BERLIN. (hpd) Das Zentrum für politische Schönheit erregt mit seiner subversiven Kunstaktion "Die Toten kommen" die Gemüter der Nation. Tausende Menschen haben am Sonntag symbolische Gräber vor dem Reichstag ausgehoben, um gegen die tödliche Abschottungspolitik an den europäischen Außengrenzen zu protestieren. Aufgebrachte Stimmen mussten nicht lange auf sich warten lassen. Doch möchten wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die sich mehr über einen zerstörten Rasen als über das Massensterben im Mittelmeer empört?
Wie werden einst künftige Historiker auf unsere heutige Gesellschaft blicken? Werden sie ihr, angesichts des vermeidbar gewesenen Elends auf der Welt, etwas anderes als Selbstbezogenheit attestieren können? Es ist unbestreitbar: Der Kampf um die Menschenrechte wird viel zu höflich geführt. Angetrieben von dieser tragischen Erkenntnis vertritt die Künstlergruppe um das Zentrum für politische Schönheit einen "aggressiven Humanismus". Es ist ein Humanismus, der dazu bereit ist Grenzüberschreitungen zu wagen, sofern dies der Verteidigung der Menschenrechte dient.
Widerstand und Provokation können dabei nicht ausgeschlossen werden. Das Zentrum nutzt dafür nicht nur die Mittel der Kunst, sondern auch den straffreien Raum, der durch sie ermöglicht wird. Das Material der Aktionskünstler ist die Gesellschaft, die es zu gestalten gilt. In Zeiten emotionaler Kälte ist das Zentrum für politische Schönheit ein kreatives Sprachrohr menschlicher Wärme, ein gesellschaftliches Korrektiv.
Es war ein Akt politischer Schönheit, als am Sonntag mehr als 5.000 Menschen die Wiese vor dem Reichstag eigenverantwortlich besetzten und couragiert symbolische Gräber aushoben. Von reiner Zerstörungswut oder gar Vandalismus kann nicht die Rede sein. Denn hinter dem entschlossenen aber weitgehend friedlichen Ungehorsam stand ein ernsthaftes Anliegen. Allein in einer einzigen Woche im April 2015 starben über tausend Flüchtlinge im Mittelmeer. Mitverantwortlich ist die europäische (Anti-)Flüchtlingspolitik, die Grenzen statt Menschen schützt. Wer möchte bestreiten, dass die unterlassene Hilfeleistung ein Skandal ist? Ist es nicht verständlich, ja notwendig, dass gegen diese tödliche Abschreckungspolitik revoltiert wird?
"Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt", schrieb der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Albert Camus. "Aber wenn er ablehnt, verzichtet er doch nicht, er ist auch ein Mensch, der ja sagt aus erster Regung heraus." Aus erster Regung heraus sollten wir für eine neue Schutz- und Willkommenskultur eintreten und der inhumanen Abschottung ein Ende setzen. Alles andere wäre eine Schande für eine Gesellschaft, die sich als Solidargemeinschaft in der Tradition des Humanismus versteht.
Deutschland hat die Möglichkeit zu helfen und steht damit in der Verpflichtung schnellstmöglich eine humanistische Asyl- und Flüchtlingspolitik umzusetzen. Neben legalen und sicheren Fluchtrouten muss eine leicht zugängliche Asylbeantragung im Ursprungsland und in Transitländern gewährleistet werden. Die Europäische Union muss sich ihrer gemeinsamen Verantwortung als Wertegemeinschaft bei der Aufnahme von Schutzsuchenden stellen.
Vor Ort sollte eine dezentrale Unterbringung angestrebt werden, die ein menschenwürdiges Leben inklusive Privatsphäre garantiert. Flüchtlinge müssen in bestehende Sozialgesetze eingegliedert werden. Denn das deutsche Asylbewerberleistungsgesetz mit dem damit verbundenen bürokratischen Aufwand ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch ökonomisch auf vielen Ebenen unhaltbar.
Aber auch die Zivilgesellschaft muss für die Belange von Flüchtlingen sensibilisiert werden. Vielen ist auch heute noch nicht das Ausmaß des Leids bewusst, das ihre Mitmenschen ertragen müssen. Hier sind insbesondere die Kommunen gefordert, bestmögliche Voraussetzungen für ein verständnisvolles und inklusives Miteinander zu schaffen. Ansonsten öffnen wir Tür und Tor für die rechtspopulistische Propaganda der Kleingeister.
"Der Mensch setzt in seiner Revolte seinerseits der Geschichte eine Grenze", schrieb Camus. Es ist an der Zeit eine Zäsur in der europäischen Flüchtlingspolitik im Sinne der konsequenten Durchsetzung individueller Selbstbestimmungsrechte zu setzen. Dazu brauchen wir einen offenen Dialog, in dem auch Betroffene zu Wort kommen. Ansonsten verharren wir weiterhin in ignoranter Selbstbezogenheit.
