religiosität bei der Ausübung ihres Amtes ist Angestellten im öffentlichen Dienst und Beamten seit 2007 untersagt. Diese Richtlinien hat die konservative Fraktion im Regionalparlament der Region Île de France in ihre "Regionale Charta für die republikanischen Werte und die Laizität" übernommen, die sie am 9. März gegen die Stimmen der linkspolitischen Kräfte beschlossen hat.

Die neue, auf den Großraum Paris beschränkte Neutralitätsregelung erstreckt sich auch auf öffentlich verwaltete und geförderte Bildungs- und Jugendeinrichtungen sowie Sportvereine. Diese binden sich mit der Charta an die Zusage, sich im Kampf gegen jegliche Formen der Diskriminierung zu engagieren und religiöse Missionierung in ihren Räumen und Veranstaltungen zu unterbinden. In dem Dokument werden die Vereine und Einrichtungen außerdem verpflichtet, "die Gleichstellung von Frauen und Männern zu wahren und gegen alle Formen von Sexismus und Gewalt gegenüber minderjährigen Mädchen und erwachsenen Frauen, gegen Belästigung, auferlegte Kleidungsvorschriften und Kontaktverbote sowie hierarchische Beziehung mit Frauen" vorzugehen. Es werde auch nicht akzeptiert, wenn Menschen mit Bezug auf ihren Glauben gegen öffentliche Gesetze und Vorgaben verstoßen, heißt es in dem Dokument weiter.

"Wenn man öffentliche Subventionen haben wolle, müsse man bestimmte Regeln befolgen", begründete die Präsidentin der Regionalregierung Valérie Pécresse die Reichweite der Charta. "Jeder Verein oder Sportverband, der von der Region Zuschüsse erhält, wird zu dieser Charta und der Verhinderung von Radikalisierung verpflichtet", erklärte die Vorsitzende der konservativen Fraktion, die die politische Mehrheit im Regionalparlament stellt, weiter.

Neben den in Behörden und subventionierten Einrichtungen Bediensteten nimmt die Charta auch all jene in die Pflicht, die öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Dabei wurde zunächst eine im Grunde selbstverständliche Regelung aus der nationalen Charta übernommen. Gläubige in Frankreich dürfen sich nicht mit Bezug auf religiöse Regeln den öffentlichen Rechtsvorschriften entziehen.  

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Links die 2007 verabschiedete nationale Neutralitätscharta, rechts die am 9. März für den Goßraum Paris beschlossene "Regionale Charta für die republikanischen Werte und die Laizität"

Um die Radikalisierung insbesondere der muslimischen Bevölkerungsteile aufzuhalten, verschärft die Regionalregierung den Ton. Dies beginnt schon im ersten Satz in Bezug auf die Nutzer öffentlicher Dienstleistungen. Während die nationale Regelung konstatiert, dass alle Nutzer öffentlicher Dienste gleich sind, fehlt diese Formulierung in der regionalen Charta vollkommen. Dies eröffnet einen Interpretationsspielraum über gleich und ungleich zu behandelnde Menschen, von dem wohl vorrangig rechtskonservative und rechtsextreme Kräfte Gebrauch machen werden.

Dramatischer ist aber, dass die regionale Regelung grundsätzliche Individual- und Bürgerrechte unter Verwaltungsvorbehalt stellt. Hier beginnt die Charta eine bürgerrechtliche Mogelpackung zu werden. In der regionalen Verwaltungsvorschrift heißt es, dass die individuelle Glaubens-, Rede- und Meinungsfreiheit sowie das Versammlungsrecht dem staatlichen Anspruch auf Neutralität sowie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und den Hygienebestimmungen nachgeordnet werde. Diese Aufzählung lässt kaum eine andere Deutung zu, als dass die Einschränkungen vor allem die muslimischen Bevölkerungsteile treffen werden. In der Debatte um das Kopftuch, den Burkini oder Gebete im öffentlichen Raum sind die Bezüge zu Sicherheit, Ordnung und Hygiene längst etabliert. 

Im Vergleich zur regionalen Vorschrift war die nationale Neutralitätscharta war weniger rigide und sah vor, dass insbesondere im medizinischen oder strafrechtlichen Bereich die individuelle Glaubens- und Meinungsfreiheit respektiert wird und kultische Handlungen ausgeübt werden dürfen, sofern diese nicht die Neutralität des Staates verletzen. 

Der staatliche Vorbehalt, der hier gegenüber grundsätzlichen Menschen- und Bürgerrechten laut wird, bricht nicht nur mit den Werten der französischen Staatsraison "Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit", sondern wird auch nur schwer mit den europäischen Regelungen zu Menschen- und Bürgerrechten sowie den Antidiskriminierungsregelungen vereinbar sein.

Neu ist außerdem, dass auf die religiöse Selbstverortung der Bürger grundsätzlich keine Rücksicht mehr genommen wird. In der nationalen Regelung heißt es dazu noch, dass öffentlich Bedienstete angehalten sind, sich zu bemühen, auf persönliche Überzeugungen von Bürgern einzugehen und diese zu berücksichtigen, solange sie dabei nicht gegen Gesetze verstoßen oder die Abläufe in der Verwaltung stören. Ein Akt der demokratischen Harmonisierung, auf den man im Großraum Paris künftig verzichtet. Die neue Regelung ist keine unstatthafte Einschränkung von Bürgerrechten, aber ein deutliches Signal. Behörden und öffentliche Einrichtungen werden sich schwerer mit Turban und Kopftuch tun als mit einem Kreuz an einer Halskette oder einem Anstecker gegen die Ehe für alle. 

