PARIS. (hpd) Für ein halbes Jahr war fast ganz Frankreich Charlie. Die Anschläge auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt haben das Land erschüttert. Dass nun per Gesetz der Eintritt in den Überwachungsstaat vollzogen wird, zeigt die Hilflosigkeit einer politischen Klasse, die ihre Gesellschaft nicht mehr erreicht. Carsten Pilger, hpd-Gesellschaftskolumnist in Paris, sucht deshalb Charlie.
Hallo Charlie,
wir müssen reden. Was ist mit Dir passiert? Im Januar warst Du überall. Auf Graffitis an Häuserwänden, auf Plakaten, auf Zeitungen. Mehrere Millionen Charlies in Paris, mehrere Hunderttausende in anderen Städten. Ich habe meine Bleistifte herausgekramt, wir sind zusammen am 11. Januar auf die Straße gegangen. Ich war mit Dir wütend, ich war mit Dir traurig. Im Januar wollte jeder wie Du sein. Ich wollte sein wie Du.
Vielleicht war ich naiv. Vielleicht hätte ich gewarnt sein sollen. Plötzlich wollten auch Leute wie Du sein, die sonst eher wenig mit Dir gemein haben. Du bist frech, vulgär, respektlos. Frankreichs Politiker sind gewiss vieles, sind gewiss nicht alle gut und alle schlecht, aber eben halt nicht wie Du. Trotzdem hab ich auch sie sagen hören: „Je suis Charlie.“ Vielleicht waren die Le Pens und Dieudonnés, die Clowns der französischen Alt- und Neurechten, da ehrlicher. Sie wollten nie Charlie sein, auch nicht nach den Anschlägen. Sie machten keinen Hehl daraus, wie wenig sie das vergossene Blut der Satiriker schmerzte.
Was ist aber, wenn plötzlich auch die Charlie sein wollen, die sonst selbst Zielscheibe von Dir waren? Präsidenten, Minister, Abgeordnete, Firmenchefs, Stars, Sternchen? Wie ehrlich waren diese Bekenntnisse zur Freiheit des Wortes?
Charlie arbeitet nun beim französischen Geheimdienst. Mit dem Loi Renseignement, dem neuen französischen Geheimdienstgesetz, gibt die Nationalversammlung ihren Behörden die Freiheit, künftig die Telekommunikation seiner Bürger auch ohne richterlichen Beschluss zu überwachen. Auch die Metadaten von Internetverbindungen dürfen nun ausgewertet werden, um Terror möglichst früh abzuwenden. Verabschiedet hat das Frankreichs Parlament in der Woche, als publik wurde, dass die amerikanische NSA drei Staatspräsidenten abhören ließ. Die Darbietung präsidialer Empörung war eine schauspielerische Leistung mäßiger Qualität. Großcharlie will eben halt auch über Kleincharlie Bescheid wissen.
Charlie könnte auch auf die innere Zerrissenheit seines Landes schauen – gerade wo eine linke Regierungsmehrheit in Paris sitzt. Außerhalb der behüteten Mittel- und Oberschicht gab es wenig Charlies. Die dritte Einwanderergeneration ist in Frankreich aufgewachsen, besitzt die französische Staatsbürgerschaft, bekommt aber trotzdem im öffentlichen Diskurs vermittelt: Ihr seid keine richtigen Franzosen und Ihr werdet es auch nie. Statt sich dieser Problematik, die auch mit Frankreichs Arbeitslosenquote und Bildungssystem verknüpft ist, heißt es: Die Schule muss jetzt die republikanischen und laizistischen Werte vermitteln. Doch was, Charlie, sollen Kinder aus der Banlieue über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lernen, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe als Sicherheitsrisiko gelten, nicht die formale Bildung der bürgerlichen Elite erhalten und selbst von Seiten einer linken Regierung immer mehr soziale Einschnitte erleben?
Schade, Charlie, dass die Millionen Menschen im Januar nur für einen Moment sein wollten wie Du. Schade, Charlie, dass Du nur ein Heft bist. Schade, dass Du kein Norweger bist. Nach den Anschlägen von Oslo und Utøya 2011 sagte der damalige norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg:
„Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“
2 Kommentare
Kommentare
Stefan Dewald am Permanenter Link
Da lasse ich doch Henning Mankell zu Wort kommen mit einem Auszug aus dem Vorwort zu »Wallanders erster Fall«:
Erst nachdem ich den achten und letzten Teil der Serie über Kurt Wallander geschrieben hatte, wurde mir klar, welchen Untertitel ich die ganze Zeit gesucht, aber nicht gefunden hatte. Als alles, oder zumindest das meiste, geschrieben war, erkannte ich, dass der Untertitel »Romane über die europäische Unruhe« lauten müsste. Ich hätte diesen Untertitel früher finden müssen.
Denn die Romane hatten stets nur ein einziges Thema variiert: Was geschieht in den 90er Jahren mit dem europäischen Rechtsstaat? Wie kann die Demokratie überleben, wenn das Fundament des Rechtsstaats nicht mehr intakt ist? Hat die europäische Demokratie einen Preis, der eines Tages als zu hoch angesehen wird und nicht länger wert, dass man ihn bezahlt? Durch all die komplizierten Intrigen, durch das Gewimmel von Personen zog sich die ganze Zeit dieser Faden, diese für mich und offenbar für sehr viele Menschen so entscheidende Frage. Natürlich hat die Demokratie keinen Preis.
Wenn wir einen Preis festlegen, der nicht überstiegen werden darf, haben wir die Demontage der Demokratie eingeleitet. Sie kann nur weiterleben, wenn sie als unschätzbar betrachtet wird. Um ebendiese Fragen, um die Demokratie und den Rechtsstaat ging es auch in den allermeisten Briefen, die ich erhalten habe.
Zahlreiche Leser aus vielen verschiedenen Ländern haben mir kluge Gedanken dazu mitgeteilt. Und ich denke schon, darin bestätigt worden zu sein, dass Wallander auf seine Weise als Sprachrohr für das Gefühl wachsender Unsicherheit und Wut und die in der Regel vernünftigen Ansichten vieler Menschen über das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie gedient hat.
David am Permanenter Link
Grade heute wieder ein islamischer Terroranschlag in Frankreich. Wie wunderbar macht sich da Kritik an der französischen Hilflosigkeit.
Vielleicht wäre es endlich mal angebracht, Kritik auch in den Teil der Gesellschaft zu senden, aus der der Terror und all die Aggression seit Jahren kommt.