6 Kommentare
Kommentare
Siegrun am Permanenter Link
ich verstehe den Protest schon.
ABER: was ist denn die Lösung???
Solange es einen Weg nach Europa gibt, werden Menschen das wollen und Schlepper ihr Geschäft machen. Und viele per Seelenverkäufer in den Tod schicken.
Ich denke um das wirksam einzudämmen, kann man nur komplett dicht machen, wie Australien.
Denn nur dann kann man dem Schleppertum die Geschäftsgrundlage nehmen.
Anlaufstellen für Asylsuchende einrichten, ja und wirklich schauen, wie man in den betroffenen Ländern Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann.
Ich weiß, das das nicht leicht und auch nicht immer möglich sein wird.
Aber wie soll es denn weitergehen, wenn das nicht geschieht?
Wie realistisch ist das "ganz Afrika" aufnehmen zu wollen aus lauter Menschlichkeit? Wieviele von den Demonstarnten haben schon Flüchtlinge daheim aufgenommen?
Hier geht es nicht um Xenophobie, sondern um wirklich durchdachte sinnvolle Lösungen. Wenn ihr mir jetzt mit der Rassismuskeule kommen wollt, OK, ist aber nur der "easy way out" (für euch) macht doch mal einen konstruktiven Vorschlag.
Pyniker am Permanenter Link
Ich dachte auch ich wäre eher auf der humanistischen Seite angesiedelt. Aber wahrscheinlich bin ich es doch nicht, da ich dem Artikel des Herrn Chefai nicht folgen kann, bzw. folgen will.
Als "Humanist" sollte man auch die Menschen vor Ort schützen. Irgendwann ist eine Gesellschaft nicht mehr in der Lage "endlose" Flüchtlingsströme aufzunehmen.
angelika richter am Permanenter Link
"Mitverantwortlich ist die europäische (Anti-)Flüchtlingspolitik, die Grenzen statt Menschen schützt. Wer möchte bestreiten, dass die unterlassene Hilfeleistung ein Skandal ist?"
Meine syrische Schwägerin ist mit ihrer Familie letzten Sommer vor Libyen in eines dieser Kippelboote gestiegen (wir wussten davon zunächst nichts) und hat Glück gehabt: Nach drei Tagen wurden sie von einem russischen Tanker aufgesammelt und erreichten so die italienische Küste. Wir waren und sind sehr sehr glücklich darüber. Ich kann mir nicht vorstellen, wie entsetzlich es für uns, für die ganze Familie gewesen wäre, wenn das Schiff verunglückt wäre.
Aber ich hätte Europa oder Deutschland nicht die Schuld daran gegeben. Meine Schwägerin in nicht nur Opfer und Flüchtling, sondern auch ein selbstverantwortlicher erwachsener Mensch, der selbstverantwortliche Entscheidungen getroffen hat. Sie hätten, genau so wie ein anderer Schwager auch, mit viel weniger Kosten und Risiko in die Türkei gehen können, da ist man auch vor den Kriegshandlungen sicher, aber eben ohne Sozialleistungen und einer viel bescheideneren wirtschaftlichen Perspektive. Ich denke, Europa sollte verstärkt die kulturell näheren Nachbarstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen in den Krisenregionen, großzügig unterstützen.
Sven Schillings am Permanenter Link
Verehrter Herr Chefai,
diesen Artikel kann man nun wirklich nicht unreflektiert lassen.
1. "Der Kampf um die Menschenrechte wird viel zu höflich geführt"
Es dürfte auch Ihnen bekannt sein, daß es kein Menschenrecht gibt, in einem Land nach Wunsch zu leben, so sehr es vielleicht auch verständlich ist, aus einem ärmeren Land kommend in Europa leben zu wollen. Übrigens kommen die meisten Asylbewerber in Deutschland aus den Balkanstaaten, die im Beitrittsverfahren zur EU sind, sodass man wohl schwerlich von politisch Verfolgten sprechen kann.
2. "Das Zentrum nutzt dafür nicht nur die Mittel der Kunst, sondern auch den straffreien Raum, der durch sie ermöglicht wird."
Was reitet Sie eigentlich zu behaupten, daß Kunst straffreie Räume schaffen könne. Voraussetzung für das Gelingen einer demokratischen Gesellschaft ist die Universalität von Recht, die für Alle gleichermaßen gilt. Nur weil man vermeintlich hehre Ziele hat, rechtfertigt dies keine kriminellen Handlungen.
3. "Allein in einer einzigen Woche im April 2015 starben über tausend Flüchtlinge im Mittelmeer. Mitverantwortlich ist die europäische (Anti-)Flüchtlingspolitik, die Grenzen statt Menschen schützt."