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Zusammensetzung des Regionalparlaments. Rechts und mittig die Fraktionen der rechtsextremen Front National, der rechtskonservativen Republikaner und der gemäßigten Konservativen.

Die in Frankreich in ihrem Ton bislang einmalige Charta ist ein Zeugnis des konservativen Ordoliberalismus. "In einer Situation, in der die französische Republik regelmäßig von Provokationen und Angriffen heimgesucht wird, die ihre Grundwerte infrage stellen sollen", soll sie die republikanischen Werte stärken, heißt es in der Präambel des einseitigen Dokumente. Darin wird auf verschiedene Urkunden, die als zentral für das französische Staatsverständnis gelten, verwiesen. Dazu zählen die Verfassung von 1958 nebst Präambel von 1946, die allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sowie das dem laizistischen Staatsverständnis zugrundeliegende Gesetz von 1905. In diesem wird die Meinungs- und Glaubensfreiheit, die Trennung von öffentlichen Institutionen und religiösen Organisationen sowie die Gleichheit aller vor dem Gesetz unabhängig von der individuellen weltanschaulichen Überzeugung garantiert.

Doch gerade die Meinungs- und Glaubensfreiheit als auch die Gleichheit aller vor dem Gesetz wird in der regionalen Charta infrage gestellt. Dies kritisierte insbesondere die linkspolitische Opposition im Regionalparlament, die sich bereits aus der parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der Charta zurückgezogen hatte. Der Fraktionschef der Grünen und Umweltparteien Mounir Satouri kritisierte stellvertretend, dass das beschlossene Dokument kein Problem löse. "Im Gegenteil öffnet es einer gefährlichen Debatte Tür und Tor und spielt mitten in der angespannten Zeit des Präsidentschaftswahlkampfs mit dem Feuer."

Tatsächlich wird das laizistische Staatsmodell immer wieder für die Islamkritik der rechtspopulistischen Kräfte instrumentalisiert. Diese bewerben ihr christlich-konservatives Lebensmodell, indem sie sich in einem antiislamischen Reflex auf die Prinzipien des Laizismus beziehen. Der grundsätzlich antiklerikale Anspruch des laizistischen Staatsverständnisses ist dabei der Idee einer vermeintlich neutralen, tatsächlich aber wertkonservativen Leitkultur gewichen.

Umso beruhigender, dass es verlässliche Kräfte gibt, die an den Anspruch einer strikten Trennung von Staat und Kirche immer wieder erinnern. Das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo", dass gegen alle Religionen und Dogmen gleichermaßen austeilt, gehört unzweifelhaft zu diesen Kräften. Jüngst hatte es die Präsidentschaftskandidaten aufgefordert, sich den Prinzipien des französischen Laizismus zu verpflichten, auf rechtliche Sonderregelungen für Religionsgruppen zu verzichten und künftig keinen Gotteslästerungsparagrafen einzuführen.

Die Initiative des Magazins soll vor allem die Kandidatin des rechtsextremen Front National entlarven. "Wenn sich nichts ändert, wird Marine Le Pen die einzige Kandidatin sein, die offen über den Laizismus spricht. Das wirft aber ernsthafte Probleme auf, denn ihre Partei pflegt feste Verbindungen zu katholischen Fundamentalisten und schlägt neue private Bildungseinrichtungen vor, die mehrheitlich religiös sind", wurde Chefredakteur Gérard Biard in den französischen Medien zitiert. Seit der Verabschiedung des Gesetzes von 1905 sei das laizistische Staatsprinzip nicht solchen Angriffen und Vereinnahmungsversuchen wie gegenwärtig ausgesetzt gewesen. Begriffe und Konzepte wie "Islamophobie" oder "Burkini-Mode" belegten dies ebenso wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung oder der Widerstand gegen die Ehe für Alle.

Der Präsidentschaftskandidat der Sozialisten Benoît Hamon hat inzwischen vorgeschlagen, eine kostenlose 24-Stunden-Hotline einzurichten, an die sich Bürger wenden können, wenn sie Verstöße gegen das staatliche Neutralitätsgebot wahrnehmen.

Der französische Laizismus ist in einer schwierigen Phase, rigide Neutralitätsgebote wie das der Regionalregierung im Großraum Paris helfen nicht, sondern führen eher zu seiner Aushöhlung im Kern. Zur Erinnerung: Das gesetz zur Trennung von Staat und Kirche wurde 1905 beschlossen, weil es in der Dritten Französischen Republik wiederholt zu innenpolitischen Spannungen gekommen war. Einflussreiche konservativ-restaurative Kräfte versuchten damals, die republikanisch-demokratische Staats- und Gesellschaftsform zu unterwandern und den Staat nach ihren konservativ-autoritären Vorstellungen umzubauen. Genau das versuchen rechtskonservative und rechtsextremistische Kräfte in der fünften französischen Republik nun wieder, nur nicht gegen, sondern im Namen des Laizismus.