Kommentar

Seenotrettung auf dem Prüfstand

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Im Streit darüber, was man gegen die Migration nach Europa über das Mittelmeer tun kann, steht nun die zivile Seenotrettung auf dem Prüfstand. Dabei besitzt die Rettung menschlichen Lebens höchste Priorität. Ein Kommentar.

In ihrem viel diskutierten Kommentar bei der ZEIT versucht Mariam Lau zu erklären, warum die private Seenotrettung eingestellt werden sollte. Das Ertrinken im Mittelmeer, so Lau, sei ein politisches Problem, das nicht durch gutgemeinte Rettungseinsätze gelöst werden könne. Vielmehr müssten auch die Nebenfolgen und der Zusammenhang des Ganzen betrachtet werden: Zum einen seien die Seenotretter Teil des Geschäftsmodells von Schleppern geworden, zum anderen führten Rettungen zu der fatalen Situation, dass immer mehr Menschen das Mittelmehr als Fluchtweg wählen. Lau sieht die Lebensrettung vom Grundsatz "Not kennt kein Gebot" getrieben, und bewertet diese Maxime als unterkomplex. Gleichzeitig kommen ihr keine Bedenken, den von ihr beschriebenen Zusammenhang felsenfest auf die Formel "Je mehr gerettet wird, desto mehr Boote kommen" herunterzubrechen.

Je mehr Retter, desto mehr Flüchtlinge?

Zwar ist es zutreffend, dass Schlepper Rettungsaktionen einkalkulieren. Doch ob die Formel "je mehr Retter, desto mehr Flüchtlinge" der Wahrheit entspricht, darf bezweifelt werden: Zwei Wissenschaftler der Universität Oxford haben diesen Zusammenhang untersucht und kommen zu einem anderen Ergebnis. Sie verglichen dabei mehrere Zeitperioden miteinander und stellten fest, dass verstärkte Rettungsaktionen keineswegs zu vermehrter Flucht über das Mittelmeer führten. Rettungsboote sind nämlich keine Magneten. Flüchtlinge versuchen auch dann nach Europa zu gelangen, wenn keine Hilfe bereitsteht. Der Unterschied liegt bloß darin, dass weniger sterben, wenn gerettet wird.

Es ist auch richtig und wichtig, dass die Folgen von Rettungsaktionen bedacht werden, wie es Lau fordert. Doch tun das die Kritiker der Seenotretter in gebührender Weise, im Bezug auf ihre Kritik? Den Helfern wirft man mittlerweile gerne "Hypermoralismus" und Maßlosigkeit vor. So empfinden es manche als ungeheuerlich, dass NGOs das Ertrinkenlassen von Geflüchteten als planmäßiges Abschreckunginstrument einstufen. Tatsächlich aber wurde auf Geheiß der EU ab 2014 die Operation "Mare Nostrum" der italienischen Marine und Küstenwache zurückgefahren, bei der zuvor rund 150.000 Menschen gerettet werden konnten.

Dass durch diese Maßnahme die Todeszahlen steigen würden, hatte die EU selbst vorhergesagt. Und so sollte es dann auch kommen: In der Folgezeit stieg die Anzahl der Toten im Mittelmeer drastisch. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nannte nach einem schweren Schiffsunglück das Ende von "Mare Nostrum" einen "Fehler, der Menschenleben gekostet hat". Ob es sich dabei nun um "billigend in Kauf nehmen", "bewusste Fahrlässigkeit" oder "Planung" handelt, ist schwer zu bestimmen. Denn die Grenzen sind durchaus fließend.

Eine Aneignung staatlicher Aufgaben?

Ein weiteres Problem besteht für Lau nun darin, dass sich Privatpersonen die Aufgaben des Staates aneignen würden. Zur Verdeutlichung führt sie ein Szenario an, mit dem sie die Seenotretter mit Bürgerwehren vergleicht: "Es gibt immer mehr Wohnungseinbrüche und Überfälle, die Polizei ist zu schlecht besetzt – warum nicht private Ordnungskräfte sich selbst einsetzen lassen?"

Ja, warum nicht? Die Antwort ist naheliegend: Bei der Bürgewehr eignet sich der Bürger das Gewaltmonopol des Staates an und mancher übt dabei auch unzulässige Selbstjustiz aus. Nichts von dem geschieht aber bei der privaten Seenotrettung. Es gibt kein staatliches Monopol bei der Rettung von Menschen, gleichwohl aber das Prinzip, dass derjenige retten soll, der die Fähigkeit dazu besitzt. Die Pflicht, in einer Notlage zu helfen, ist ein allgemeines Rechtsprinzip und betrifft "jedermann". Private Rettungsinitiativen übernehmen hier also nicht die Aufgabe des Staates, der er nicht nachkommen will. Der Ruf nach dem Arzt an der Unfallstelle "Ist ein Arzt anwesend?" ist schließlich auch kein Ruf nach dem staatlichen Hoheitsträger.

Die Rettung menschlichen Lebens hat höchste Priorität

Nach internationalem Seerecht und seemänischer Tradition ist jeder Schiffsführer verpflichtet, auf hoher See im Rahmen seiner Möglichkeiten Hilfe zu leisten. Die gleiche Verpflichtung trifft Staaten, die die Menschen dann an einen sicheren Ort bringen sollen. So hat das franszösische Verfassungsgericht erst kürzlich in einem Urteil anerkannt, dass es nicht illegal ist, Flüchtlingen aus mitmenschlicher Regung heraus zu helfen.

Die Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt ist dagegen weiterhin in Frankreich verboten. Denn hierin liegt eine Einmischung in die Rechte des Staates vor. Vielleicht ist es das, was Lau mit "Aufgabe des Staates" gemeint haben könnte, in welche die Seenotretter sich angeblich einmischen. Staaten haben das Recht zu kontrollieren, wer ihr Staatsgebiet betritt und auch zu bestimmen, wer bleiben darf. Das entbindet aber nicht von der Pflicht der Lebensrettung auf hoher See.

Die gesamte Asyl- und Flüchtlingspolitik und die öffentliche Debatte krankt daran, dass man es versäumt hat, zwischen dem individuellen Schutz vor Verfolgung und Krieg einerseits und einer gesteuerten Migrationspolitik für klassische Einwanderer andererseits zu unterscheiden. Mehr noch: Was jetzt getan wird, ist die Rettung von Menschenleben mit der Forderung nach Aufnahme zu vermengen.

"Hypermoralisch" wäre es, zu fordern, dass die Anreinerstaaten jeden Geretteten dauerhaft aufnehmen müssten – ungeachtet der individuellen und gesellschaftlichen Hintergründe und Konsequenzen. Wie soll man es aber nennen, wenn der Wert menschlichen Lebens im Furor der Vorwürfe plötzlich nur noch zu einem Lippenbekenntnis verkommt? In einem Kommentar bei der Süddeutschen Zeitung fand Wolfgang Luef die passenden Worte dafür:

"Menschen aber sehenden Auges ertrinken zu lassen, als abschreckendes Beispiel für andere, das ist keine Meinung. Es ist der erste Schritt in die Barbarei. Prozesse gegen diejenigen zu führen, die tausende Menschen vor dem Tod gerettet haben, ist der zweite Schritt dorthin. Den dritten möchte ich mir lieber nicht vorstellen."