Wie bereits schon erwähnt kommen fast alle Asylbewerber aus (verständlichen) wirtschaftlichen Gründen- Ausnahme z.Zt. Syrien. Es ist schon moralisch verwerflich von Ihnen, Europäer dafür verantwortlich zu machen, dass sich andere in die Gefahr begeben, über's Mittelmeer nach Europa kommen zu wollen. Und schon gar nicht handelt es sich um unterlassene Hilfeleistung! Haben Sie wenigstens mal den zarten Versuch unternommen, über die Verantwortung der afrikanischen Herkunftsländer nachzudenken?
Ich kann mich den Beiträgen von Siegrun und Pyniker nur anschließen. Ihre Forderungen einer bedingungslosen Öffnung Europas wäre politischer und gesellschaftlicher Selbstmord. Wir sollten nur den Menschen helfen, die wirklich politisch verfolgt werden, also berechtigt Asyl begehren, aber nicht denen, die es lediglich besser haben wollen. Das Zentrum für politische Schönheit hat nach meinem Verständnis nichts mit Kunst zu tun. Leichen quer durch Europa zu schleppen, um sie dann medial wirksam in Berlin zu verscharren, ist zumindest geschmacklos und verstößt gegen Gesetze.
MGS Berlin am Permanenter Link
Es ist ein Dilemma. Die Zusammenhänge der differenziert zu betrachtenden Flüchtlingsströme sind schwierig zu vermitteln.
Fest steht: Wir leben auf einer Insel der "Glückseligen". Und: Unser Wohlstand basiert auf dem Elend der Anderen. Die zynische Lösung lautet: "Haltet die Grenzen dicht!"
Die humanistische Lösung, die sich zur wirtschaftspolitischen Verantwortung bekennt, lautet: "Macht die Grenzen auf!" Letzteres bedeutet innenpolitische Konflikte sowie es keine nachhaltige, globale Lösung der eigentlichen Ursachen darstellt.
Flüchtlinge aus Gebieten mit akuten Kampfhandlungen sind bedingungslos aufzunehmen! Dazu bestände Konsensmöglichkeit, denn die meisten von ihnen würden im Falle der Einstellung der Kampfhandlungen in ihre Heimat zurückkehren.
Schwieriger bleibt es, das Verständnis für sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" herzustellen. Dazu bedarf es, das katastrophale Elend, in das die Menschen in Afrika, Indien (!) und anderswo geworfen sind, anschauend darzustellen sowie die Zusammenhänge zwischen "unserem Wohlstand" und "deren Elend" zu vermitteln. Die korrupten Eliten, der Elendsländer verdienen sich dumm und dämlich durch "unsere Global-Player" sowie "Wirtschaftshilfe", während die Bevölkerung im industriellen Abfall versinkt. Dort herrscht eben keine Armut, die als "Nicht-Haben" zu definieren ist, sondern sie leben auf einer postmodernen Müllhalde "unserer Produkte": Die Luft ist nicht atmen, das Wasser nicht zu trinken, die Umwelt ist verseucht. Wer würde da nicht fliehen wollen, so lange er noch die Kraft hat? Ein Großteil der Bevölkerung der Elendsregionen lebt in Agonie und/oder flüchtet sich in dummdreiste Religion mit nahen Endzeitvisionen; für sie ist die Apokalypse keine ferne Zukunft, sie leben sie, weil die Zustände es sind.
Müssen, können wir alle aufnehmen? Wer nun sagt: "Nein können wir nicht!", und sich dabei des Bildes des vollen Rettungsbootes bedient, dem sei gesagt: „Wir“ sind nicht nur das „Rettungsboot“, „wir“ sind auch die Dampfwalze, die ein halbwegs anständiges Leben außerhalb Europas/USA vernichtet hat und tagtäglich weiter vernichtet.
Gibt es einen vernünftigen Ausweg aus dem Dilemma? Wenn der sich klar und einfach zeigen würde, wäre es kein Dilemma. Könnten regionale Revolten oder gar Revolutionen etwas ändern? Kaum, die Erde ist wirtschaftlich globalisiert, von Auschwitz bis zum Regenwald: Es ist der gleiche Geist, der herrscht. Und wer glaubt nun noch an die Weltrevolution? Wie gesagt: Ein Dilemma.
Doch innerhalb dieses Dilemmas ist es doch hübsch und nett, wenn sich einige letzte „Humanisten“ zur bedingungslosen Aufnahme der Flüchtlingsströme bekennen. Die mit sich bringenden Probleme kommen nach Hause.
Kaffeetrinker am Permanenter Link
Find ich klasse, dass die Humanisten für ihre Aktion Kreuze aufstellen und Allerheiligen-Kerzen. 2000 Jahre Prägung hinterlassen halt doch Spuren.